
Sturzrevue & Kurzreplik — November ’24
G E S E H E N :
„Polizeiakademie“ (Moritz Schulz, 2024): Out of competion.
„Raumteiler“ (Florian Schmitz, 2024): Out of competion.
„Vereinzelt Sonne“ (Lucas Dülligen, 2024): Out of competion.
„Grand Tour“ (Miguel Gomes, 2024): Miguel Gomes macht Filme, die sich häufig eher wie Literatur anfühlen. Hat man dies und jenes wirklich gesehen oder hat man es sich vorgestellt? Figuren, die nicht psychologisch agieren, sondern der Logik von Erzählerhaltungen folgen, steuern somnambul durch unwirkliche Welten und Zeiten. Die Hauptfigur von „Grand Tour“ flüchtet vor dem eigenen Schicksal, will gefunden werden, will es nicht, seine Verlobte folgt ihm bedingungslos. Möglicherweise ist das Miguel Gomes‘ bester Film und ich habe es noch nicht begriffen, weil der Film in seiner rätselhaften Poetik ein bisschen auch durch mich durch diffundiert ist, kontaktlos Fremdkörper geblieben ist.
„Caught By The Tides“ (Jia Zhangke, 2024): 2018 noch hat Jia Zhangke mit „Ash Is The Purest White“ einen seiner besten Filme abgeliefert. Ein Film, der auf so virtuose Weise alles, was dieser begabte Regisseur kann, in einem Werk vereint: Sozialdrama, Gangsterfilm, Melodram, Liebesfilm, Historienfilm fortlaufender chinesischer Geschichte. Seitdem? Stillstand. 2020 kam noch eine Nabelschau-Doku über ein Literaturfestival in seiner Heimatstadt und jetzt also „Caught By The Tides“, filmisches Seperatorenfleisch, ein loses Gefüge aus Material anderer Film, die nur irgendwie zusammengehören, weil Jia Zhangke eh immer Zhao Tao in der Hauptrolle besetzt hatte. Kann man mal so machen, aber es liegt hier eigentlich an den großen Filmfestivals zu sagen: Im Hauptwettbewerb? Nein, danke.
„Mond“ (Kurdwin Ayub, 2024): Kurdwin Ayub hat ein ähnliches Talent wie Sean Baker, nämlich darin, völlig absurd erscheinde Handlungsprämissen aufzustellen und sie dann mit genügend realistischer Ernsthaftigkeit und einer großen Menge Menschenkenntnis so zu inszenieren, dass diese dann tatsächlich denkbar werden, „real“ und damit auch beobachtbar werden. Und hier kommt das Geniale zum Tragen, was bereits an „Sonne“ großartig und hier, in „Mond“, vielleicht noch besser ist. Was passiert denn, wenn zwei existierende Kontexte mit ihren jeweiligen Systemlogiken, auf der einen Seite dem einer feministischen Kampfsportlerin und dem anderen einer ultrakonservativen reichen Scheichfamilie mit sinistren Geschäftsmodellen aufeinander treffen? Das untersucht Ayub hier mit dem inszenatorischen Gestus eines Dokudramas und dezenten erzählerischen Strategien eines Thrillers und Horrorfilms. Selten hat man so brillant das Unheimliche dargestellt bekommen, in einer völlig fremden Welt zu sein, deren Regeln man nicht kennt und versteht. Vielleicht auch nicht kennen oder verstehen soll. Auch wenn dem Film im Mittelteil dann ein paar dramatische Rhythmusfehler unterlaufen, ist „Mond“ getrieben von einer unorthodoxen Erzählspannung, gegen ein diffuses, kafkaeskes Patriarchenschloss anzukämpfen, aus der es soziologisch betrachtet keinen einfachen Ausweg geben KANN. Und während das Publikum durch den eingeübten Beobachtungsmodus des Thrillers auf die falsche Fährte eines Happy Ends oder Finale Furioso gelockt wird, betrachtet Ayub das Ganze grinsend von der Seite, als das, was es ist: eine soziologische Versuchsanordnung.
