
Gesammelte Eindrücke vom Wiener Festival.
„Mirrors No. 3“ (Christian Petzold, 2025): Wer träumt hier von wem? Laura stellt sich das Leben bei einer alten Fremden am Straßenrand schöner vor als bei ihrem Noch-Freund auf dem Beifahrersitz. Betty wünscht sich eine Ersatztochter nach dem Selbstmord ihrer Tochter. Beide Imaginationen treffen sich in der Mitte, verschmelzen zu einer Geschichte, einem Tanz der Signifikanten, in dem das Publikum sehen kann, was es möchte und auch Ausreden dafür finden wird, warum eine provinzielle Handwerkerfamilie hier in jedem Moment Klassik zu hören und Weißwein zu trinken scheint. Eigentlich typisch, nicht besser, nicht schlechter als andere Filme von Christian Petzold, in den man gerne wohlwollend etwas hineinträumt, aber der auf der Ebene handwerklicher Attraktion auch nie so ganz herausragend ist.
★★★
„Dry Leaf“ (Alexandre Koberidze, 2025): Mit 24-Stunden-wach-sein und Post-Feierngehen-Geisteskraft war mein „Dry Leaf“-Erlebnis natürlich vom Anfang zum Einschlafen verurteilt. Das war also eingepreist und stellt die Legitimation meiner Kritik meinetwegen in Frage. Und so habe ich in „Dry Leaf“ mit zugekniffenen, zufallenden Augen vielleicht andere Dinge gesehen als der Rest …. vielleicht sogar Levan hehehe. Aber im Ernst: Was Koberidze mit seinem Vorgängerfilm „What Do We See When We Look At The Sky?“ geschafft hat, war ja eine perfekte Allianz aus Experiment und Zugänglichkeit, ein Film von visueller Spielfreude und kindlicher Erzähllust. „Dry Leaf“ hingegen funktioniert nur, wenn man sich mit zweii offenen Augen auf das letztlich ziemlich starre Konzept aus filmgeschichtlichen Referenzen und ewigen Wiederholungen des kleinen Bisschens Erzählsubstanz einlassen will (oder einlassen kann). zZZzzz.
★★½
„Father Mother Sister Brother“ (Jim Jarmusch, 2025): Zweimal gelacht: Erstens als Tom Waits mit seinem Luxus-Oldtimer, den er vor seinen eigenen Kindern versteckt hat, davonfährt, und ich dachte: nice, jetzt kann der Film ja los gehen. Zweitens als dieser aus drei schlecht geschriebenen, schlecht gespielten, belanglosen, kaum witzigen Kurzfilme bestehende Quatsch dann endlich vorbei war und ich realisiert habe, dass der Mann allen Ernstes dafür einen Golden Löwen in Venedig bekommen hat.
★½
„Resurrection“ (Gan Bi, 2025): Von Schönheit erpresst fühle ich mich hier, denn schlecht kann man dieses große Schauwertekino nun wirklich nicht finden. Bi Gan geht seinen Weg des Monumentalismus unbeirrt weiter, der mich schon bei seinem zweiten Film etwas angefangen hat, zu nerven, und der die sonst im chinesischen Kino so geschmackvoll beherrschte Plansequenz endgültig droht, zu einer aufgeblasenen Dominanzgeste zu degradieren, ihn zu einem chinesischen Damien Chazelle oder González Iñárritu werden zu lassen. „Resurrection“ will eine große Schau der Illusionen sein, das Kino (mit all seinen Referenzen) und das Träumen wird miteinander kurzgeschlossen und wechselseitig verdingt. Und tatsächlich sind das Bilder und Eindrücke, die im geistigen Auge nachdämmern, auch wenn ihre Logik, ihre Nacherzählbarket in den Fingern zerrinnt. Das ist groß, schön, aber auch nie mehr als das. Nie wirklich mehr als die Summe seiner Pompösitäten.
