Sturzrevue & Kurzreplik — Juli ’24
G E S E H E N :
„Sidonie In Japan“ (Élise Girard, 2023): August Diehl erscheint Isabelle Huppert hier in Japan als Geist des verstorbenen Liebhbabers. Was anfangs noch als ein kinematografisch sehenswert-altmodisches Materialexperiment anfängt (der Diehl-Geist wird hier als Hommage vergangener Filmtechniken auf die „real-diegetische“ Filmwelt draufprojiziert), verfängt sich zunehmend in plattitüdenhaften Dialogszenen zwischen der trauernden/depressiven Huppert und ihrer Lebensliebe, koproduktionsgeile Postkartenmotive und ungefährlichen Situationswitzen. Angelehnt an große Vorbilder wie Hong Sang-Soo und Alain Resnais trägt Regisseurin Girard hier letztlich keine wesentlichen Befunde über Liebe, Tod und Trauer zutage, sondern sogar ziemlich üblen Programmkinokitsch und Langeweile.
„Love Lies Bleeding“ (Rose Glass, 2024): Kalkuliert postmodernes A24-Emanzipationskitschkino. Mit zwei queeren Frauen in einer Muckibudenretrowelt auf Rachefeldzug gegen ein toxisches Provinzpatriarchat scheint man sich fast algorithmisch nach dem zu richten, was das kollektive Bewusstsein des urbanen Bürgertums grad lechzt, ohne dabei einen wirklich klugen Gedanken zu Ende zu verfolgen.
„The Wonders“ (Alice Rohrwacher, 2014): Der erste Teil der losen Trilogie über das Landleben etabliert bereits Motiv und Stimmungen, die Rohrwacher in ihren beiden Meisterwerken „Happy As Lazzaro“ und „La Chimera“ dann zur Spitze treibt. Auffällig ist, dass „The Wonders“ die Magie zwar im fellini-haften, realismus-entrückten Weltverständnis schon irgendwie spürt, aber noch selten wirklich in die Diegese hineinlässt. Noch lassen sich magische Gesten recht vollständig auf einen kindlich-jugendlichen Subjektivismus der Hauptfigur Gelsomina rückbinden, noch hat Rohrwacher das Instrumentarium, auf dem sie mittlerweile so virtuos herumspielt, nicht ganz gefunden. Es ist dennoch ein großartiger, honigsüßern irgendwie nostalgischer, irgendwie auch völlig zeitentlöster Film.
„Only The River Flows“ (Wei Shujun, 2023): Ein Neo-Noir-Kriminalfilm wie ihn Lou Ye auf seinem Peak nicht viel besser inszenieren könnte. In der dichten Atmosphäre eines postkommunistischen Chinas der 90er Jahre projiziert ein Polizist die Ängste vor einem eigenen behinderten Kind auf seinen Kriminalfall, in dem eigentlich alles auf einen geistig zurückgebliebenen Mann hinweist. Wei Shujun irritiert unseren Blick immer wieder durch subjektive Einstellungen und dem leerstehenden Filmtheater als Ort des Fiktiven, der Träume, Ängste und ebene Projektionen, in das die Ermittler frisch eingezogen sind, weil „niemand im Ort mehr ins Kino geht“. Geht es hier wirklich um die Lösung eines Falles oder um das psychosoziale Bild einer Gesellschaft im radikalen Wandel?
„The Promised Land“ (Nikolaj Arcel, 2023): Normale Kartoffeln auf die Eins für Mads Mikkelsen. Der Hauptmann, der 1755 im Auftrag der dänischen Krone, aber mehr aber noch im Selbstauftrag (denn der König ist immer abwesend und selbst, wie man so hört, am helllichten Tage noch betrunken) das unwirtliche Jütland urbar machen will, indem er dort Kartoffeln anbaut, ist handwerklich mehr als ordentlich, aber auch reichlich orthodox gearbeitet. Die Schattierungen des Kolonialismus werden recht komplex herausgestellt und selbst eine art diversity-checklist-artige Besetzung eines dunkelhäutigen Mädchens wird noch sinnvoll untergebracht, um das komplexe Machtsystem aus Klasse, Adel, Leibeigenschaft und Krone in übersichtlicher Drehbucharchitektonik darzubieten. Manchmal lässt sich das Buch aber vom Sentiment in die falsche Richtung treiben und untergräbt zunehmend den historischen Anspruch des Films mit Pomp, stilisierter Gewalt und kitschiger Gefühlsduselei. Der schnöselige Landgutsbesitzer-Antagonist zum Beispiel ist ein Scheusal ohne Grautöne. Inszenatorisch bleibt alles erwartbar, gemäß der Produktionskosten ohne das Spezielle Moment eines Autorenfilms heruntermaterialisiert. Der motivische Fokus bleibt außerdem unscharf, denn gemäß des Romantitels, auf dem „The Promised Land“ basiert, müsste man mehr bei der Liebesgeschichte zwischen Hautpmann und Haushälterin sein, stattdessen habe ich mich persönlich gefragt, was eigentlich aus der sehr schönen Adeligen geworden ist, die mindestens genauso stürmisch und liebenswert um die Hand Mads Mikkelsens anhält.
„Die Theorie von allem“ (Timm Kröger, 2023): Eigentlich eine Ästhetik, die mir widerstrebt, weil sie zumeist schlecht amerikanischen Genre-Vorbildern nacheifert und aussehen wie Filme aus dem Erstsemester an der Filmhochschule, aber Kröger schafft es, die lowkey beleuchteten Bühnenwelten und stilisierten Oldschool-Hollywood-Manierismen wieder zu einer kleinen Neuerfindung von dem, was deutscher Film sein kann, auszubuchstabieren. Es ist ein diffuser Film, irgendwo zwischen großem Mindblow und Bluff, Nobelpreisarbeit und Trugbild, wie ein Traum, der zerrinnt, nachdem man aus ihm erwacht ist. Er ist vor allem aber eine große Geste, spielerisch, lustvoll mit dem Selbstbewusstsein eines Filmauteurs ohne Finanzierungsängste, etwas Gewagtes vorzuführen und dabei dem Risiko vor der großen Peinlichkeit nicht zu scheuen. Wie hat man sich einen Pitch dieses Neo-Noirs zwischen Tannenwipfeln, Berggipfeln und mathematischen Gleichungen vorstellen müssen?