„Anora“ (Sean Baker, 2024): Die Palme d’Or kommt genau richtig, denn „Anora“ ist der beste Film Sean Bakers und ob er jemals einen besseren Film machen wird, steht nicht aufgrund fehlenden Talents Bakers in Frage, sondern einfach deswegen, weil „Anora“ nahezu perfekt ist. Dieser Film ist eine Komödie, theoretisch sogar eine Rom-Com. Ein Film, in seiner erzählerischen Setzung, völlig niederschwellig und für jedes Publikum der Welt verständlich. Und trotzdem kann diese Setzung soziologisch kaum komplexer gestaltet sein. Eine russischstämmige Prostituierte (entschuldigung, Escort-Dame!) in New York heiratet einen russischen Oligarchensohn in Vegas und dessen Familie will diese Heirat wieder rückgängig machen. In „Anora“ ist jede Figur und noch jede Szene, jede Situation doppelt und dreifach kodiert. Einerseits als das unmittelbare Want der Figur und sodann noch als seine Klassenposition. Wenn zum Beispiel Anora sich partout weigert die Hochzeit zurückzunehmen, geht es ihr natürlich nicht um Liebe, sondern um einen Klassenaufstieg der einem Lotteriegewinn gleicht (und das ist nicht einmal metaphorisch gemeint). Es ist ein Geniestreich von Baker diese junge Frau so darzustellen, dass sie nicht intellektuell und nicht einmal besonders zärtlich ist, weil sich in dieser Darbietung Klassenrealitäten einer abgehärteten New Yorker „Bitch“ widerspiegeln. Wenn Oligarchensohn Ivan sich weigert, sich von Anora zu trennen, dann geht es ihm auch nicht um Liebe, sondern er exekutiert im Grunde seine soziologische Position, in der sich tradierte Konventionen seiner Herkunft mit einem radikalen Hedonismus westlicher Art mischen und die Eltern zu einem gewissen Grad herausfordern können, aber letztlich doch abhängig von ihnen bleiben. Es ist ein Geniestreich von Baker diesen verzogenen Oligarchenbengel mit einem charmant-idiotischen Jüngling zu besetzen. Und dann gibt es noch die Figur Igor, von der man bereits in den ersten Sekunden eine Ergriffenheit gegenüber Anora spürt. Zunächst, weil Igor sie als eine seinergleichen begreift, schon dem Habitus nach einer Vertreterin der Arbeiterklasse (auch wenn bzw. gerade weil Anora Amerikanerin und Igor Russe ist). Sodann spürt man aber auch von Anfang an seine Liebe, die sich aus reinem Respekt für ihre Widerspenstigkeit heraus speist. Sean Baker muss die Liebe, die sich hier zwischen den Zeilen ergibt, gar nicht dramaturgisch vorbereiten, sie ergibt sich bereits aus der inszenatorischen Wahrhaftigkeit, die sich zwischen beiden bereits von Szene eins an entfaltet. Schon noch in solchen Szenen, in denen Baker noch die Farce einer Trennung zum vermeintlichen Love Interest Ivan erzählt. „Anora“ ist nichts Geringeres als die Dekonstruktion des RomCom-Genres, samt seiner gesamten Entstehungsgeschichte als kapitalistisches Propaganda-Genre. Und so entblättert Baker auch genüsslich gerade in der Exposition die traditionelle Kitschlogik von RomComs, die häufig von Klassendifferenzen erzählt, diese aber kitschig in einer illusorischen Liebesgeschichte aufheben lässt (man denke an „Fifty Shades Of Grey“) und eben nicht durch die Systemfrage des Klassenkampfes. „Anora“ ist nicht nur dieser radikalen Dekonstruktionsgeste nach ein sozialistischer Film, er ist es eben auch daher, weil er ein einfacher, zugänglicher, verdammt verfickt nochmal lustiger Unterhaltungsfilm ist. Und weil er eine sozialistische Ikone der Filmgeschichte setzt: Anora. Aufstieg ist nicht mehr möglich, nein, aber fuck Mann, wir haben immer noch uns selbst. Die Endszene, in der sich emotional endlich alles bahnbricht, was hier mitverhandelt wird, ist das ambivalente Weinen einer Arbeiterin, in der beides gleichzeitig stattfindet: Trauer über den Verlust des Lotteriegewinnes und Dankbarkeit, nicht mehr Spielball in einem ungleichen Spiel zu sein, zurück in der Realität zu sein, dort zu sein, wo man hingehört: zu Igor. Denn die Ketten, sie verlieren wir auch noch irgendwann, aber erst einmal werden wir unter Tränen Sex haben.
