
Sturzrevue & Kurzreplik — September ’24
G E S E H E N :
„Die Theorie von allem“ (Timm Kröger, 2023): Eigentlich eine Ästhetik, die mir widerstrebt, weil sie zumeist schlecht amerikanischen Genre-Vorbildern nacheifert und aussehen wie Filme aus dem Erstsemester an der Filmhochschule, aber Kröger schafft es, die lowkey beleuchteten Bühnenwelten und stilisierten Oldschool-Hollywood-Manierismen wieder zu einer kleinen Neuerfindung von dem, was deutscher Film sein kann, auszubuchstabieren. Es ist ein diffuser Film, irgendwo zwischen großem Mindblow und Bluff, Nobelpreisarbeit und Trugbild, wie ein Traum, der zerrinnt, nachdem man aus ihm erwacht ist. Er ist vor allem aber eine große Geste, spielerisch, lustvoll mit dem Selbstbewusstsein eines Filmauteurs ohne Finanzierungsängste, etwas Gewagtes vorzuführen und dabei dem Risiko vor der großen Peinlichkeit nicht zu scheuen. Wie hat man sich einen Pitch dieses Neo-Noirs zwischen Tannenwipfeln, Berggipfeln und mathematischen Gleichungen vorstellen müssen?
„El Conde“ (Pablo Larraín, 2023): Vielleicht wird man einmal von „El Conde“ als einen kleinen Wendepunkt in Larraíns Schaffen sprechen. Jeder seiner Filme ist eine eigenwillige Interpretation einer historischen Persönlichkeit, aber „El Conde“ radikalisiert diesen Ansatz jetzt, indem der berühmte faschistische Staatenführer Chiles Augusto Pinochet hier zum Vampir wird und sich Larraín damit Fantasyelemente auflädt. Zumindest auf den ersten Blick, denn das Bluttrinken und Herzfressen bleibt immer eine einseitig dechiffrierbare Metapher für Pinochets grausame Mordmaschinerie, das Genreregeln kaum folgt, sondern eher zur Illustration eines ansonsten sehr trockenen Drehbuchs dient. Das ist wohl auch, wenn man ehrlich ist, der Grund, warum „El Conde“ mit dem Vampirtum liebäugelt: Larraín hätte sonst wohl ein wenig Sorge, das internationale Publikum zu langweilen. Im Rest des Drehbuchs wird nämlich sehr viel theatral umher geredet. Mit einer gesunden Portion Zynismus rollt Larraín die Pinochet-Ära auf, streut Anspielungen, die man als Otto-Netflixzuschauer vielleicht nicht verstehen würde und dafür den Herzen im Mixer dürstet. Es bleibt leider dabei: Larraín wartet weiterhin auf sein Meisterwerk.
„Ellbogen“ (Aslı Özarslan, 2024): „Tamam digga!“ „Ellbogen“ ist authentisch geschildert und hat seine Stärken vor allem in der Darstellung türkischer Realität und den kulturellen (bzw. kulturalisierten) Unterschieden zwischen Almanci und Türkei-Türken. Insbesondere die Klassenimplikationen, die darin zum Ausdruck kommen, verarbeitet der Film außerordentlich gut, was nicht zuletzt an dem Casting liegt, das Menschen aus den entsprechenden Hintergründen besetzt. Ähnlich wie bei „Sonne und Beton“ tun diese neuen Gesichter dem Film (und dem deutschen Film allgemein) sehr gut. Problematisch ist, dass der Film die zentrale (auch nicht wirklich gut inszenierte) Totschlagszene bedingungslos als feministische Ermächtigungsgeste inszeniert und ohne fehlende kritische Distanz zur Hauptfigur (die der Film eben je nach künstlerischer Erzählhaltung durchaus als Sicherungsebene hätte einziehen können) diese dann auch genauso wie eben die Hauptfigur nie bereut. Hier vollzieht sich leider insbesondere dort eine extreme Schädigung von „Ellbogen“, weil der sich ja explizit als Generationsfilm mit Prädikat Wertvoll und dergleichem pädagogischen Anspruch mehr in Stellung bringt.
