Wieder seine Mutter: Dolan eigentlich wie immer.
Originaltitel: Mommy
Produktionsland: Kanada
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Xavier Dolan
Drehbuch: Xavier Dolan
Produktion: Xavier Dolan, Nancy Grant
Kamera: André Turpin
Montage: Xavier Dolan
Musik: Noia
Darsteller: Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément, Alexandre Goyette, Patrick Huard, Michèle Lituac, Viviane Pacal, Nathalie Hamel-Roy
Laufzeit: 134 Minuten
Die verwitwete Diane Després (Anne Dorval) ist die Mutter des gewalttätigen und zu Wutausbrüchen neigenden Steve (Antoine-Olivier Pilon). Sie findet neue Hoffnung, als eine neue Nachbarin, die junge und mysteriöse Kyla (Suzanne Clément), sich in ihren Haushalt einbringt. Gemeinsam gelingt es ihnen, Balance in die sensible Beziehung zu bringen und neue Hoffnung aufkommen zu lassen.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Auf der Preisverleihung des Cannes-Festivals 2014 standen mit Xavier Dolan und Jean-Luc Godard der jüngste und älteste Teilnehmer des offiziellen Wettbewerbs auf der Bühne als der Große Preis der Jury, also in gewisser Weise die Silbermedaille, verliehen wurde (Gold ging völlig verdient an Nuri Bilge Ceylans Meisterwerk „Winterschlaf„). Und auch wenn das nicht nur ein Unterschied von einer, sondern von gleich zwei, drei oder vier Regisseur-Generationen war, der dieselbe Auszeichnung erhielt, kann man Dolan und (den jungen) Godard durchaus als Künstler vergleichen. Dolan ist ebenso wie einst Godard ein Künstler, der mit großer Experemtierfreudigkeit Filme macht, die ein generationelles Gefühl ausdrücken. Die in gewisser Weise hip und chic sein wollen und deren Kunst genau im weitestgehend kompromisslosen Vollzug dieser Ambition liegt. Dolans Filme sind aber im Gegensatz zu Godard, dessen Experimentalismus immer auch interessante Interpretationsräume bietet, reine Bauchfilme. Das ändert sich auch mit „Mommy“ nicht. Ein Film, den viele als absolutes Highlight des Jahres 2014 ansehen, dessen viel postulierter Meisterwerkanspruch sich aber eben wiedermals nur im Bauch des Rezipienten bewahrheiten kann.
Ein knisternder Mutterkomplex
„Mommy“ beginnt sehr schwach. Die Gegenüberstellung der freakigen, gutherzigen Mutter mit dem unberechenbaren, asozialen Sohnemann, in dem aber auch nur ein tief liebendes Individuum steckt, wird mit einem Bombardement von Schenkel klopfenden Dialogen über Wichstücher, Kiffen usw. ausgebreitet. So etwas wie Subtilität im Charakterbau zeigt Dolan erst später mit der Figur der Kyla, die zunächst die Erwartungshaltung einer spießigen Nachbarshausfrau mit sich bringt, die gegen das grenzsoziale Mutter-Sohn-Paar im Nachbarshaus ankämpfen könnte. Aber es kommt glücklicherweise ganz anders. Kyla ist eine verunsicherte Lehrerin im Sabbat-Jahr, die nach emotionaler Nähe sucht und keinerlei Vorurteile gegenüber den Nachbarn hat. Und ehe man sich als Zuschauer versieht, hat sich eine Gruppe von Figuren zu einem Team zusammengefunden, das so als Gruppe sicherlich ungewöhnlich ist und gerade deshalb so gut funktioniert. Außerdem hat Kyla noch eine ganz andere Funktion in der Narration. Sie ist nicht nur ungefähr gleich alt wie die Mutter des Protagonisten Steve, sondern sieht abzüglich ihres grundverschiedenen Modeverständnisses seiner Mutter auch noch ziemlich ähnlich. Und das ist in einem Film, der so mit ödipaler Thematik um sich wirft, sicher kein Zufall. Kyla ist eine Art Ersatzmutter für Steve und das nicht nur als soziale Komponente, sondern ebenso als sexuelle. Ein knisternder Mutterkomplex durchzieht den ganzen Film und wird durch Kyla auf zwei Figuren ausgeweitet. Das ist an „Mommy“ das Interessante, das Psychologische. Das, was dem Film eine interpretative Option gibt, die aber eher dünn ausfällt.
Einfach erkaufte Emotionen
Denn ein Dolan-Film wäre kein Dolan-Film, wenn er sich nicht für andere Dinge viel mehr interessieren würde. Popmusik zum Beispiel. In „Mommy“ finden sich eine Menge weltberühmter Pop-Lieder, die auch in voller Länge ausgespielt werden, sodass „Mommy“ zu dreißig Prozent ein hübsch fotografiertes Musikvideo ist. Das sind ziemlich einfach erkaufte Emotionen, Monsieur Dolan.
Dass es Spaß macht der Gruppe beim Skaten zu Wonderwall zuzusehen oder in der Küche eine (tolle) Celine-Dion-Nummer mitzusingen, ist klar. Ein sehr einfacher Griff der Zuschauer-Manipulation. Das vermengt Dolan dann ästhetisch mit Zeitlupen, Zeitraffern und natürlich dem berühmten 5:4-Bildausschnitt, der genau zweimal in einen Widescreen-Ausschnitt verwandelt wird und ebenso schnell wieder zum kastenförmigen 5:4 zurückfällt. Das ist natürlich ein Konventionsbruch, der sich im Bereich charmanter Spielerei bewegt, die niemandem wehtut. Manche mögen das als Einfallsreichtum eines jungen Genies ansehen, andere als hipsteriges L’art-pour-l’art, das auch von einem Mediendesignstudenten stammen könnte, der dieselben ökonomischen Möglichkeiten eines Xavier Dolans zur Verfügung stehen hat.
Textuell eingesetzte Popmusik
Insgesamt ist „Mommy“ sicherlich ein guter Film. Die Schauspielführung ist für Dolans Alter tatsächlich beeindruckend. Der PopArt-Faktor bewegt sich in großen Schritten auf ein eigenes Markenzeichen hin, wo es eine Handschrift schon längst ist. Auch der Musikeinsatz ist in „Mommy“ interessant, da er geradezu textuell eingesetzt wird, wenn z.B. „Wonderwall“ sich auf die schwarzen Balken beziehen kann, die das Bild des Films umgeben oder „Born to die“ von Lana del Rey sich als interessantes Wortspiel gegenüber Steves Mutter erweist, die im Film ebenso „Die“ gerufen wird. Man sollte sich mit Meisterwerksuperlativen bei diesem sehr herz- und bauch- und — machen wir uns nichts vor — hipsteraffinen Film aber zurückhalten, denn davon ist die recht simpel und vorhersehbar gestrickte Dramaturgie des Films, sowie der süßlich unbeschwerte, aber wenig visionäre Einsatz von audiovisuellen Mitteln noch weit entfernt. Dolan wird uns vermutlich noch ganz andere Filme schenken. Auch gerne wieder über seine Mutter.
65%
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © Les Films Séville / Metafilms / Sons of Manual / Weltkino Filmverleih