Siehe auch: Anora (Fullhot-Replik)
„Rita“ (Paz Vega, 2024): Der kindliche Blick, um Erwachsenenwelten zu erzählen, ist gerade sehr fashionable und somit auch schon kurz davor, ohne relevante Neuerfindungen, klischeehaft zu werden. „Rita“ ist der x-te Film, der die unzuverlässige Kinderperspektive nutzt und sich davon empathische Teilhabe und erzählerische Subtilität erhofft. Männlichkeit wird hier sehr klischeehaft und von einseitigem feministischen Pathos, samt eines völlig deplatzierten, hochtrabenden Finale transportiert.
„Universal Language“ (Matthew Rankin, 2024): Ein durch und durch absurdistischer Anschlag auf Sehgewohnheiten. Wie ein weirder Traum nach einem Film-Marathon mit zehn Wes-Anderson-Filmen und einem iranischen Provinzdrama kreiselt die Handlung von „Universal Language“ über weite Strecken in Logiken, die sich kaum allegorisch auf Sinnhaftes oder komisch auf Pointen rückbinden lassen, nur um hier und dort doch in diese Richtung Ausblicke zu ermöglichen. Eines ist jedoch klar: Das Setdesign aus Orten und Objekten ist zentrales Mittel der Erzählung und ein Kunstwerk für sich.
„I’m Still Here“ (Walter Salles, 2024): „I’m Still Here“ ist ein sehr ordentlicher, aber auch durch politische Sympathien seines Publikums arg überschätzter Film. Das aktivistische Porträt der Familie des unter der brasilianischen Militärdiktatur ermordeten Linken Rubens Paiva macht das Alltagsgeschehen, Wissensvorsprünge älterer und -rückstände jüngerer Familienmitglieder, das tapfere Bewältigen von Traumata und (Un)Gewissheiten zu einem Erzählmodus, allerdings nie in letzter Konsequenz, geschweige denn Radikalität. „I’m Still Here“ ist also zu wenig von seiner eigenen Prämisse, um wirklich das Meisterwerk zu sein, das viele in ihm sehen wollen.
„It’s Okay!“ (Kim Hye-young, 2023): Ein ideologisch fragwürdiger, erzählerisch inkompetener Film über Außenseitertum. In-Young ist eine Tänzerin und ihren Mitschülerinnen nicht nur in diesem Hobby, sondern auch allgemein in jeglicher Hinsicht überlegen. Das äußert sich vor allem darin, dass sie einfach nicht dick wird, egal, wie viel sie isst, was den Neid der anderen auf sich zieht. Darin liegt eine merkwürdige Ich-Bezogenheit, die der Film zelebriert und pädagogisch fragwürdig vorträgt, denn die Hauptfigur wird nie auch nur einen Hauch in Zweifel gezogen, wohigegen der Neid der Gegenspielerin kleinlich und klischeehaft psychologisiert wird. Am schlimmsten ist jedoch die mehr als fragwürdige Darstellung von sozialer Klasse, da sich der Film insofern Reim auf das Außenseitertum der Hauptfigur macht, weil diese ihren Mitschülerinnen gegenüber vermeintlich arm wäre. Allgemein fühlt sich Armut nach der Vorstellung dieses Films aber wie ein lustiges Spiel auf der Suche nach gerade-so-abgelaufenen Lebensmitteln an.
„How to Make Millions Before Grandma Dies“ (Pat Boonnitipat, 2024): Ein niedlicher Film. Ein gleichzeitig vollkommen überschätzter Film. Freche Omis, die es ihren jungen Sidekicks ordentlich mitgeben, funktionieren natürlich immer, irgendwie. Aber so richtig auf die Spitze wird dieses ungleiche Paar nie getrieben. Die Figuren schaffen es, gleichzeitig irgendwie überzeichnet als auch egal zu sein. Das Kontemplative und Geduldige des Films ist selbstzweckhaft und gelingt formell nie zur Meisterreife, worauf ein derart windstiller Film aber angewiesen wäre. Ein Film wie thailändisches Bio-Curry zum Anrühren aus der Tüte.