★★★½
„Two Prosecutors“ (Sergei Loznitsa, 2025): Eine Literaturadaption von großer Präzision und Konsequenz. Dass der junge, idealistische Staatsanwalt Kornyev am Ende im selben Gefängnis als Gefangener landen wird, in dem er am Anfang der Handlung einkehrt, um Verbrechen der sowjetischen Administrative aufzuklären, ist eine zirkuläre kafkaesk-gogol’sche Pointe, die von Anfang an offenkundig ist. Der Film ist auch nur für ein Publikum interessant, für das die Verbrechen des Stalinismus keine Neuigkeit sind, zumal sie ohnehin im Vortext angekündigt werden. Nein, es geht hier wirklich nur darum, zu zeigen WIE das stalinistische System aussah oder viel mehr noch: sich anfühlte. Und so ist „Two Prosecutors“ ein ewiges Ablaufen von Gängen, Aufschließen von Türen, flüchtigem Begegnen von wie-auch-immer-hierarchisierten Mitarbeitern des Systems und ganz wichtig: Warten in dafür vorgesehenen Räumen. Das Antichambrieren wird hier zum wesentlichen Moment des stalinistischen Bürokratie-Terrors. Und Loznitsa inszeniert dies in souveränen Erzählgesten, die sich gleichermaßen einem psychologischen Film-Realismus und einer literarisierten Gestikalität verpflichtet fühlen. Die Erzählweise der Literaturvorlage wird hier mustergültig transponiert, dringt durch die Bilder, ohne deren filmische Gemachtheit zu diskreditieren. Selten war Einschlafen so schön, so poetisch und ja, auch so politisch wie hier. Denn wer in die falsche Richtung träumt, wacht vielleicht in einem Gefängnis auf.
★★★★
„Dracula“ (Radu Jude, 2025): Radu-Jude-Werke sind das filmische Pendant zu Slavoj-Žižek-Publikationen: essayistisch, verspielt, vulgär, radikal zeitgeistig, reich an popkulturellen und hochgradig philosophischen Referenzen, neo-marxistisch und in einem sozialistischen Sinne dazu berufen, politische Sachverhalte sehr einfach, ja, manchmal geradezu plump wiederzugeben. In „Dracula“ gibt es die „historische“ bzw. (pop)mythologische Figur des Vampirenfürsten als zusammenhaltendes Element, um essayistisch über verschiedene Dinge zu erzählen, allen voran Ausbeutungsverhältnisse und wie diese konkret in Rumänien auch mit einer verkitschten und vertrashten Erinnerungskultur um Vlad den Pfähler zusammenhängt. Nicht jeder Gedanke Judes ist hierzu klug und schon gar nicht baut die intellektuelle Rhetorik des Films immer zufriedenstellend aufeinander auf. Auch diese überpubertäre Penisaffinität und das politische Name-Dropping um Trump, Musk usw., mit dem Jude scheinbar unbedingt als großer Rebell in die Geschichte eingehen will, nervt manchmal, weil zu selten etwas dahinter steckt. Trotzdem hat „Dracula“ durchaus große Momente zu bieten. Die liegen aber eher in der Situationskomik des Trashs und dem innovativen Einsatz von KI-Slop als wirklich an intellektueller Stringenz seines 3-Stunden-Essays, das wohl auch 40-60 Minuten zu lang ist. Und so ist ironischerweise fraglich, ob ein Slavoj Žižek, der ja gerne für die Bebilderung seiner Gedanken Referenzen aus der Filmgeschichte herausgreift, sich überhaupt bei einem Film wie „Dracula“ bedienen würde.
