Sturzrevue & Kurzreplik — Juni ’23
G E S E H E N :
„Cairo Conspiracy“ (Tarik Saleh, 2022): Kulturkampf an einer ägyptischen geistlichen Schule zwischen einem gemäßigten Staatsklerus und der radikal-islamischen Muslimbruderschaft, die Saleh in einer guten Balance zwischen realhistorischem Anspruch und publikumswirksamer Inszenierung für Publika, die nicht mit dem Thema vertraut sind, vermittelt. Als „Systemanalyse“ ist „Cairo Conspiracy“ aber weniger ein Film über spezifisch religiöse, spezifisch islamische Institutionen, sondern, allgemeiner, ein Film über Bewegungen der Macht. Wie hier gemordet und konspiriert wird, kann man sich prinzipiell in jedem System vorstellen, dass es mit demokratischen Prinzipien nicht allzu ernst nimmt.
„Air“ (Ben Affleck, 2023): Das „Cui Bono?“ steht für mich hier ein bisschen über allem. Afflecks Film ist natürlich vergnüglich und ein bisschen ironisch, aber das sind amerikanische Filme über nah zurückliegende Geschichte gerne einmal. „Air“ ist natürlich unironisch-ironische Werbung für Nike, deren Aufstieg vom Außenseiter auf dem Sportartikelmarkt zum Big Player hier anhand des Deals mit Michael Jordan skizziert wird. Es hätte doch noch einen stärkeren filmischen Sarkasmus gebraucht, dass hier die Schablone des dramaturgischen Einmaleins amerikanischer Erfolgsgeschichten auf etwas so klar-definiertes Marktkapitalistisches wie exakte Gewinnmargen (von Nike und der Familie Jordan) angelegt wird, wodurch „Air“ dann sowohl die Nike-Werbung als auch dessen ironische Kehrseite (als Marktsatire) hätte bespielen können. So ist die Conclusio in meinen Augen lediglich: Just do it.
„The Night Of The 12th“ (Dominik Moll, 2022): Der Kriminalfilm als Dekonstruktionsgeste und feministischer Schrödingerkatze. Streckenweise sieht „The Night Of The 12th“ so aus, als hätte es den dramaturgischen Erfahrungsschatz etlicher TV-Kriminalfilme, auf den Moll aufbauen konnte, nie gegeben. Irgendwie geht er dramaturgisch konventionell vor, lässt nach und nach Verdächtige verhören und private Mikrokonflikte der Ermittler auf die Handlung träufeln, dann wieder interessiert er sich für Randständiges wie einen kaputten Drucker. Die eigentliche Doppel-Pointe ist aber — SPOILER — dass der Mord hier nie geklärt wird, obwohl wir ihn als Zuschauer am Anfang sogar sehen können. Ein regelrechter Kommentar auf das Genre des Kriminalfilms, in dem nahezu jeder Fall gelöst wird, was, wie wir bereits im Vorspann lernen, ein Klischee ist, das nichts unbedingt mit der Realität zu tun hat. So narrt uns Moll das eine oder andere Mal und nährt unsere Hoffnung, aber bleibt am Ende doch in trostloser Gnadenlosigkeit. Und natürlich steckt hierin auch das feministische Moment des Films, denn: Der Femizid könnte hier von jedem begangen sein!
„Of An Age“ (Goran Stolevski, 2022): Hat mich nicht abgeholt. Wie viele Filme macht „Of An Age“ den Kardinalsfehler, dass die Figuren nicht aus sich heraus sympathisch oder interessant wären, sondern stark über identitäre Etikettierungen (queer, gebildet, migra) vom Regisseur selbst sympathisch oder interessant gefunden werden. Und dafür, dass die Figuren nicht funktionieren, wird in „Of An Age“ way too much geredet und way too less irgendwas anderes gemacht.
„Violet Perfume“ (Maryse Sistach, 2001): Ein mexikanischer Film über eine Schulfreundschaft zweier Mädchen aus unterschiedlichen Klassen, wobei die Klassendifferenz hier zwischen unterer Mittelschicht und Unterschicht recht klein ausfällt. Aber gerade diese scheinbar geringe Verschiedenheit buchstabiert der Film effektiv aus. Die unterschichtige Protagonistin Yessica muss sich mit etlichen Geschwistern, einem manipulativen Stiefbruder, Gewalt und ständiger Vergewaltigungsbedrohung herumschlagen, währenddessen Miriam ein relativ normales Leben in einer kleinen Wohnung und einer alleinerziehenden Mutter hat. Das titelgebende Parfüm ist hier ein wichtiger Klassenmarker, denn Yessicas Herkunft wird bereits durch ihren Geruch manifest, für den sie in der Schule geärgert wird und den sie in Miriams Parfüm zu überdecken in der Lage ist. Durch feine, profane Details wie dieses systematisiert Sistach ihre Sozialkritik. „Violet Perfume“ ist überdies ein wirklich famoser Film, der in einer chaotischen, überschwänglichen Bild- und Tonästhetik vorliegt, die gleichermaßen mexikanisch und early 2000s ist, aber nichts mit dem glatten Arthousegewandt zu tun hat, in der sich lateinamerikanische Sozialdramen heute gerne geben. Manchmal meint man, diesen Film förmlich riechen zu können.