„Didì“ (Sean Wang, 2024): Mehr als einer der zurzeit keineswegs raren autobiografischen Filme über diaspora-asiatische Familien in den USA ist „Dìdi“ eigentlich ein Generations-Pic über die Jugend der 2000er-Jahren, in denen das junge Internet der Medien noch ein gesetzloser Ort war und es noch zum guten Ton und Überlebensinstinkt gehörte, sich in politisch inkorrektem Sprechen zu übertreffen. „Dìdi“ konzentriert sich ausschließlich auf die Entwicklung einer Hauptfigur Chris und ihrem authentischen Selbstanspruch, cool zu sein bzw. zu werden. Chris ist keine eindimensionale Opferfigur, die atmosphärischen Stärken bezieht die Figur mehr dadurch, dass die Frühjugend nunmal in den seltensten Fällen eine reine Erfolgsgeschichte war/ist. In kaum einem anderen Film, an den ich mich erinnern kann, wird Jugend, wie hier, eben nicht als ein klar abgestecktes Rollenspiel, in denen es auf der einen Seite die (häufig skandalisierten) Cool-Kids und auf der anderen Seite (die noch häufiger romantisierten) Opfer-Kids gegeben hat, sondern, dass insbesondere die Anfänge der Pubertät häufig von einer Dysbalance gekennzeichnet ist, in der ohnein alles fragil gewesen ist, am meisten aber das Wahrgenommenwerden als eine coole Person. Dramaturgisch baut sich Regisseur Sean Wang einen kleinen Playground bespielbarer Subplotstationen auf, wohingegen keiner den Primat einer ordnenden Instanz erlangt, nicht einmal der Love-Subplot. Alles bleibt in einem Gestus der epischen Beobachtungsgabe, die am ehesten vielleicht an Eliza Hitman erinnert und von dem makellosen Schauspiel aller Beteiligten profitiert. Es ist eine große Wonne, wie Wang es gelingt, der erwähnten Fragilität zwischen Unsicherheit und Coolness-Anspruch immer wieder subtil in den Gesichtsausdrücken der Hauptfigur einzufangen. Nur allzu selten geht Wang hierfür den Weg einer offenen Eskalation und löst es überwiegend in niederschwelligen Situationen und mitunter auch nur, indem Chris zuvor aufgenommenes Video-Material von seinem Windows-XP-Computer löscht. Und manchmal entwickelt sich sogar das Abfilmen eines solchen Computerbildschirms zu einem kleinen Gedicht, das mehr über diese Zeit und Generation aussagt als, ja, eben so gut wie jeder andere Film das bisher getan hätte.
„Blink Twice“ (Zoe Kravitz, 2024): Orthodox gearbeiteter Film, der sich (aber auch qualitativ!) in die Reihe des zeitgenössischen Horrorgenres einreiht, das das Genre als politisch-progressive Allegorie wiederbelebt hat („Get Out“, „Men“, „Us“ usw.). Die auf den ersten Blick plumpe bis simple Schwarz/Weiß-Zeichnung, anhand von Geschlechter-, Ethnien- und Wohlstandsgrenzen wird durch die eine Allegorie legitim, die sich von Minute zu Minute mehr als intellektuell redlich erweist. In „Blink Twice“ geht es um das politische Potenzial, wider der patriarchalen Kultur des Vergessens (vgl. Unter-den-Teppichkehrens) aufzubegehren. Und gleichermaßen verweist Zoe Kravitz spezifisch auf den Horror der K.O.-Tropfen, aber auch auf eine jahrhundert-, und jahrtausendlange Kultur des Vergessenmachens des Missbrauchs am weiblichen Körper. Zwar ist „Blink Twice“, ähnlich wie „Promising Young Woman“ ein Oneway-Movie, dessen doppelter Boden bereits beim ersten Schauen vollständig und für alle verständlich zum Einsatz kommt, aber für dieses eine Mal funktioniert die erzählrhetorische Struktur blendend. Zoé Kravitz schafft es, in ihrem Debütfilm sogar, klar reihenweise als solche erkennbare „Diskurs-Sätze“ in Dialoge einzuweben, ohne dass das außerordentlich didaktisch oder pointengeil daherkäme.