★★★
„I Only Rest In The Storm“ (Pedro Pinho, 2025): Ein wildwüchsiges Gestrüpp eines Films, so enthemmt und unvorhersehbar wie mutmaßlich das Land, Guinea-Bissau, das es porträtiert. Aber es geht eben nicht nur im Sinne eines dokudramatischen Panoramablicks um das afrikanische Land, vielmehr um ein westliches, post-koloniales Verhältnis zum gesamten schwarzen Kontinent. Die portugiesische Hauptfigur Sergio ist ein wenig eine charakterlose Leerstelle, manchmal ist das auch frustrierend, z.B. in Szenen, in denen eine europäische Widerrede interessant gewesen wäre. Aber im Grunde fungiert diese Figur als ein Spiegel, auf den dann die Perspektiven afrikanischer Menschen prallen können. An mehreren Stellen in diesem dreieinhalbstündigen Koloss entstehen auf diese Weise bedeutsame Szenen. Etwa, als eine Afrikanerin schlichtweg nicht glauben kann, dass Europäer ihre Klospülung wirklich mit Trinkwasser betreiben, es selbst dann noch als Sergio in einer sensationell wortlosen Verschämtheit insistiert, dass es wirklich so ist, für einen Witz hält. All das passiert ausgerechnet, als eine NGO einem Dorf gerade eine Latrine eingerichtet hat, damit die Menschen zum Scheißen nicht mehr in den Wald gehen müssen. Der NGO-Westen mit seinem letztlich kulturell narzisstischen „wundenheilenden“ Selbstverständnis wird hier mehrmals schonungslos auf sich selbst zurückgeworfen, wenn wir z.B. die afrikanische Perspektive hören, der nach die eigene Korruption und Gewalt notwendige Übel seien und an den Wänden europäischer Kathedralen und den offiziellen Geldströmen der Zentralbanken mindestens genauso viel Blut klebt wie an den dreckigen Geschäfte vor Ort, an denen sich Sergio nicht beteiligen will, wobei ihm eben diese moralische Verweigerung selbst noch, das Ablehnen von schmutzigem Geld, zurecht als Privileg vorgeworfen wird. Pedro Pinho ist ein Film gelungen, der an manchen Stellen auch geradezu dilettantisch konfus erzählt ist, auch im völligen Erzählchaos endet, einfach irgendwann vorbei ist, aber bis dahin doch dem Publikum den einen oder anderen Spiegel vorhalten konnte. Eine Reise voller Unvorhersehbarkeiten und gebrochener Sehgewohnheiten. Kein post-kolonialer im baerbockschen, sondern ein wahrlich anti-kolonialer Film voller ungeheuerlicher Wahrhaftigkeit.
★★★★
„The Voice Of Hind Rajab“ (Kaouther Ben-Hania, 2025): Vorab, nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Free Palestine, stop the Genocide, die Netanyahu-Regierung muss gestoppt werden und eine Kritik an ihr ist notwendig und Antizionismus nicht notwendigerweise antisemitisch. Jetzt zum Film: Gute „Dramatisierung“ der wahren Geschichte, die in Form echter Sprachnachrichten auch medienreflexiv in die filmische Wirklichkeit übergreift. Der spannendere Film wäre „The Voice Of Hind Rajab“ aber als ein vollkommenes Re-Enactment gewesen, das eben nicht dramatisiert, sondern genauso medienarchäologisch wie gegenüber dem Mädchen Hind Rajab auch gegenüber dem Roten Halbmond gewesen wäre. In einer Stelle des Films sehen wir dann auch tatsächlich die „echten“ Menschen der Geschichte und spüren etwas von einer Wirklichkeit, die nicht zu einem Theaterstück verdichtet sind, das den politischen Message-Charakter dann auch nie übersteigt. Kurz ist in dieser Szene die Wahrhaftigkeit des Moments durch seine Profanität zu spüren, in der dann alles doch ein bisschen zerdehnter, sachlicher, professioneller zuzugehen scheint. Hätte man dies gezeigt oder nachempfunden, wäre selbst noch seine Tragik größer gewesen, denn sie hätte sich nicht im dramatisch Erwartbaren, sondern in der Materialität des Moments entfaltet. „The Voice Of Hind Rajab“ hätte konzeptuell wohl mehr reiner Dokumentarfilm sein müssen oder zumindest das Re-Enactment im Sinne von „Four Daughters“ zum philosophischen Wesensprinzip erheben müssen. Es gibt eben nicht nur eine Banalität des Bösen (Arendt), sondern auch eine des Helfertums, des Guten, und die wäre spannend zu sehen gewesen. Der versagt sich der Film aber zugunsten seiner Spielfilmhaftigkeit. So ist Kaouther Ben-Hania zwar durchaus kein schlechter Film gelungen, aber in jedem Fall auch einer, der sich einer manipulativen Gerichtetheit auf den maximalen emotionalen und politischen Effekt mehr als verdächtig macht.