„Pale Flower“ (Masahiro Shinoda, 1964): Kernwerk der japanischen neuen Welle und Abgesang auf den noch damals braven, konservativ moralisierten Yakuza-Film. Mit seinem Regie-Kollegen Yoshishige Yoshida teilt Shinoda aber mir gegenüber das Schicksal, dass sein Film nie wirklich nachhaltig zu vibrieren scheint, sondern das Absuchen kalter, wunderschöner Tableaus nach etwas Tieferem bleibt, das entweder nicht da ist oder — womöglich wahrscheinlicher — für meinen Wissenshorizont noch nicht restlos zu erschließen ist.
„Niemand ist bei den Kälbern“ (Sabrina Sarabi, 2021): Schwieriger Film, den ich gerne weitaus mehr mögen würde, als ich es tue. Bis auf eine extrem aufregende Hauptdarstellerin (Saskia Rosendahl), ist da nämlich fast nichts, was nicht der Romanvorlage zu verdanken wäre. Holprig stolpert die Erzählung in eine Welt, in der ich orientierungslos herumtaumle, irgendwie einmal kurz schon an einer Hamburger Tankstelle gewesen bin und dann auf einmal wieder zurück in MeckPomm auftauche und mich frage, wer der Typ am Anfang eigentlich war. Ihr Stiefbruder? Ihr Arbeitskollege? Ah, nee, es ist ihr Boyfriend. Okay. Ein Boyfriend im übrigen, der so blass bleibt wie die meisten anderen Figuren. Die Orientierungslosigkeit hätte ein Modus werden können — eine filmische Ausdrucksweise — aber dazu ist Sarabis Film im Allgemeinen auch zu uninspiriert und filmschulhaft eingefangen. Sodass am Ende doch der Eindruck überwiegt, dass das porträtierte Milieu nicht ausreichend durchdrungen wurde.
„The Five Devils“ (Léa Mysius, 2022): Entweder ich habe etwas Substantielles übersehen oder nicht verstanden oder dieser Film ist summa summarum eine große Mogelpackung. Erzählt wird uns ein Familiendrama einer Frau, die eigentlich lieber mit der psychotischen Schwester ihres Ehemanns zusammengekommen wäre und es ist ihre Tochter, die (warum auch immer) die Fähigkeit hat, in die Vergangenheit zurückzureisen und auf diese Weise die Hintergrundgeschichte ihrer Familie einordnen zu können (und damit auch der Zuschauer). Schöne Landschaftsaufnahmen in analog können dabei zu keinem Zeitpunkt übertünchen, dass die gesamte Liebesgeschichte eine ärgerliche Behauptung ist. Heutzutage scheint es auszureichen, dass die Figuren queer sind, damit man die Legitimität ihrer Liebe akzeptieren soll. Dass beide Frauenfiguren schwer egoistisch und mitunter psychopathisch sind, scheint dabei nicht ins Gewicht fallen zu wollen. Auch die Tochterfigur kann sich nur als „Seherin“ oder „Zeitreisende“ relegitimieren und hat über ihre Genrefunktion hinaus keinerlei empathische Anknüpfungspunkte. Trotz der Schwere der Handlung bleibt „The Five Devils“ darüber hinaus über weite Strecken wahnsinnig langatmig und trocken. Lustig aber, dass Léa Mysius denselben Musikgeschmack wie ich zu haben scheint.
„20,000 Species Of Bees“ (Estibalíz Urresola, 2023): Auf den ersten Blick wird sehr viel über Blumen und Insekten gesprochen und auf den zweiten Blick ist jedes Bild, jede Dialogzeile und jede Blickregung auf eine rhetorische Struktur hin gebürstet, die es noch weniger verständlich macht, warum der Film rund 30 Minuten zu lang ist. Estibalíz Urresola ist sich wohl selbst sicherer über die Geschlechtsidentität des Kindes als das Kind selbst (nämlich sehr sicher), was die vermeintliche Oberfläche treibender, beobachtender, bei sich selbst seiender Erzählung in jedem Moment als rein absichtsgetriebenes Illustrationskino entzaubert.
