Sturzrevue & Kurzreplik — August ’24
G E S E H E N :
„Kinds Of Kindness“ (Yorgos Lanthimos, 2024): Manchmal ist man dankbar, nichts Gehaltvolles zu einem filmischen Werk sagen zu müssen. Meistens weil man zu wenig Filme der Regie-Person für eine werk-horizontale Einordnung zu haben oder weil der Film, nunja, einfach nicht verstanden wurde. Bei „Kinds Of Kindness“ ist eher zweiteres der Fall und genau in dieser Nicht-Kritiker-Position kann man den neuen Lanthimos durchaus genießen. Er ist verspielt, verpeilt und — so weit wage ich mich aus dem Fenster zu lehnen — in seinen Dekonstruktionsgesten menschlichem Miteinander durchaus typisch für den frühen bis mittleren Lanthimos („The Lobster“, „Killing Of A Sacred Deer“). Ironischerweise ist „Kinds Of Kindness“ dann am besten, am intelligentesten und lustigsten, wenn doch kurz das Licht der Rückbindung auf eine verständliche (Welt)logik ergibt, wenn auf einmal kurz die Hoffnung auf eine überzeichnete truman-show-artige Paranoia aufblitzt, weil Emma Stone nicht ganz in ihre Schuhe passen scheint und auch „ihre Füße etwas weicher sind als vorher“. Die meiste Zeit wird aber in einem (meinetwegen psychoanalytischen) Dunkel getappt. Aber: Es ist doch andererseits auch schön, dass Lanthimos hier einen hochbudgetierten Experimentalfilm machen konnte, der ein bisschen sehr für sich ist, die Markenbildung Lanthimos nicht im Sinne einer Stilschleifung (wie bei „Poor Things“) vorantreibt, sondern sich eigene Manierismen und Attitüden behält. Und womöglich wird man eines Tages auf „Kinds Of Kindness“ zurückschauen und sagen, dass ausgerechnet hier, wo viele, einschließlich mir, ein bisschen „lost“ waren, der Herr Lanthimos mit seinem Kino auf dessen Peak war.
„Führer und Verführer“ (Joachim A. Lang, 2024): An einer Stelle führt Joseph Goebbels seine Theorien zur Propaganda aus, eine Absicht müsse kaschiert sein, sodass sie einen erfüllt, ohne dass man sie bemerkt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade dieser Film auch an einer allzuoffensichtlichen Absicht krankt, die der Film eben alles andere als kaschieren kann. Eigentlich sind es sogar zwei. Die eine ist eine ehrenwerte, da mutige. Die Psychologisierung des großen Nazi-Propagandisten Josheph Goebbels, ein bisschen auch von Adolf Hitler. Auch das ist so neu nicht, folgt einer gewissen Tradition, aber Psychologisierung von Nazis (und anderen Ungeistern) finde ich immer interessant, da sie so tiefe Einblicke in das menschliche Wesen ermöglichen, wie kaum andere Filme (und Bücher). Leider verrät sich diese Absicht nicht nur durch die vorangestellten Texttafeln, die ein wenig Angst zu haben scheinen, man könne als Publikum denken, man würde sich an der positiven Verklärung Goebbels beteiligen wollen, weil der Herr Goebbels hin und wieder auch kluge Sachen über den Krieg sagt oder schlechte Sachen über seine nazistischen Mitstreiter. Nein, das eigentlich Problem dieses Absichtsantriebs ist, dass er sich inszenatorisch nicht auszeichnen kann, nie immersiv wird, sondern sich das plattgedrehte ABC der immergleichen Gesten, Kostüme, Ausstattungen und Kamerafahrten mal wieder als dasselbe Nazi-Theater erweist, für das jedes Jahr der eine oder andere Film in Deutschland produziert wird. „Führer und Verführer“ ist eine unfreiwillige Antithese zum ungleich sehr viel stärkeren (aber auch nicht perfekten) „The Zone Of Interest“ von Jonathan Glazer, der sich nämlich anschickte, durch ein