★★★
„A Useful Ghost“ (Ratchapoom Boonbunchachoke, 2025): Ein Gespenst geht um, in der Fabrik der Kapitalistenklasse, aber es ist bei Ratchapoom Boonbunchachoke nicht (nur) das Gespenst des Kommunismus, sondern eine ziemlich vielfältige Metapher, die der Film gleichzeitig beschwingt und in einem niederschwellig sketchyem Humor auftischt. Sterbende Menschen bleiben als Seele erhalten, wenn sie selbst nicht vergessen können oder von anderen Menschen nicht vergessen werden, was der Seele — die sich hier in einem Staubsauger niederlässt — zu einem Medium des Liebens wie des Hassens werden lässt. Der beseelte Staubsauger verweist einerseits auf spirituelle Elemente der thailändischen Folklore, bzw. den Animismus asiatischer Kultur(en), kann aber auch durchaus als eine Allegorie auf Künstliche Intelligenz oder eben die Geister der Vergangenheit, also als politisches Gewissen, gelesen werden. Das ist intellektuell vielleicht gar ein bisschen zu bunt und vielschichtig gedacht, weil die Multi-Allegorie nicht über die 130-minütige Handlung aufrecht erhaltbar bleibt, auch wenn der zugängliche und niedliche Witz das meistens gut verbergen kann. Letztlich — insbesondere für sein blutiges Finale — wäre es vielleicht besser gewesen, das nützliche Gespenst wäre klarer und deutlicher einfach nur das des Kommunismus geblieben.
★★★½
„The Secret Agent“ (Kleber Mendonça Filho, 2025): Als Filmemacher in diesen prekären, von K.I. zusätzlich bedrohten Zeiten blickt man gleichermaßen mit Neid und Freude auf einen Film wie „The Secret Agent“, der mit beachtlichem Budget so frei drauf los erzählen kann, dass er mal in Tarantino-Grammatik, mal als Familiendrama, dann mit trashigen Einwürfen und Erzählgesten ungeniert durch Genres, Farben und Stimmungen fluktuiert, sich 160 Minuten Zeit nehmen kann, ohne einen wirklichen Punkt zu machen, außer vielleicht der, dass er ebenso fluide wie die Identität eines Geheimagenten ist. Selbst Kleber Mendonça Filho selbst scheint seine Hauptfigur kaum greifen zu können, ein Griff in die Gegenwart zweier Studentinnen, die (Achtung, in K.I.-Zeiten eigentlich grob unglaubwürdig!) Ton-Aufnahmen transkribieren und auf diese Weise Hauptfigur und Handlung auf die Spur kommen, reicht allerdings kaum als eine Klammer, wird ebensowenig als Vehikel des unzuverlässigen Erzählens (bzw. unzuverlässigen Verstehens) funktional, weil: dann doch zu wenig verzahnt mit dem Rest-Film. Immerhin kann es dazu dienen, eine wirklich schlechte Restaurant-Szene zu entschuldigen, da diese wirklich dem Pathos und der Fantasie zweier fascho-bashenden Studentinnen entsprungen sein könnte. Nichts Halbes, nichts Ganzes, aber alles daran auf ziemlich schauwertigem Niveau.