„Sonnenplätze“ (Aron Arens, 2024): Hinter der literarischen Stilisierungen mit Kapitelnamen, die mit fiktiven Zitaten der Vater-Figur eingeführt werden und dergleichen, steckt eigentlich eine weitere sehr deutsche Familienkomödie, die sich also durch bemühte Pointen und etwas steifes Timing auszeichnet. Kaum etwas bleibt zwischen den Zeilen, am Ende wird alles mit Tratra ausgesprochen, als wäre das Zielpublikum von „Sonnenplätze“ doch eine alternde Fernsehfilmzuschauerschaft. Das größte Problem des Films ist aber seine zum Erbrechen unreflektierte Großbürgerlichkeit. So funktionieren ganze Turns und Konfliktlinien eigentlich nur in einer Welt, in der man nachvollziehen kann oder will, dass der Verkauf eines Ferienhaus in Lanzarote jetzt eine Katastrophe sei oder nicht. Zwar zieht Arens viele Figuren dann doch hier und da so sehr ins Groteske, dass der Funken einer spät-hanekeschen Bürgertumsanalyse zumindest spürbar wird, aber am Ende scheint es dem Film doch am allerwichtigsten zu sein, ob die privilegierte Samuela ihren Roman veröffentlicht oder nicht. Und mir war es das nicht. Wirklich nicht.
„Die Ermittlung“ (RP Kahl, 2024): Alles, was kluge Kritiker so begeistert über „Die Ermittlung“ geschrieben haben, stimmt natürlich. Aber was davon bezieht sich tatsächlich auf „Die Ermittlung“ als Film, bzw. als Werk von RP Kahl? „Die große Leistung von „Die Ermittlung“, die es absolut wertmacht, ihn vier satte Stunden lang anzusehen, ist sein Konvolutscharakter. „Die Ermittlung“ ist ein Textwerk, das sich ja aus einer poetischen Verdicht(er)ung der tatsächlichen Frankfurter Prozesse ergibt. Diese textuelle (Ober)fläche wirft vielseitige Blicke, sowohl in die Gesellschaft der 40er, als auch in die der 60er Jahre und deckt komplex auf, inwiefern Täter- und Opferschaft miteinander verwoben sind. ABER: All dies ist nunmal die Leistung des Theaterautoren Peter Weiss, den RP Kahl hier sehr sklavisch nachschafft. Der Film selbst ist abgefilmtes Theater, nicht mehr, nicht weniger. RP Kahl verzichtet vollständig auf eine Auseinandersetzung des filmischen Mediums mit dem adaptierten Stück. Auch kleinere Eingriffe, etwa das Filmen in einem echten Gerichtssaal hätte bereits große Wirkungen erzielen können, die dem Stück weitere Ebenen hinzufügt. So aber bleibt die einzige Eigenleistung die schauspielerische Inszenierung und auch die wirkt auf mich nicht besonders virtuos, insofern, dass Stil und Qualität des Schauspiels variiert. Insbesondere die angeklagten Nazis verhalten sich oft so schmierig, dass man den Eindruck gewinnt, die teilnehmenden Schauspieler wollten im Spiel selbst die Verachtung gegenüber dem Nazismus anzeigen (was ja sowieso in fast jedem deutschen Nazi-Film so oder so ähnlich geschieht). Der Verdacht liegt also nahe, dass insbesondere bei den zahlreichen Nebenfiguren die schauspielerische Vorbereitung mehr auf Seiten der Schauspielerinnen selbst als auf Regie-Seite gelegen ist bzw. die Regie keine Vision hatte, auf welche Weise das Text-/Spiel-Verhältnis formatiert werden sollte.
„Sad Jokes“ (Fabian Stumm, 2024): Ein interessanter Film, zumal als ein deutscher, weil er Elemente eines schanelec-haften Kino singulärer, elliptisch erzählter Tableau-Situationen mit dem albernen Humor des Populären verheiraten will. Darin schlägt sich „Sad Jokes“ meistens ordentlich. Wie auch der Film-im-Film kreist „Sad Jokes“ selbst auch narzisstisch um seine Hauptfigur, die nicht die interessanteste Figur der eigenen Handlung ist. Die Reflexionsebene als schwuler Regisseur einen Film über einen stark ich-bezogenen schwulen Regisseur zu machen, entschuldigt als Modus aber nicht alles, da nicht ganz klar ist, wo „Sad Jokes“ mit seiner Narzissmusthematisierung ganz genau hinwill. So bleibt am Ende viel Schönes, Erinnernswertes, Beeindruckendes, aber auch irgendwie eine gewisse Ratlosigkeit. Insbesondere, warum wir so wenig von Sonya oder Elin gesehen haben.