„The New Year That Never Came“ (Bogdan Mureșanu, 2024): Die „Katastrophe“ ist hier das Ende des Ceaușescu-Regimes, wodurch bereits die dramaturgische Konzeption als Katastrophenfilm, also als multiperspektivischen Panoramas, das kausal Hintergründe und Auswirkungen eines bestimmten Ereignisses nachzeichnen, ein Augenzwinkern hat, wie es für die Romanian New Wave so typisch ist. Nicht immer gelingt Timing und Verlinkung der sechs Kurzgeschichten rund um das Neujahr der rumänischen Revolution auf allerhöchstem Niveau, trotzdem ist auch das hier wieder ein beeindruckendes Werk nationalhistorischer Retrospektive, zumal als Debütfilm.
„Beautiful Beings“ (Guðmundur Arnar Guðmundsson, 2022): Dieser Film ist hart. Und ja, man sagt das oft über Coming-of-Age-Filme in argen Problemmilieus usw. aber dieser Film ist wirklich hart. Im Grunde ist seine Härte seine größte Attraktion, denn man kann in den unzähligen Versuchen von Regisseurinnen und Regisseuren die prägenden Erfahrungen mit Drogen, Sex und Gewalt ihrer Jugend zu rekapitulieren, etliche Male großes Scheitern beobachten, wo dann z.B. gut-behütet aufgewachsene Agenturschauspieler sich in Lebensrealitäten hineinzuarbeiten bemühen und dieses Bemühen dann am Ende als solches sichtbar, hörbar, spürbar wird. „Beautiful Beings“ Milieugetreue ist hingegen in Form einer Vielzahl fantastischer Jungdarsteller so dermaßen gut gecastet und auch punktgenau inszeniert, dass sie erst einmal DA ist, man sich mit ihr irgendwie beschäftigen muss. Die Härte ist überfordernd und verstörend. Der Film entlässt ohne Vorwarnung in eine Welt, in der es scheinbar nur die Regel der Gewalt und Erniedrigung zu geben scheint und in der es nicht einmal einfach ist, abzusehen, welche Figur hier überhaupt Haupt- und welche Nebenfigur ist. Aber das ist auch gar nicht wichtig, vielleicht sogar als Nicht-Entscheidung eine beabsichtigte ethische Haltung des Films, denn es geht hier nicht um Opfersein und Beschuldigung von toxischen Menschen, sondern irgendwie sind alle Opfer und Täter zugleich. Dieser Film ist die Rundschau einer Umwelt. Und weil (die Logik der) Gewalt einfach da ist, sie vom Film ernstgenommen wird, als Modus vorgetragen wird (auch von der sensationell mittendrin agierenden Kamera!), beginnen wir diese Welt abzusuchen. Nach Momenten, in denen sich doch etwas anderes als Gewalt zeigt. So fängt einer der Jungs an, relativ gönnerhaft mit einem besonders unbeliebten Jungen abzuhängen und ihn auf seine distanzierte Weise als sein Freund zu akzeptieren. Darauf aufbauend entfaltet sich organisch, frei von Plotpointballast, die Geschichte eines Freundeskreises und ihrer Komplexität. Hin wieder durchbricht doch etwas Sensibles, Zärtliches, Schwaches und Liebevolles kurz die Härte wie ein Unkraut durch eine Asphaltdecke. Trotzdem passiert das niemals ohne, dass die Figuren vergessen, wo sie herkommen. Und so bleiben diese Momente eben klein, selten und immer auch durch etliche Männlichkeitsfilter hindurch erst als solche erkennbar. Immer ist sie dann auch sofort wieder da: die Härte. Aber das ist eben Wahrhaftigkeit. Genauigkeit. Und eine inszenatorische Brillanz im Bereich der Regie von Jugend-Schauspielern, die ich so noch nie zuvor gesehen habe.