★★★½
„The Disappearance Of Josef Mengele“ (Kiril Serebrennikov, 2025): Das fantastische hochwerte Szenenbild und die aufwendige Kameraarbeit kann den aufgeklebten Bart August Diehls nicht aufwiegen. Oder anders gesagt: Die Serebrennikov-Verfilmung überstrahlt den durchschnittlichen deutschen Nazi-Historiefilm zwar auf der Ebene einiger Produktionswerte, aber nicht in seinem Wesenskern. Anfangs sind die Sprechweisen und Atmosphären des teil-entnazifizierten Ardenauer-Deutschlands noch gut getroffen, aber umso mehr der Film fortschreitet, fadisiert er in einer monotonen Darstellung des Mengele als unverbesserlichen Nazi und einsamen Alten. Kein Erkenntnisgewinn, nichts Reales, Menschliches, Banal-Böses tritt durch die theatrale Performance und die schwachen Dialoge hindurch. Die Farbfilminterszenen, die in einer (wären sie nicht inhaltlich so grauslich) instagramabilen Auschwitzsequenz ihren Höhepunkt finden, sind typisch Serebrennikov’sche, kalkulierte Gadgetry, die das Restschwarzweiß umso belangloser erscheinen lässt.
★★½
„Two Seasons, Two Strangers“ (Shô Miyake, 2025): Wieder einmal verfilmt Sho Miyake eine Literatur-Vorlage, auch wenn es sich in diesem Fall um Fragmente von Mangas handelt. Gegenüber seinen bisherigen Arbeiten ist „Two Seasons, Two Strangers“ ganz anders; ruhiger, gesetzter, erinnert an die jüngsten Filme Ryusuke Hamaguchis. Wie immer bei Miyake geht es um ungewöhnliche Gemeinschaften: eine junge Drehbuchautorin kehrt bei einem etwas seltsamen Hostel-Besitzer ein, weil alle anderen Hotels belegt sind. Ohnehin weiß sie nicht, warum sie überhaupt in diesen Ort gekommen ist, sie flüchtet sich in ihrer kreativen Krise ins Nirgendwo, ziellos. Diesen doppelten Boden führt der Film immer mit: die Geschichte einer Annäherung zweier Menschen, aber auch einer kreativen Selbstannäherung, einer Reise ins Innere. Sowohl ihre Drehbuchhandlung, als auch das „real“ Erlebte basieren auf den Mangas Yoshiharu Tsuges, auch in der Binnenform des Films unterscheidet Miyake nicht zwischen Fantasie und Wirklichkeit, alles wirkt wie ein Traum mit gelegentlichen (unbewussten) Wachmomenten. Gegenüber Werken wie „Small Slow But Steady“ oder „All The Long Nights“ gipfelt dieser Miyake eher auf einem poetischen Akkord, als dass er in den stillen Zwischenmenschlichkeiten nach etwas so Tiefem schürft, dass es zu Tränen rührte. Der bislang poetischste Film eines großen Filmprosaikers.
★★★½
„The Stranger“ (François Ozon, 2025): Wieder ein Film, bei dem ich mich frage, ob hier äußere Parteien (die Produktion? Der Zeitgeist?) etwas in den Film hineingetragen haben, das da nicht hineingehört oder ob es die Fehlentscheidung der Regie selbst war. „The Stranger“ ist über sehr weite Strecken eine geradezu streberhafte Camus-Verfilmung. Zwar scheint hier die eigene Interpretation, das Intertextuelle, zu fehlen, aber wie Ozon den lakonischen Stil des Fremden in bestechende Schwarzweißbilder übersetzt, nötigt einen gewissen Respekt ab. „The Stranger“ konzentriert sich (auch wenn die existenzialistischen Dialoge in der Todeszelle auch gar etwas ausufernd sind) recht fein auf die völlige Apathie Mersaults im Anblick seiner sinnlosen Existenz. Man muss den Fremden gelesen oder mindestens Camus‘ Philosophie kennen, um den Film auf diese Weise sehen und hochschätzen zu können, aber: warum nicht. Der Film ist in dieser Hinsicht eine mustergültige Form-Inhalt-Analogie. Dann aber verwässert Ozon den Film mit einem unnötigen postkolonialen Diskurs und endet den Film am Grab des ermordeten Arabers. Das wirkt pflichtschuldig und halbgar. Eine vergleichende Inszenierung des Fremden mit Kamel Daouds Gegenroman — das wäre (ganz im Sinne übrigens von Luchino Visconti, der den Fremden ja 1967 bereits verfilmt hat) — wäre die andere Option gewesen, die die Literatur-Adaption nicht als Analogie oder Transferleistung, sondern als kreative Neuschöpfung verstünde. Das jedoch hier: in allerallerletzter Konsequenz inkonsequent.