spezifisches Formexperiment dieser produktiven Immersion anzunähern und das Psychologische nicht anhand historischer Zitate nachbaut, sondern realismuskonform aus der Situation heraus entwickelt. Joachim A. Lang hingegen bildet sich ein, er könne durch ein Drehbuch, das er um reale Zitate herum geschrieben und inszeniert haben, ein Sprechen inszenieren, dass das tatsächliche Sprechen der historischen Persönlichkeiten nachstellt, nichts Geringeres lässt sich aus den Texttfafeln am Anfang als seinen Anspruch herauslesen. Dabei ist das alles wirklich bieder inszeniert, nicht katastrophal schlecht, aber auch bar jeglicher Brillanz. Figuren tänzeln dann doch meistens ein bisschen um das Nachstellen bestimmter Sprachattitüden herum, wie z.B. das extreme Aussprechen Goebbels‘ der Verbendungen. Viel zu wenig wird Raum für das Feingefühl der Situation gelassen, alles wirkt fernsehartig gestaged, wenn über Panzer gesprochen wird, muss man sie beim Blick aus dem Fenster auch gleich über die Straße rollen sehen usw. Wenn der Fil,m dann noch Archivmaterial gegenschneidet, blamieren sich die Bilder des Films förmlich vor der schwarz-weißen Wirklichkeit. Joachim A. Lang mag zwar nicht dafür schuldig sein, ein weniger begabter Regisseur als Jonathan Glazer zu sein, aber er hat die Verantwortung, seine inszenatorische Form so zu wählen, dass er seinem selbsterklärten Anliegen, psychologisch hinter die Kulissen des Propagandameisters zu blicken, gerecht wird, anstatt die nächste Nazi-Klamotte auf Fernsehniveau zu drehen. Und dann gibt es noch eine zweite Absicht, die der Film „Führer und Verführer“ hat, bei der sich weniger die Frage nach derem Gelingen stellt, sondern nach der Absicht selbst. Immer wieder werden kontextlos Talking-Heads von Margot Friedländer und anderen Holocaustüberlebenden in die Narration hineingeschnitten, die ein wenig von ihren Lagererfahrungen sprechen und ein „Nie wieder!“ einfordern gelassen werden. Hier wirkt es fast so, als würde der Film seiner eigenen Konzeption misstrauen, so als hätte man Angst, die Perspektive der Täter in Zeiten, in der Antisemitismus in der Gesellschaft wieder aufflammt, zu zeigen. Diese Einspieler sind weitestgehend substanzlos und wirken wie in den Film von Außen hineingestoßen, so als hätte es bereits einen Picture Lock gegeben und ein opportunistischer Produzent wäre noch auf diese Idee gekommen, um den Film politisch korrekter zu machen. Dieser zweiten Absicht kann man natürlich weltanschaulich nichts vorwerfen, aber der Völkermord an den Juden und insbesondere die Lager-Erfahrungen haben eben nichts und gar nichts mit dem erzählerischen Zentrum des Films zu tun, psychologisches Porträt Joseph Goebbels sein zu wollen. Es ist einfach eine inhaltliche Verwässerung, aus reiner produktioneller Angst vor dem Falschverstandenwerden. Vielleicht entbehrt es am Ende auch nicht ganz einer Ironie, dass wir in dem Film lernen, dass die moderne Trigger-Warnung womöglich eine Erfindung der Nazis war (als Einblendung vor dem „Ewigen Juden“ werden die „Volksdeutschen“ vor den traumatisierenden Darstellungen von Tierschändungen gewarnt, eigentlich etwas wovor eine woke Trigger-Warnung heutzutage auch durchaus warnen würde), denn gerade an diesen Einordnungen durch Texttafeln geht „Führer und Verführer“ zugrunde, weil es sich damit eine Absicht auferlegt, die er dann überdeutlich verfehlt und eine andere Absicht, die der Film gar nicht haben dürfte.