„Music“ (Angela Schanelec, 2023): Vielleicht sollte ich aufhören, jedes Mal pflichtbewusst den neuen Schanelec zu sehen. Denn, wenn sich die gesehenen Fragmente — wie mal wieder in diesem Fall — mal wieder nicht in meinem Kopf narrativ, motivisch oder narratomotivologistizistisch oder wie auch immer zu etwas Konsistentem zusammenfügen lassen, dann wäre es wenigstens schön, hätten die Singularitäten des Filmes eine für sich stehend faszinierende Oberfläche (wie z.B. bei Weerasethakul). Aber dem ist gar nicht so. Das einzelne Bild, der vereinzelte Moment, hat immer eine nutzlose Affiziertheit, die mir nicht bekommt. Schade.
„Return To Seoul“ (Davy Chou, 2022): Insbesondere mit großem audiovisuellen Einfallsreichtum begibt sich Davy Chou auf eine emotional komplexe Rückkehrgeschichte einer Französin mit koreanischer Adoptivvergangenheit, die auf ihre leiblichen Eltern in Seoul trifft. Dass die Klassenfrage hier vollständig von kulturellen Unterschieden verdeckt wird, ist schade, aber noch das kleinste Problem des Films, denn „Return To Seoul“ leidet ganz elementar unter seiner Hauptfigur Frédérique: In den ersten zehn Minuten nimmt man die außerordentlich selbstbewusste junge Frau noch als spannend war, wenn sie die „Balls“ hat, eine gesamte Sojubar voller schüchterner Koreaner zusammenzubringen und sich sogleich einen jungen Mann dort aufzureißen. Aber spätestens als sie auf ihren eigenen Vater trifft, fragt man sich nur noch was falsch mit dieser Dame ist. In fast jeder Dialogzeile entblättert sich eine Persönlichkeit, die pathologisch narzisstisch sein muss, um derart respektlos gegenüber allem und jedem aufzutreten. Wenn Davy Chou damit den eurozentrisch-liberalen Lifestyle mit seinen blinden Flecken gegenüber fremdkulturellen Eigenheiten aufzeigen wollte, dann ist ihm das nur in Form einer Farce, nicht aber als eine emotional nachempfindbare Geschichte über Herkunft gelungen, die der Film — wie mir scheint — am Ende doch eigentlich sein wollte.
„Bundesliga“ (Tatsunari Ota, 2017): Eine alte, verlassene Schule. Darin trainiert der 28-jährige Kanegon von seinem Traum in der deutschen Tischtennisbundesliga spielen zu können. Ein paar Freunde von früher kommen vorbei, spielen Vergangenes nach und Zukünftiges vor. Ota, der mit „There Is A Stone“ einen der besten Filme des Jahres vorgelegt hat, zeigt in seinem ebenso experimentellen Spielfilmdebüt bereits die Lust an der ultrahaptischen, einen bestimmten Ort durchdringenden Modus, den er in seinem zweiten Film perfektionieren sollte, gleichzeitig mangelt es „Bundesliga“ noch daran, eine präzisere Projektionsfläche für die Innenleben der eigenen Figuren zu sein.
„David“ (Peter Lilienthal, 1979): Verspätet zum Tod Peter Lilienthals gesehen. 19179 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, besetzt die Holocaust-Romanadaption „David“ eine wichtige Perspektivlücke auf das größten Menschheitsverbrechen: Es sind Darstellungen eines jüdischen Alltags in den 30er Jahren, also der Zeit der bereits erfolgten Machtergreifung Hitlers, in denen die Unsicherheit des jüdischen Lebens in zweifacher Wortbedeutung spürbar wird: Das faktische Unsichersein, das sich erst retrospektiv in vollem Wissen über den Massenmord so einfach auf das Geschaute oktroyieren lässt, aber vor allem das Nachspüren der unmittelbaren Verunsicherung der damaligen jüdischen Bevölkerung, die über dieses Geschichtswissen eben nicht verfügte. „David“ zeigt sehr viele Momente in einer gewissen Alltagsprofanität, versucht die mehrdeutige, noch unklare Bedrohungslage des jüdischen Lebens mit aufgenähtem Judenstern atmosphärisch nachzuzeichnen. Die gewählten Momente hierfür sind effektiv (allerdings auch zu großen Teilen der Verdienst des Romans), die schauspielerische Inszenierung jedoch überwiegend holprig, teils theatral, was „David“ letztendlich weit davon entfernt, als Meisterwerk gelten zu dürfen.
Out of competition: „Jiyan“ (Süheyla Schwenk, 2019)
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