★★★
„Romería“ (Carla Simón, 2025): Hat seine Momente, die subtilen kleinen Staatsgeheimnisse einer bürgerlichen spanischen Familie versteckt Simón recht elegant in der manchmal schwelgerischen, manchmal rohmer-haft tagebuchblätternden Dramaturgie. Aber, um ganz ehrlich zu sein, finde ich die familiäre Hintergrundgeschichte von heroinsüchtigen Eltern gar nicht so spannend, wie Simón das scheinbar findet, die das — durch die Perspektive ihrer jugendlichen Protagonistin — zwar etwas absichert, aber im Endeffekt doch kitschig romantisiert und exotisiert. Ich glaube außerdem nicht, dass drogenabhängige Eltern so unkreativ und uncool über ihren Konsum reden, wie hier, wo sie einfach immer nur kundtun, wie toll die Drogen seien und dass sie schon wieder high sind. Einmal mehr ist ihr Filmemachen für mein Dafürhalten ein bisschen zu autobiografisch-narzisstisch, vermisst dabei etwas formell zu entwerfen, das über die eigene Nabelschau hinausgeht und sich nicht nur blind darauf verlässt, dass man das schon irgendwie fühlen wird. Die cineastische Sperrspitze der Mittelschichtsbanalität.
★★½
„Sentimental Value“ (Joachim Trier, 2025): Ein befreundeter Studienkollege, dem „Oslo, 31. August“ gar nicht gefiel, beleidigte Triers Filmästhetik damals damit, sie sähe aus wie eine Ikea-Werbung. Vier Filme weiter lässt Joachim Trier nun einen Ikea-Stuhl in die Filmgeschichte eingehen. Allgemein sind Gegenständlichkeit und Einrichtung in „Sentimental Value“ herausstechende Motive. Einen sentimentalen Wert messen wir gemeinhin eben solchen Gegenständen bei, weil das bei Menschen — zumal solchen, die wir lieben — eigentlich selbstverständlich ist. Gustav Borg, der Star-Regisseur, den Joachim Trier hier ins erzählerische Zentrum stellt, ist hingegen ein Narzisst, der seine Mitmenschen mitunter doch wie Gegenstände behandelt. Er ist ein Menschenfänger, der sein Charisma funktional einsetzen kann, um Menschen zu manipulieren und doch einsam hinter dieser professionellen (und professionsbedingten?) Fassade ist. Die eigentliche Protagonistin ist abermals von Renate Reinsve gespielt, seine älteste Tochter Nora, die vielleicht die einzige ist, die voll und ganz hinter diese Fassade ihres Vaters blicken kann und ihn mit Verachtung straft. Gustav hat sein letztes großes Drehbuch über seine Mutter, eigentlich aber auch über eben sie, seine Tochter, geschrieben und will, dass sie diese Rolle spielt, sie verneint das vehement. Der restliche Film ist ein Kampf um Vergebung, an dem Ende doch ein Einknicken vor dem männlichen Genie-Geist steht, die Tochter spielt in dem emotional schwermütigen Stoff sich selbst, ihre Mutter, ihre Oma und die Muse ihres Vaters gleichermaßen. Aber ein wenig im Gegensatz zu „The Worst Person In The World“ ist diese letzte Annäherung keine die über eine krebskranke Emotionalisierung gespielt wird, sie ist weitaus komplexer und balancierter, blickt tief und fair in beide Psychologien. Auch die jüngere Schwester Agnes, die im Kampf um die Aufmerksamkeit des Vaters nicht verbittert und verkrampft ist, sondern zur reifen Persönlichkeit gewachsen ist, die sich elementar durch das Moment des Verzeihenkönnens auszeichnet, ist ein wichtiges Element in diesem reifen Meisterstück des psychologischen Realismus. Joachim Trier bleibt immer eng an seinen Figuren, viel ernsthafter und weniger in kunderahaften Erzählspielereien wie noch in seinem letzten Film. Nur ein Off-kommentiertes Haus als Schauplatz und Objekt gleichermaßen, als Ibsen’sches Puppenheim, Therapieraum und Theaterbühne, erinnert noch an das Strukturspiel, in das Trier gerne verfällt. Aber in seiner Schlichtheit und Funktionalität erzählt der Norweger hier viel virtuoser und erwachsener. Auf dem Olymp angekommen mit einem Ikea-Stuhl.