„Critical Zone“ (Ali Ahmadzadeh, 2023): Ich habe dieser Tage mit einer iranischen Tänzerin über die Kunstszene in ihrem Land gesprochen und Inhalt des Gesprächs war zweierlei: Einerseits würde die hinter verschlossenen Türen stattfindende, „private“ Kunstszene die Kunst kreativer machen, weil sie sich an den Grenzen der Zensur reibt. Und andererseits fehlt es aber an professionalisierter Ausbildung und alles würde ein bisschen in einem System von freundschaftlicher Zusammenarbeit halb gedeihen und halb verwelken. An dem Locarno-Gewinner des letzten Jahres „Critical Zone“ kann man ganz gut aufzeigen, was iranisches Kino ausmacht, aber auch auf welche Weise es zunehmend auch ein Problem für sich selbst wird. „Critical Zone“ wurde vollkommen guerilla mit versteckten Kameras und überwiegend in Autos gedreht, allein deswegen ist bereits ein Verweis auf die lange Tradition iranischer Filme, die das Kino als mobilen, anonymen Raum ausgelotet haben. „Critical Zone“ handelt nun von einem Drogentaxifahrer in Teheran und der Film macht auch nie einen Hehl daraus, dass er hier besonders freizügig und provokativ in das iranische Leben hinter den Vorhängen und Verschleierungen blicken will. Allerdings ist dieser Film niemals mehr als die Summe seiner zahlreichen herumeifernden Provokationsgesten. Er ist a) ein handwerklich schlecht gemachter Film und das betrifft weniger die Kamera, die zumindest konzeptuell ideenreich gestaltet ist, sondern insbesondere das Schauspiel der Beteiligten. Und b) führt er eine lange und mittlerweile problematisch gewordene Symbiose fort, dernach iranische Filmemacher einen besonders freizügigen und politisch provokativen Film aus dem Land schmuggeln und er dort dann auf westlichen Festivals mit Preisen überhäuft wird. Das führt am Ende des Tages zu einer Eskalationsspirale der reinen Absichtsgesten. „Critical Zone“ ist eben kein Film wie „Manuscripts Don’t Burn“, bei dem es beeindruckt, dass er unter heimlichen Drehbedingungen so gut gestaltet werden konnte. Er ist auch kein „Taxi“ oder „No Bears“, der das medienreflexive (Versteck)spiel mit den staatlichen Sittenwächtern tatsächlich in Kreativität der filmischen Formen treibt. Und auch wenn man schon bei Panahi und Rasoulof dieselben Debatten anstoßen muss, ob die westliche Begeisterung gegenüber den Film immer noch in ausreichendem Maße auf die tatsächliche Qualität der Arbeiten und nicht zu sehr auf reine politische Solidarität abzielt, so stellt sich diese Frage bei „Critical Zone“ mit noch größerer Dringlichkeit. „Critical Zone“ ist eine reine Ansammlung schlecht gespielter, banaler Situationen, die hier und da durch ein Sounddesign aus der Hölle surreal überhöht wurden, um ihnen einen vermeintlichen symbolischen Doppelboden zu geben. Es ist ein unreifer und idiotischer Film und seien wir ehrlich, einen Film von Berliner KunststudentInnen mit derselben Handlung hätte Locarno nicht einmal in eine Nebensektion eingeladen. Wer die Bella-Ciao-Sequenz aus „There Is No Evil“ schon infantil fand (wie ich), wird mit der Fuck-you-Sequenz aus „Critical Zone“ um eine scheinbar nie endende Steigerungsmöglichkeit geistloser Systemkritik belehrt. Aber es reicht. Es geht hier ausschließlich nur noch um den politischen Exportwert eines Filmes als Schmuggelgut und Mutprobendokument. Es wäre das Beste für das Kino und insbesondere für das Iranische, wenn es wieder um tatsächliche Kreativität geht und nicht bereits um die Belohnung des kreischenden Möchtegerntums.