„It Ends With Us“ (Justin Baldoni, 2024): Ich habe diesen Film mehr versehentlich gesehen und das fast allein in einem Madrider Kino. Es ist ein durch und durch schlechter Film, aber irgendwie ein gleichzeitig skurriler, weil er sowohl in Sachen Geschlechter- und Beziehungsrollenbilder als auch in kameraästhetischen, modischen, ja sogar schauspielerischen Kategorien dieser Film so aus der Zeit gefallen wirkt. Zwar bietet er am Ende einen halbwegs progressiven Ausweg aus einer sehr unwesentlich problematisierten Gewaltbeziehung, aber gerade das als große Erkenntnis zu verkaufen, macht „It Ends With Us“ wieder zu diesem merkwürdigenn UFO aus den 90er-Jahren, das irgendwie durch ein Wurmloch in den 2020er Jahren geschlittert ist. Da passt es irgendwie, dass Phänomeme wie Smartphones oder Google in dem Film zwar vorkommen, aber für die Handlung praktisch keine Rolle spielen, so als würde diese Geschichte wirklich in der Vergangenheit spielen. Oder als hätte man ein Buch verfilmt, das Jahrzehnte lang in der Schublade lag (was nicht der Fall ist).
„Megalopolis“ (Francis Ford Coppola, 2024): Man stelle sich vor, Francis Ford Coppola wäre ein Philosoph (ich glaube, ihn würde dieses Gedankenspiel schmeicheln) und „Megalopolis“ seine letzte Monografie. Man würde sich dieses Werk voller querköpfiger Gedanken zu Gemüte führen und vor der Frage stehen, ob man „Megalopolis“ jetzt auf die eine oder andere Weise verstehen will. Man kann diesen Film nämlich als einen hanebüchenen und gleichermaßen entsetzlich überambitionierten Film lesen. Als das Werk eines halbsenilen alten weißen Mannes, der noch einmal seine Genialität in ein Opus Magnum gießen wollte und krachend an einer sich weiter drehenden Welt und auch an sich selbst gescheitert ist. Oder aber man blickt mit einem bisschen Abstand auf den Film und klopft ihn versöhnlich auf das ab, was irgendwie doch gut sein könnte, dass es doch irgendwie schön ist, dass ein solches megalomanes Projekt überhaupt in der Welt ist, dass es seine eigene Größenwahnsinnigkeit eine Spur mitreflektiert und dass es nunmal die letzten Takte eines großen Filmemachers/Philosophen darstellt. Das von Coppola dargestellte Gesellschaftsbild ist sowohl in seiner dystopischen als auch utopischen Medaillenseite banal und das wird sich wohl auch nicht ändern. Aber die Oberfläche, der nach man dieses obskure Werk auch als ein großes trashiges Feuerwerk sehen kann, wird womöglich im Laufe der Filmgeschichte wachsen. Insgesamt fasst diesen Film so oder so aber wohl ein Adjektiv gut zusammen, das ich durchweg beim Schauen in meinem Kopf hatte: „Megalopolis“ ist OUTRAGEOUS.
„Wild Flowers“ (Jaime Rosales, 2022):Eine Beziehungsgeschichte in drei Männerakten: „Wild Flowers“ problematisiert jede eigene Figur, auch seine Hauptfigur, die 22-jährige Julia, gleichermaßen. Beziehungen sind per se fragile Konstrukte und es gibt kaum wesentliche Erkenntnisse, die Jaime Rosales uns als Publikum darüber hinaus auf den Weg geben möchte. Als Film, gleichzeitig mit epischen Zeitsprüngen, aber auch sehr situativen Momenten, beeindruckt „Wild Flowers“ vor allem durch sensationelles Schauspiel in brillant getakteten, fantastisch fotografierten Szenen. Man kann die Geschichte der 22-jährigen Julia gleichermaßen als Passion einer sehr jungen Mutter (ihre erste Geburt dürfte mit 15 oder 16 gewesen sein), aber auch als Klassenrealität lesen. Das einfache Leben der arbeitenden Bevölkerung wird einfühlsam und authentisch herausgearbeitet. Dass sich der optimistische Ausblick dann am Ende ausgerechnet bei dem einzigen bürgerlichen Mann anbietet (dem ersten Mann, der es sich auch leisten kann, über seine eigenen Schwächen als Partner zu reflektieren und diese anzugreifen), verwässert die Darstellung von Klasse als politische Utopie aber ein wenig.
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