★★★★
„Magic Farm“ (Amalia Ulman, 2025): Da Amalia Ulman ja aus diversen anderen Künsten „verspätet“ in die Welt des Films eingetroffen ist, könnte man von „Magic Farm“ eigentlich mehr erwarten. Klar, der Film ist wild, postmodern, frisch in seinen filmischen Mitteln und Medienkunstanleihen, aber eigentlich? Joa, sieht er eben aus wie ein Film von einer Medienkünstlerin. Schon auch amüsant, vor allem Alex Wolff oder ein paar Dialoge („I have online friends“ – „You’re on only fans?„), aber die Erzählprämisse idiotischer Großstädter, die im argentinischen Nirgendwo auf der Suche nach skurillen Trends sind und sie dann am Ende selbst erfinden müssen, fehlt noch eine Übersteigerung im Stilistischen, eine Eskalation im Narrativen, um wirklich gut zu sein. Letztlich ein Film bunter, postironischer Einzelteile, die gar nicht mehr selbst zu wissen scheinen, wo die Grenzen der eigenen Ironie verlaufen.
★★½
„Anemone“ (Ronan Day-Lewis, 2025): Überraschungsfilm der Viennale und die Art und Weise, wie der Film vom Festival eingeführt wird, bleibt auch das dramaturgisch Überraschendste daran. Ohne eingeblendete Titel, langsam und oft von hinten mit der Kamera an die wortkargen Figuren heranschleichend, bleibt tatsächlich lange unklar, was für einen Film wir hier zu sehen bekommen. Dann erweist er sich aber leider als das biedere Regie-Debüt von Daniel Day-Lewis‘ Sohn Ronan, der eine völlig banale und unfertige Geschichte von zwei Brüdern im Seniorenalter erzählt, die sich in den Wirrungen des Nordirlandkonflikts aus den Augen verloren haben. Stundenlang palavern Sean Bean und Daniel Day-Lewis in einer Hütte im Wald in theatralen, ins Nichts führenden Dialogen und die große Handlungsumkehr ist nach quälenden 126 Minuten, dass Daniel Day-Lewis‘ Figur wieder mit seinem Sohn redet, der anscheinend irgendein Problem mit irgendwem hat. Eigentlich dürfte das alles nicht länger als 15 Minuten dauern und wäre klassischerweise dann eine Exposition, nach der sich das Vater-Sohn-Verhältnis erst vertiefen würde. Zeitgeschichte und Irlandkolorit sind hier nur angeworbenes Sekundärwissen, um die Figuren ein bisschen weinen und verzweifeln zu lassen. Eine Technik-Demo, die so ein großer Schauspieler, der nach acht Jahren Abwesenheit auf die Leinwand zurückkehrt, eigentlich nicht nötig haben sollte.