„Do Not Expect Too Much From The End Of The World“ (Radu Jude, 2023): Scheinbar auf das bekannte Zitat, man könne sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen, spielt Jude in diesem durch und durch antikapitalistischen Film an, der wieder einmal als eigensinniges Genre-, und Bildkonventionen sprengendes Konvolut beschrieben werden können. Die Arbeiter sind am Ende wieder die Gearschten im Spielball internationaler Konzerner und ihrer Marketingabteilungen. Aber gegenüber dieser kapitalismuskritischen Pointe lässt sich „Do Not Expect Too Much From The End Of The World“ auch als ein geradewegs neu-sozialistischer Film lesen. Wir haben mit der Hauptfigur Angelica tatsächlich ein ganz neuartiges Subjekt der Arbeiterklasse: Als Set-Drivererin und PA ist sie zwar auf den ersten Blick Teil einer gebildeten akademisch-urbanen Schicht, aber wenn man sich ihre Arbeitsbedingungen anschaut, ebenso klarerweise Teil eines modernen Bildungsprekariats, in dem 20-Stunden-Arbeitstage normal sind und Aufstiegschancen reell eigentlich nur mit diffusen Beziehungen und sozialen Absicherungen zusammenhängen. Angelica spricht rau, politisch inkorrekt und in ihrem scheinbar einzigen Hobby, parodiert sie Andrew Tate auf TikTok. Sie ist keine moralisierende Instanz, im Grunde ist sie auch Teil des Radewerks Kapitalismus, aber ihr aufopferungsvoller Kampf für das tägliche Brot, ihre Hilfsbereitschaft in kleinen Gesten und ja, eben auch ihre durch und durch proletarische Spielweise von Feminismus macht sie doch zu einer Art sozialistischen Ikone. Wenn Radu Jude uns mehrere Minuten lang mit lauter Radiomusik im Auto beschallt, ist das nur konsequent, weil er den Arbeitsalltag Angelas wiedergibt — als Dröhnen gegen die Ermüdung, aber auch als würdevoller Ausdruck einer von Lebensrealitäten eintätowierten Identität.
„I Saw The TV Glow“ (Jane Schoenbrun, 2024): Anfangs erscheint Jane Schoenbruns queerer Retro-Mistery-Horrorfilm noch durchschaubar und klischeehaft in seinen Figurenexpositionen. Die Beobachtung, wie man eine trashige Serie der Kindheit und Jugend mit den naiven Augen seiner Zeit zu wahlweise etwas viel Unheimlicheren oder viel Progressiveren verprojizieren kann, fängt „I Saw The TV Glow“ toll auf und vollzieht damit dann sogar eine erzählerische Seitwärtsrolle, an dessen Ende tatsächlich die Opazität steht, auf die der Film ja mit Verweis auf seine fiktive Serie „The Pink Opaque“ auch abhebt. Am Ende bleiben tatsächlich interpretative Freiräume, welche Identität(en) dann wirklich in den Figuren „begraben“ liegen.
„Election“ (Alexander Payne, 1999): Die Schule als Demokratiemodell ist ein Gedankenexperiment, das sich auch heute wieder aufdrängt, wo Regeln der Demokratie neu geschrieben werden, bzw. Regelbrüche des bisherigen demokratischen Miteinanders soziologisch rauf- und runteranalysiert werden. „Election“ von Alexander Payne ist nicht nur eine fantastische, frivole Komödie, die auf sensationell erfrischende Erzähl- und Medientechniken und ein unnachahmliches Erzähltiming zurückgreifen kann, sondern auch ein Film, der in seinem politischen Analysegehalt aktueller denn je ist. Ironischerweise findet ein „Trump“-Kandidat hier nur als Nebenfigur statt, die kurzerhand von der Schule verboten wird und danach keine Rolle mehr spielt. Stattdessen konzentriert sich „Election“ im Grunde vollumfänglich um eine Hilary-Clinton-Figur, gespielt von Reese Witherspoon, eine Eiferin, die politisch nach den etablierten Regeln spielt, sie aber so strategisch und empathielos durchläuft, dass sie für die Hauptfigur, den Lehrer Jim McAllister, zu einer größeren Gefahr für die Demokratie wird als sogar noch der Wahlbetrug. Dass Jim McAllister eben keine Savior-Figur ist, sondern selbst ein moralisch fragwürdiges Arschloch, ist eine entscheidende Volte von Alexander Paynes Film über die Demokratie, die von allen möglichen Seiten problematisiert wird.