„Full Time“ (Eric Gravel, 2021): „Full Time“ hat im Grunde das Zeug ein idealer Vertreter eines neu-sozialistischen Kinos zu sein. Präzise installiert Gravel soziologische Markierungen, um das Leben der modernen Arbeiterin und ihrer multiplen Problemlage zu kartografieren. Die Wege zum Arbeitsplatz sind lang, private Nebenschauplätze unter dem Berufsdruck kaum zu bewältigen bzw. wenn dann nur durch Auslagerung auf andere Personen, für Liebesleben ist kaum Platz und alles steht unter ständigem Zeitdruck bei gleichzeitiger Erwartung von Performance. Dass Aufstieg kaum möglich ist, weil schon dss Aufrechterhalten des Status Quo die Hauptfigur Julie (Laure Calamy) genug beschäftigt, ist die zentrale Pointe. Und der Rhythmusschnitt mit hektischen Bildern zur Visualisierung von Arbeitsalltag der zentrale filmische Modus. Das funktioniert gut, leider erlaubt sich der Film zwei schwerwiegende Fehler, die für mich nicht in den modernen Klassenkampf passen. Einerseits akzeptiert Éric Gravel seine Hauptfigur dann eben doch nur als eine kleinbürgerliche, halbwegs distinguierte und urbane Person. Zwar ist der Abstieg der Mittelschicht auch eine relevante Thematik mit erheblichem Potenzial, aber für meine Begriffe ist gerade die Unterrepräsentation von habituell abgewerteter Unterschicht eine große Diskursbaustelle. Die zweite Schwäche betrifft das sehr schwache Ende, das dann doch die harte Selbstveräußerung für Julie zum Erfolg des Job-Wechsels bringt, anstatt durch einen klassischeren Weg des tragischen Endes in der Tradition früher sozialistischer Film die Systemfrage zu stellen.
De Humani Corporis Fabrica (Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor, 2022): Eine Reise in die Ellipsen der kulturellen Körperrepräsentation. Was nicht gezeigt wird, was in Filmen zwischen Unfall und Aufwachen im Spitalbett, wundersam ausgespart wird, ist die Arbeit des Chirurgen. Castaing-Taylor und Paravel zeigen Bilder, die kontextlos präsentiert, fast kryptische Landkarten bleiben, physio-geografische Strukturen, die das Menschsein zu einem wundersamen, ein bisschen unheimlichen Maschinenraum machen. Wie ganz wenige Filme wirkt „De Humani Corporis Fabrica“ damit vollkommend alienated, wie ein Blickwinkel eines buchstäblich Außerirdischen auf das merkwürdige Menschenswesen und seiner Körperfunktionen. Das Unwissen des gemeinen (irdischen) Publikums ist hier eine letzte Schutzfunktion vor Trauma und Ekel, bereitgestellt durch eine konsequente Nicht-Kommentierung durch die Filmemacher. Am Ende bleibt die Frage, ob das „De Humani Corporis Fabrica“ nicht mehr zu einer Kunst-Installation als zu einer Arbeit im klassischen Dokumentarfilm macht, aber das Selbstverständnis der Filmemacher ist ja ohnehin der eines „sensorisch-ethnographischen“ Blicks. Wo der Film aber dann doch zum Dokumentarfilm im Sinne eines informativen Transportmediums wird, ist bei seiner zweiten Ebene, die den Bildreigen hier und dort mit Sprachfetzen des Krankenhauspersonals gegenüberstellt. Hier wird das gesamte, kaputtgesparte Desaster des Gesundheitswesens spürbar und bekommt durch die entfremdeten Bilder des Körpers eine Atmosphäre, die (merkwürdigerweise, da vermutlich unbeabsichtigterweise) sogar an die frühen Arbeiten Gaspar Noés erinnern. Auf einmal wird damit der „außerirdische“ Blick produktiv. Denn es stellt sich schon die Frage, was wir eigentlich für eine Spezies sind, dass wir einerseits über diese faszinierende technologische Möglichkeit der Feinchirurgie, Röntgenanalyse usw. verfügen und gleichzeitig den menschlichen Fehler durch die Arbeitsbedingung praktisch heraufbeschwören. Selten, so könnte man meinen, ist man im Kino Gott so nahe gekommen wie hier.
„Luxembourg, Luxembourg“ (Antonio Lukich, 2022): „Luxembourg, Luxembourg“ hat die eine oder andere Länge — wohl auch, weil Regisseur Antonio Lukich seinen Markenkern als Komödien-Auteur irgendwie in Form von Situationskomik und skurillen Charakteren zu perpetuieren gewillt war — und kommt erst gegen Ende, wo es wirklich ins titelgebende Luxemburg geht, erst wirklich zu sich selbst. Die Geschichte zweier Zwillingsbrüder ist eine sehr persönliche, autobiografisch angehauchte Auseinandersetzung mit Identität und Selbstverständnis, gleichwohl aber auch allegorisch als eine Nationalgeschichte lesbar. Der abwesende Vater, der immer Projektionsfläche bleibt, kann hier auch als Vorstellungsraum für eine Nation im Werden verstanden werden.