★½
„Yes“ (Nadav Lapid, 2025): Kurzfassung: No.
Langfassung: Nadav Lapid wäre gerne ein subversiver Künstler, in Einzelmomenten ist er das vielleicht auch, aber im Großen und Ganzen herrscht hier ein Missverhältnis der filmischen Form gegenüber den realpolitischen Zuständen. Im Q&A sagt er, dass das Script schon vor dem 7. Oktober existiert hätte und sich danach praktisch kaum verändert hat. Das merkt man und ist Kern des Problems. Das Chaotische, Überdrehte und wie so häufig bei Lapid völlig selbstzweckhaft Experimentelle ist schlichtweg nicht die richtige Form, um als politische Komödie etwas Wesentliches über das gesellschaftliche Dilemma auszusagen, in dem sich Israel seit dem 7. Oktober befindet. Das beste Beispiel hierfür ist die Nationalhymne, die die Hauptfigur Y. hier „dichtet“, die aber tatsächlich in dieser absurden Form (die palästinensische Bevölkerung wird als „Träger des Hakenkreuzes“ beschrieben) existiert. Dadurch, dass der Film in seinem Humor aber ununterscheidbar von der Absurdität dieser Hymne ist, wirkt die Hymne wie eine „Erfindung“ des Films, dadurch fällt das Traurig-Absurde der Wirklichkeit und Absurde des Lapid’schen Einfalls ineinander und „Yes“ hat keine Steuerungsfunktion mehr über jenes, über das im Sinne einer subversiven Erkenntnismaschine gelacht werden soll. So ist der Film letztlich wenn zwar nicht Komplizin, so doch reichlich indifferente Beobachterin der Verhältnisse.
★½
„Nouvelle Vague“ (Richard Linklater, 2025): Ein großer Spaß für Cinephile, das muss man schon sagen. Richard Linklater zeichnet mit viel Detailtreue und erkennbarem Herzblut den Dreh von „À Bout de Souffle“ Drehtag für Drehtag nach. Der Titel „Nouvelle Vague“ ist etwas falsch gewählt, eigentlich, denn mitnichten kann der Film in Anspruch nehmen, tatsächlich für die gesamte filmhistorische Bewegung zu sprechen, vielmehr ist er Anflug einer Godard-Biografie und am allermeisten eigentlich ein Film über einen selbstüberzeugten Cinephilen, der das erste Mal einen Film dreht. Und gerade darin liegt auch seine größte Kraft, sein schöner Humor, seine Klasse: Dass Linklater die Regie-Ikone Jean-Luc Godard auf eine Figur zurückführt, die wir alle aus unserem Umfeld und vielleicht sogar in uns selbst kennen. Einen Amateur, der Filme machen will und alle möglichen Fehler macht, aber kraft seiner Idee und seines Glaubens das Glück herausfordert. „À Bout De Souffle“ wird hier spätestens im Abspann als visionärer Bruch mit dem Dagewesenen gefeiert und gleichzeitig aus der Warte seiner damaligen Gegenwart auch als etwas Lachhaft-Dilettantisches vorgeführt, als den (schönen) Zufall der Geschichte, der der Film natürlich immer auch schon gewesen ist. Ein seltsamer Neid entsteht beeim Zusehen, gegenüber einer Zeit, in der man das Ikonische scheinbar mit der Mühelosigkeit eines zeitgeistigen Determinismus provozieren konnte. Es ist das Profane des Drehens, das Richard Linklater mit großer Klasse re-enactet und zu einem eigentümlichen Leben erweckt, das auf einmal an den einen oder anderen Dreh erinnert, den wir alle irgendwann schon einmal gehabt haben. Linklater zeigt uns, was Godard immer schon auch mit uns selbst zu tun hatte. Denn im Moment, in der sie gemacht wird, ist Filmgeschichte in den seltensten Fällen als solche zu erkennen. Außer, vielleicht, man ist Jean-Luc Godard himself.
★★★½