„The Ghost Writer“ (Roman Polański, 2010): Man würde sich auch für den deutschen Film mal die Courage wünschen, transatlantische Verstrickungen so explizit aufzuschlüsseln und zu kritisieren. Polanskis Anti-Blair-Thriller erinnert in seiner doppelten Figur aus Genrefilm und politischer Eindeutigkeit an die Mittelwerke Ken Loachs und Oliver Stones und auch wenn vieles hier auch in der Manier eines Supermarktregalromans auf Intrige und Plottwist zugespitzt ist, überzeugt „The Ghost Writer“ insbesondere in seinen realistischeren Momenten. Vielleicht konnten wir hier auch einer der besseren Verfolgungsjagden der Filmgeschichte zu sehen bekommen.
„Inside The Yellow Cocoon Shell“ (Pham Tien An, 2023): Das wahrscheinlich beeindruckendste Filmdebüt des Jahres. Aus dem filmisch bislang noch weitestgehend unauffälligen Vietnam stößt auf einmal ein junger Mann, namens Pham Tien An hervor, der in Anschluss an den großen thailändischen Meister eines slow magic cinemas Apichatpong Weerasthekul grenzenloses Talent audiovisuellem Ausdrucksvermögen erwarten lässt. Es sind bewegte Tableaus, Tracking-Shots, in denen teilweise Wetterumschwünge oder Realitätsbrüche passieren. Zudem: der wohl schönste Tagtraum der Filmgeschichte.
„AGGRO DR1FT“ (Harmony Korine, 2023): Die Kids von heute tätowieren sich ja wieder ein bisschen goth-artige Muster auf die Haut und genau das filmische Äquivalent zu dieser ornamental-trashig-neogoth-Ästhetik scheint „AGGRO DR!FT“ zu sein und auch durchaus sein zu wollen. Es geht hier null um die Handlung, „AGGRO DR!FT“ ist ein musikloses Musikvideo, ein Ästhetik-Clip, ein Bewegttattoo. Ich glaube, Harmony Korine wird noch bessere Filme machen, auch als Testimonial des Edglrd-Studios, jedenfalls scheint eine neue Phase im Schaffen dieses radikalen Medienkünstlers eingeleitet. Spring Break forever, bitches? NO IT’S edglrd T!ME N00W $$$$ (oder so ähnlich)
„Tatami“ (Guy Nattiv & Zar Amir Ebrahimi, 2023): Der transzendierter Sportfilm #2: Nattiv & Ebrahimi schaffen es einerseits den Judosport ernstzunehmen und gleichzeitig funktioniert der Sport als ein systemisches pars pro toto für Weiblichkeit in der Öffentlichkeit. Das iranische Regime-Diktum, dass iranische SportlerInnen partout nicht gegen die „Systemfeinde“ Israels antreten und also (entgegen ihrer sportlichen Sinnhaftigkeit) zurücktreten oder gar vermeintliche Verletzungen vortäuschen sollen, ist ein spannendes politisches Spezifikum. Gleichzeitig provoziert es aber Gedanken einer Wesensverwandtschaft des allgemeinen Frauseins in der männlich dominierten Gesellschaft, wo also zentrale Fesseln der eigenen Potenz sich häufig als einstudierte, inkorporalisierte und an sich selbst „freiwillig“ gelebte Fremdwirkungen männlicher Einflussnahme entpuppen (nicht umonst spielt auch der Hijab in „Tatami“ eine wesentliche Rolle). Und dann funktioniert diese völlig realistische Setzung („Tatami“ basiert auf wahren Begebenheiten, wenngleich nicht im Frauensport) auch noch als ein Thrillerplot, der minutiös getaktet und rein aus der haptischen Kraft des Moments arbeitet und eine stilisierte Überhöhung gar nicht nötig hat.
