
Aufgehobene Schätze.
Originaltitel: La chimera
Alternativtitel: –
Produktionsland: Italien, Frankreich, Schweiz
Veröffentlichungsjahr: 2023
Regie: Alice Rohrwacher
Drehbuch: Alice Rohrwacher
Produktion: Carlo Cresto-Dina, Remo Burkhard, Joseph Rouschop, Michel Merkt u.A.
Montage: Nelly Quettier
Darsteller: Josh O’Connor, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Giuliano Mantovani, Yan Tual, Salvatore Striano u.A.
Laufzeit: 133 Minuten
Eine Räuberbande durchstreift die toskanische Landschaft, immer auf der Suche nach den verborgenen Schätzen der Etrusker, nach Statuen, Masken, Gefäßen – nach Fragmenten einer Vergangenheit, die nur durch das Ausgraben zugleich gehoben und zerstört wird. Inmitten dieser Gemeinschaft: Arthur, ein britischer Fremder mit magischer Begabung, der mehr hört, mehr fühlt als die anderen. Für ihn ist jeder Fund nicht nur ein Stück Geschichte, sondern auch eine Versuchung, ein Spiegel, hinter dem die Erinnerung an seine verlorene Geliebte wartet. Zwischen archaischer Schönheit und dem zersetzenden Marktwert entfaltet sich ein Film über die Sehnsucht nach dem Ewigen, die Verführbarkeit durch das Flüchtige und über das Kino selbst als eine Art Grabkammer der Bilder, in der wir suchen, hoffen, verlieren.
Replik:
Ich habe „La Chimera“ im Kino gesehen und war so verzaubert, dass ich wusste, etwas zu dem Film schreiben zu müssen, dass dem reinen banalen Verliebtheitszustand übersteigt, um ihn gerecht zu werden. Wie ein jemand, der den tollsten Menschen der Welt datet oder aus dem fantastischsten Traum erwacht und nun der Welt gewillt ist, davon zu erzählen und beim Versuch der Reportage doch aufpassen muss, nicht in endorphintrunkene Allgemeinplätze zu verfallen. Glücklicherweise ist „La Chimera“ eiN Film, der wirklich von großer (auch theorisierbarer) Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit ist. Ich werde der Welt den Grund meiner Verliebtheit schon mit mehr noch beweisen als nur einem Grinsen.

Wo soll man anfangen, einen Film zu beschreiben, der eine Metapher auf das Kino selbst und noch so viel mehr ist? Diese Frage steht ganz im Zentrum von Alice Rohrwachers La Chimera: Ein Fundort ist zugleich ein Schauplatz – Grabräuber in Italien auf der Suche nach antiken Plastiken etruskischen Ursprungs. Und sobald der erste antike Schatz aus dem Boden gehoben wird, sind wir im Kino selbst angekommen: Wer hebt etwas, was bewahrt, was verkauft, was verwandelt sich – und was verliert Bedeutung? Rohrwachers Film ist weit mehr als narrative Reise, er ist eine ausgeklügelte Allegorie auf Bilder, auf Wert, auf Geschichte – und auf das Kino als Ort, an dem Bedeutungen aufgehoben und zugleich auf ewig verändert werden.
Schatzsuche als dialektisches Sinnbild
Im Zentrum steht eine Bande von Grabräubern – Menschen, die zugleich archäologische Entdecker und Marktspezialisten sind. Sie jagen archäologischen Relikten nach, die ihre Existenz aus dem Boden heben, um sie in den Markt zu tragen. Wie Rohrwacher inszeniert, ist jedes Fundstück ein dialektisches Objekt: Es besitzt einen eigentlichen Wert, der in seiner Erdgebundenheit, seinem Untergehen besteht – aber sobald es gehoben wird, mutiert es zum Tauschwert, zur Ware. Das ist politsoziologisch brisant: Italien, als ein Land mit einem reichen historischen Erbe, tanzt auf dem dünnen Grat zwischen Bewahrung und Kommerzialisierung – einerseits verwurzelt in jahrtausendealter Kunst, andererseits langlebig bedroht durch kriminelle Netzwerke, die diese Geschichte in Besitz nehmen und monetarisieren wollen. La Chimera zeigt diese Spannung im Mikrokosmos der Grabräubergruppe – eine politisch-historische Bewegung, verkörpert in Figuren, deren Handeln poetisch und pragmatisch zugleich ist.