„No Other Land“ (V.A., 2024): No Other Land“ ist ein durch und durch aktivistischer Film, der im Grunde eine recht freie Anordnung von Zeitdokumenten ist, die die schleichende Besiedlung des Westjordanlands journalisiert. Der Film atmet die Atmosphäre eines Social-Media-Kanals, der möglichst stark in das Zeitgeschehen eingreift, Bilder erzeugt, die z.B. Menschen in Uniformen zeigen, die nicht gefilmt werden wollen. Aber im Gegensatz zum ungewollten Abriss des eigenen Dorfs ist die Produktion ungewollter Bilder natürlich ein legitimes Mittel der Selbstverteidigung. Wie ein Wirklichkeitsmosaik sehen wir immer wieder Videospuren, die man so auch auf YouTube oder TikTok sehen könnte, die im Kontext dieses Films aber in jedem Fall ein Gesamtbild davon evozieren, wie Siedlungspolitik aussieht und sich auch konkret anfühlt. Sensationellerweise hat das FilmemacherInnen-Kollektiv sogar den Moment erwischt, in dem es zum folgenschweren Schuss kommt, an dessen Folgen ein Palästinenser später sterben und zu einem Symbol des Widerstands werden wird. Ein weiteres Bild, das sich einbrennt ist, als wir aus dem Schulalltag einer provisorischen Schule heraus israelische Soldaten am Horizont aufziehen sehen und dieselbe Schule am selben Tag noch eingerissen wird. Die Dreharbeiten des Films (bzw. das Materialkonvolut) endet dann tatsächlich genau im Oktober 2023, wodurch „No Other Land“ zur Vorgeschichte eines Völkermordes wird, der sich hier bereits vorzeichnet, durch die Bilder scheint und sich selbst den Euphemismus „Umsiedlung für einen Militärübungsplatz“ gibt.
„Toxic“ (Saulė Bliuvaitė, 2024): Es ist schon erstaunlich, wie deutlich der filmische Output Litauens gegenüber dem vergleichbarer nationaler Größen, insbesondere der baltischen Geschwisterstaaten ist. Allgemein war es mit zwei Wettbewerbsbeiträgen und einem Goldenen Leopard ein litauisches Filmjahr, auch wenn es dieser beeindruckende Hang zum jungen Autorenfilm schon zuvor gegeben hat. Aber das sei nur einleitend und am Rande erwähnt sein, denn „Toxic“ ist ein sensationelles, ästhetisch radikales Filmdebüt. In der Verquickung von dokudramatischen Sozialrealismus und kinematografischer Komposition erinnert der Film an Ulrich Seidls auf dem Peak seines Schaffens. Aber auch erzählerisch drängt sich ein solcher Vergleich auf, denn „Toxic“ ist aus der ungeschönten Logik seines dargestellten Milieus, sozialen Stellungen und Teenagerpsychologien heraus gedacht. Durch eine genaue Beobachtungsgabe ermöglicht Regisseurin Saulė Bliuvaitė einen empathischen Zugang zu den Figuren, denen sie sich selbst in den seltensten Momenten gönnen. Vor allem mit der Metapher des Bandwurms — den sich eine der jungen Mädchen selbst einpflanzt, um abzunehmen — zeigt „Toxic“ wie in toxischen Umfeldern selbstzerstörerische Tendenzen ganz von selbst aufkommen, nicht nur durch das Fremdeinwirken anderer, sondern auch von und durch sich selbst, als coping mechanism. Und sei es nur in Form einer „schlechten Idee“, wie wohl jede Jugend zahlreiche, eine Jugend in Kaunas, Litauen aber womöglich besonders schlechte parat hat.