„Hit Man“ (Richard Linklater, 2023): Ich will gar nicht der Spielverderber sein, der es nicht mag, dass der große formelle Verwandlungskünstler des Kinos Richard Linklater eine spaßige Screwballkomödie über einen Fake-Auftragskiller dreht. Ich stelle nur fest, dass der Film für mich nicht funktioniert. Angelegte Fragestellungen in „Hit Man“ sind geistreich, so z.B. die Gegenüberstellung von Dating und (phantasisierter) Fake-Identitäten oder inwiefern die Wahrheitskonstruktionen im Krimiplot „Hit Man“ natürlich auch zu einem Meta-Kommentar aufs Schreiben und Regieführen macht. Aber eingedenk dieser potenziell sehr starken Motivfelder, ist das schiere Ergebnis handwerklich uninteressant und erstaunlich unwitzig. Der Film hätte es gebrauchen können, den eigenen Plot etwas ernster zu nehmen (nur eine Spur!) und damit den Versuchsanordnungen eine Situationskomik des Real(istischer)en zu verleihen. So beobachten wir immer nur „Superhelden“ im erfolgreichen (Meta-)Spiel. Die Figuren dehnen das sie umgebende Realitätssystem wie sie eben wollen. Glen Powells Rolle als nerdiger Lehrer, der aber mit größter Leichtigkeit der coolste Typ der Welt ist/wird, bekommt eben durch diese Leichtigkeit eine lächerlich niedrige Fallhöhe. Mit pseudophilosophischen Einordnungen zu Freud und Nietzsche verleiht Linklater dieser Handlung darüber hinaus auch eine Lifecoach-Attitüde, die zwar nicht ganz ironielos daherkommen mag, aber trotzdem bei weitem nicht genug gebrochen würde, als dass man sie nicht auch ernstnehmen könne und damit einem ideologischen Vollschaden auf den Leim gehen könne. Dasselbe gilt allgemein mit dem Thema Mord, der am Ende gegenüber „gewissen Elementen der Gesellschaft“ doch ein legitimes Mittel zu sein scheint. Ironie off. Ironie on. Ironie off. Ironie on.
„Crossing“ (Levan Akin, 2024): Kan yirilti kalbimden akiyor. Es war klar, dass ein Film, der in Istanbul angesiedelt ist und so ähnliche Handlungsmotive und sogar -techniken anwendet wie der Film, den ich in Istanbul machen wollte, der leider aber Fragment blieb, mein Herz völlig zerreißen würde. Aber nicht nur deswegen, denn „Crossing“ ist auch einfach ein toller Film. Der erzählerische Motor von ist „Crossing“ eine Suchbewegung, von der immer klarer wird, dass sie sich nicht in einer großen Wiederbegegnung auflösen wird, denn die Frage steht zunehmend im Raum, ob die Transperson Tekla, die hier von einem ungleichen georgischen Protagonistenpaar überhaupt gefunden werden will. „Istanbul ist eine Stadt, in die Leute kommen, um zu verschwinden“, heißt es später. Das ungleiche Protagonistenpaar, das sind die ältere konservative Lehrerin Lia und der junge Mann Achi, der mindestens genauso auf der Suche nach sich selbst ist, wie Lia ihre transgeschlechtliche Nichte Tekla. Zudem wird noch ein Parallelerzählstrang einer türkischen Transperson gesetzt, die an mehrerer Stelle den Haupterzählstrang „crosst“, gleichzeitig aber auch falsche Fährten in das queere Milieu Instanbuls streut. Levan Akin gelingt das Kunststück, aus jeder Dialogzeile die so typische europäisch-finanzierte Weltanschauungsdidaktik herauszuhalten. Im Mittelpunkt stehen durch und durch episch beobachtete Situationen, Begegnungen, die von ihrer soziologischen Wahrhaftigkeit her gedacht sind. So unklar wie es ist, ob Tekla gefunden wird, so unklar scheint es auch „Crossing“ zu sein, ob er jemals irgendwas finden wird, als kleine interpersonale Wahrheiten zwischen den Hauptfiguren einerseits und den Figuren und der sie umgebenden Welt andererseits.
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