Kino als Höhle – Licht, Schatten, Spiegel
Natürlich ist ein antikes Artefakt mehr als ein Objekt: Es ist eine Vermittlerin, ein Schlüssel in die Welt des Mythos, des Schattenspiels, der Höhle Platons. Rohrwacher führt uns in eine Höhle aus Licht und Schatten, das Kino selbst. Dort verhält sich der Film wie eine Höhle, in der Gestalten tanzen – antike Statuetten, Artefakte, Grabräuber, die entfesselte Gier des Marktes, die Magie des Augenblicks. Und im Streaming-Zeitalter, in dem der Originalwert schwindet, wird der Film zur Höhle des Markts, in der das Monumentale durch flüchtiges Geld ersetzt wird. In dieser Höhle feiert Rohrwacher die kindliche, komische Freude des Komplizentums – die Grabräuber, die im nächtlichen Arkadien graben, sind zugleich Verschwörer im angeregten Entdeckungsrausch. Doch Rohrwacher nutzt ihren Humor, um die Radien der Marktlogik anzudeuten, an deren Ketten sich die Figuren verheddern – die Freude bleibt, aber sie ist eingebettet in ein System, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.

Feministische Gegengesellschaft als stille Befreiung
Und da geschieht etwas Unerhörtes: Nur die Frauen innerhalb dieser Bande schaffen es, ganz unspektakulär, eine andere Ordnung zu schaffen – eine feministische Kommune, die im Kontrast zur marktorientierten Räuberbande steht. Diese Frauen wirken wie Stimmen des Widerstands: Sie sprechen kaum pathetisch, ihr Aufbegehren ist schlicht, zart, aber nicht minder wirksam. In ihrem harmonischen Zusammenleben, in ihrer kleinen Gemeinschaft, liegt das Paradies – nicht durch rhetorische Überhöhungen, sondern ganz natürlich. Rohrwacher zeigt, dass in der Stille, in der Intimität einer feministischen Verbindung das wahre Gegenmodell zu den marktdurchdrungenen Räuberstrukturen entsteht. Es ist eine leise anarchistische Geste – und sie ist zugleich heilend, utopisch, zärtlich.
Der Britische Eindringling – Magie, Spiegel, Sehnsucht
Mitten in diesem Mikrokosmos befindet sich die zentrale Gestalt: ein Brite, ein magischer Fremder, mit übersinnlichen Fähigkeiten versehen – und zugleich sehnsuchtsvoll hin ausgerichtet, weg. Er will nicht nur antike Artefakte heben – er will hinter den Spiegel blicken. Hinter den Spiegel, wo seine Geliebte wartet. Kino – das ist sein Spiegel; das ist die Sehnsucht. Er ist der einzige, der nicht bleibt, der nicht kauft, der nicht transformiert – sein Heil ist woanders. Seine Reise ist nicht die nach Wert, sondern die nach Bild und Magie: das Kino als Ort des Zurückkehrens, nicht des Abweichens. La Chimera wird so zum metareflexiven Kommentar auf Film selbst: Im Kino sind wir alle britische Eindringlinge – wir wollen keinen Wert, sondern Emphase, nicht Besitz, sondern Anschauung, nicht Endigung, sondern Ausdehnung. Hinter den Spiegeln des Bildes wartet, für uns, die andere Seite.
Kino als Kraft des Staunens
Alice Rohrwachers La Chimera ist ein Film, der alles sein will, was ein Film sein kann, um es dann zugleich zu sein: philosophisch, soziologisch, komisch, tragisch und – ja, magisch. Sie entwirft eine dialektische Bewegung aus Graben und Finden, aus Komplizentum und Widerstand, aus männlicher Gier und leiser weiblicher Utopie, aus Marktkraft und innerer Sehnsucht. Und ganz am Ende bleibt das Kino selbst: die Höhle, in der wir uns verlieren und doch finden. Wo wir hinter den Spiegel blicken, um einen Augenblick lang das wiederzuentdecken, was wir wirklich vermissen: Schönheit, Wunder, Verbindung. La Chimera ist kein Film, der einem hilft. Er ist ein Film, der einen belebt – und das ist die höchste Form des Kinos.
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