„The Brutalist“ (Brady Corbet, 2024): „The Brutalist“ ist vielleicht der kühnste Film des Jahres und dass es allgemein einen so jungen, so kühnen Filmemacher wie Brady Corbet gibt, macht Hoffnung für die Zukunft von virtuosem Kino, das keine Scheu vor Größe hat. Wie sein Erstlingswerk „Vox Lux“ ist aber auch „The Brutalist“ ein Werk mit Schwächen, die das Zentrum dessen berühren, was in dem Film als Potenzial angelegt ist. „The Brutalist“ handelt von einer fiktiven Persönlichkeit in einer nicht-fiktiven Wirklichkeit. So ist „The Brutalist“ ein Film über das 20. Jahrhundert, erzählt in der schlichten, betonesken Ästhetik der Moderne, für die die der fiktive Bauhaus-Pionier László Tóth hier ein Vertreter ist. Aber um wirklich etwas Wesentliches über die Beschaffenheit der Epoche auszusagen, bleibt der Film da, wo es in einem solchen epischen Kino ankommt, in den Figurenentwicklungen und motivischen Verdichtungen, doch sehr dürftig. Corbet fährt eine beeindruckende Kulissenhaftigkeit aus Szenenbild, Kamera, Schnitt usw. auf, die wesentlich zu seinem „Nachbrenneffekt“ beiträgt, der sich erst post-Sichtung einstellt und trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack, weil sich der Film darauf einlässt, das große Jahrhundertbild auch psychologisch erklären zu wollen und das alles in einer sexuellen Pointe gipfelt, die unausgegoren, albern vorgetragen und somit so aufgesetzt wirkt wie ein nicht-regenfester Sticker, den man an die glatte Oberfläche einer Betonstruktur angebracht hat.
„No Dogs Allowed“ (Steve Bache, 2024): Out of competion.
„The Seed Of The Sacred Fig“ (Mohamad Rasoulof, 2024): Kulturkampf als Familienbruchlinie. Zwar setzt sich „The Seed Of The Sacred Fig“ mit dem iranischen Spezifikum der Amini-Proteste auseinander, aber wer weiß, wie weit weg auch westliche Gesellschaften von einer solchen Handlung entfernt sein mögen, in der sich also Weltanschauungen erbarmungslos im eigenen Familienhaus gegenüberstehen. Der „Feigenbaum“ ist ein wesentlich besserer Film als Rasoulofs letzter Film „There Is No Evil“, wenngleich er immer noch ähnliche Schwächen hat. Anfangs funktioniert die Familie als koordinatenartige Systembeschau noch ganz gut, dann gelingt es Rasoulof sogar, die Spannung mit einem Farhadi’schen Whodunnit auf der Suche nach einer entwendeten Pistole zu steigern, die mehr Machtmetapher als tatsächliche Waffe zu sein scheint, nur um diese in einem unglaubwürdigen Finish dann doch abzufeuern. Zuvor hatte die Mutter ihre beiden Töchter davor gewarnt, der Vater würde noch einen Schlaganfall bekommen, wenn die Pistole nicht wieder auftauchen würde, womit sie darauf anspielte, dass die in Polizeigewahrsam ermordete Amini angeblich an einem Schlaganfall verstarb. Aber statt das so stehen zu lassen, erklärt der Dialog dann noch diese Pointe für das Publikum und „The Seed Of The Sacred Fig“ ist leider wieder einmal voll solcher zielgruppenorientierten Dialogtutorials. Wie auch sein letzter Film ist auch dieser letztlich ein filmisches Pamphlet, ein Botschaftsfilm, die der westlichen Publikumserwartungen und Gegenrevolutionspathos mehr andient, als es dem filmischen Potenzial seiner Setzungen gut tut. Und sein größter Unwuchs ist, dass eine Handlung, die zunächst als sauber (wenngleich etwas kalkuliert) ausgearbeitetes Kammerspiel beginnt, schließlich in einer Geste großer Befreiungsempfindsamkeit eskalieren muss, weil der Film weniger Film und mehr skandierender Teil der Gegenrevolution sein will.
„Emilia Peréz“ (Jacques Audiard, 2024): Mir wäre es egal gewesen, dass ein über 70-jähriger weißer männlicher Franzose sich hier erdreistet einen Film über eine transgeschlechtliche mexikanischen Drogenbaronin zu machen, wenn es ein guter Film geworden wäre. Aber „Emilia Pérez“ ist erst einmal bei all seiner Opulenz ein künstlerisch und erzählerisch mäßiger Film und zweitens ist er eine Frechheit. Eine Frechheit deshalb, weil er ein reines ideologisches Vehikel ist, filmgewordene „feministische Außenpolitik“, ein neokoloniales Belehrungskonsumgut oder wie es Rüdiger Suchsland ausdrückt „die NGO-isierung der Filmkunst“ (auch wenn er damit den Europäischen Filmpreis als solchen meinte, den „Emilia Pérez“ in allen Kernkategorien abgeräumt hat). Der Kartell-Boss Maritas wird hier aus seinem tiefen inneren Wunsch heraus endlich zur Frau und somit über Nacht zu einer herzensguten, lustigen NGO-Gründerin, die sich für die Aufklärung von Kartell-Opfern einsetzt. Das ist natürlich hochgradig hanebüchen, wird aber vom Film selbst von seiner leicht burlesken Überhöhung mal abgesehen stets in ideologischem Bierernst so vorgetragen, dass man aus dem Film tatsächlich entnehmen muss, dass Frauen hier essenzialistisch als moralisch überlegene Wesen propagiert werden und die Frauwerdung als eine sakrale Geste der Neuen-Mensch-Werdung zelebriert wird, die an entsprechende idealistische Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts erinnern. Das wäre alles nicht so traurig, wenn der Film diese brunzdumme Heilsgeschichte nicht mitten in einer sozialen Realität verortet, der der Film nichts außer Klischees und blinder Flecken hinzufügen kann. Audiard hatte die Idee für den Film ausgehend von einer realexistierenden Drogendealerin, aber es macht eben einen Unterschied, ob die Geschichte eines einfachen Rades im System geschildert wird oder opernhaft vom obersten Druglord mit entsprechender Prämisse erzählt wird. Die Dimensionsverschiebung macht aus einem einfachen Leben im Falschen eine abstruse Saulus-zur-Paula-Werdung, die Fragen sozialer Werdung nicht zufriedenstellend auflösen lassen. Aber „Emilia Pérez“ adressiert diese Fragen erst gar nicht, klammert sie aus und macht sie zu einem einfachen Geschlechterdualismus von Gut/Böse. Es mag ja einen wahren Kern haben, dass das Patriarchat eine Rolle in der mexikanischen Drogenkriegsgesellschaft spielt, aber mindestens ebenso relevante Faktoren sind Armut, Klassendifferenzen und schwerwiegende institutionelle Dysfunktionalität (Korruption). Das verdeckt, ja verleugnet „Emilia Pérez“, wenn er allen Ernstes die Zusammenhänge von Gewalt und Verrohung auf das Geschlecht als die vermeintliche einzige Ursache reduziert und es damit schwerwiegend verkitscht. Diese Film ist eine unfreiwillige Bebilderung dafür, warum westliche Werte sich nicht einfach in dysfunktionale Gesellschaften hineintragen lassen, wenn man nicht bereit ist, sich mit den hiesigen sozialen Realitäten auseinanderzusetzen, geschweige deren ökonomischen Grundlagen auch verändern zu wollen. Emilia Pérez dreht sich nur um sich selbst. Nur um seine zwei Hauptfiguren und ihre bedingungslose Selbstverwirklichung (die von Selena Gomez gespielte Mafia-Ehefrau Jessy mag zwar beabsichtigterweise dumm und unsympathisch geschildert sein, ihre Bedürfnisse nach Sex, materieller Absicherung und der Erziehung ihrer eigenen Kinder sind doch aber genau genommen legitim!) Die Figur Emilia wird nie auch nur ein Moment lang problematisiert, weil der Film selbst seiner eigenen Weltanschauung glaubt, dass sie jetzt ein völlig anderer Mensch sein muss, weil sie ja endlich im richtigen Körper lebt. Dieser seltsame moralisch aufgeladene Essenzialismus durchzieht „Emilia Pérez“ in jeder Szene, in jeder Haltung zu einer jeden Nebenfigur, sodass ein Gefühl die mexikanische Gesellschaft aus der Perspektive einer naiven eurozentrischen Blase erzählt zu bekommen, als Dauerzustand mitschwingt. Ein grauenhafter, sehr sehr westlicher Film, der nicht einmal als Musical besonders gut funktioniert, da seine „Songs“ in der Regel lediglich mit Autotune-verpanschte Sprechgesänge sind, schlecht geschrieben und mit dem Informationswert einer Info-Broschüre. Dass der Film am Ende dann auch noch allen Ernstes die Chuzpe hat, die fiktive Figur Emilia Pérez in der mexikanischen Gesellschaft als neue IKONE zu feiern, ist wohl die Krönung der moralischen Überheblichkeit.
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