Scharfgestelltes Panorama Algeriens.
Originaltitel: Les Bienheureux
Alternativtitel: The Blessed
Produktionsland: Frankreich, Belgien, Katar
Veröffentlichungsjahr: 2017
Regie: Sofia Djama
Drehbuch: Sofia Djama
Produktion: Patrick Quinet, Serge Zeitoun
Kamera: Pierre Aïm
Montage: Sophie Brunet
Darsteller: Salima Abada, Faouzi Bensaïdi, Adam Bessa, Sami Bouajila, Nadia Kaci, Lyna Khoudri, Amine Lansari u.A.
Laufzeit: 102 Minuten
Algerien, einige Jahre nach dem Bürgerkrieg: Amal und Samir wollen ihren 20. Hochzeitstag feiern und gehen in ein Restaurant. Während des Essens erinnern sie sich an ihr Heimatland, wie sie es erlebt haben. Amal erzählt von Desillusionierung, Samir von der Wichtigkeit sich mit Dingen abzufinden. Währenddessen streunt ihr Sohn Fahim mit seinen Freunden Feriel und Reda durch ein Algerien, das gerade dabei ist sich wieder vor sich selbst zu verschließen.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Replik:
Sofia Djamas „Les Bienheureux“ war mein persönliches Highlight von Venedig 2017. Immer wieder gibt es diese Filme, die auf Festivals in Nebensektionen laufen, ohne großes Aufsehen zu erregen und die selbst wie im Fall von „Les Bienheureux“ beim Gewinn eines Preises, doch drohen im Nachhinein zu verschwinden und in Vergessenheit zu geraten. Das geht freilich mit einer Verantwortung des Zuschauers einher, über diese Filme zu reden und zu schreiben. „Les Bienheureux“ ist eine Momentaufnahme Algeriens nach dem Bürgerkrieg, der dem Land ein pessimistisches Zeugnis ausstellt, dafür aber die Menschen selbst mit einem philanthropischen Optimismus betrachtet. „Les Bienheureux“ ist ein präzise gezeichnetes Gesellschaftspanorama und gleichermaßen eine selten zu erlebende kathartische Erfahrung.
Männliche vs. weibliche Prinzipien
Djama wagt das schwierige Unterfangen eines gesamtgesellschaftlichen Panoramas, durch verschiedene Figuren die episodenhaft mit einander verbunden sind und parallel erzählt einen gemeinsamen Tag in Algier erleben. Zentral im Film ist die Frage nach der Richtung des Landes bzw. viel mehr nach der Orientierung(slosigkeit) in einem Land, das den Arabischen Frühling gut zwanzig Jahre länger hinter sich hat als alle anderen Länder Nordafrikas, dessen Hoffnungen auf politischen Umschwung aber umso weniger erfüllt wurden und in Resignation umgeschlagen sind. Der Frauenarzt Samir glaubt noch an sein Land, er verkörpert den männlichen Stoizismus, der den widrigen Umständen mit einem reinen Prinzip des Durchhaltens begegnet. Dem gegenüber seine Frau Amal, die das Land verlassen möchte, bzw. dies zumindest ihrem ständig bekifften Sohn Fahim ermöglichen möchte. Das erinnert in der Figurenkonzeption natürlich erstmal stark an „Nader & Simin“.
Bedeutungsschwangere Dialoge in spielerischer Leichtigkeit
Stilistisch lassen sich meines Erachtens aber eher Parallelen zur rumänischen New Wave ausmachen. Schnitttempo und der beobachtend-realistische Gestus des Kameras erinnern mich an Cristi Puiu. Die Schauspieler haben viel Raum, ihre Persönlichkeiten und ureigene Gesten einzubringen, trotzdem ist die Montage des Films nicht zerdehnt, sondern durchaus ökonomisch. Es geschieht viel in den 102 Minuten von „Les Bienheureux“, aber nie hatte ich das Gefühl, dass etwas zu schnell passiert, das ein Moment nicht ausgekostet wurde. Dieses schwer zu beschreibende Timing hat eine Menge mit Regietalent zu tun und in einer sehr frühen Szene zeigt sich das für mich exemplarisch: Da sitzen die drei Freunde Fahim, Reda und das Mädchen Feriel zusammen im Zimmer und rauchen Gras. Das Thema ihrer Diskussion ist unheimlich bedeutungsschwanger, es geht nämlich um die zunehmende Religiosität von Reda. Eigentlich sehen wir einige Minuten nur die authentischen und atmosphärerischen Momente herum späßelnder Teenager, die Gras rauchen. Trotzdem ist durch das Spiel der Schauspieler die tiefen Sehnsüchte der Figuren spürbar. Vor allem Redas Drang zur Religiosität, die von seinen Freunden Rahim und Feriel als Schwachsinn abgekanzelt werden, aber anstatt dies in einem klassischen Konflikt-Dialog zu exponieren, traut Djama dieser Szene zu, dass Reda durchaus mitlachen kann, dieses Verhalten der Freunde tolerieren kann und trotzdem spüren wir ganz tief seine Sehnsucht, in der Religion ein neues Heil zu suchen. Wir spüren seine Veränderung, obwohl wir die Figur noch gar nicht kennen.
Diskussionsforum: Religion
Die Trennlinie zwischen den beiden Fronten, dem Bürgerlichen und dem Proletarischen, verläuft wie so oft im Kino der islamischen Welt über die Religion. Aber anstatt sie als anachronistisches Übel zu deuten, wird sie diskutiert und in verschiedenen Kontexten mit den aufgeklärten Werten der bürgerlichen Protagonisten zur Kollision gebracht. In einer Szene treffen sich die drei Freunde mit anderen Jugendlichen aus eher unterer sozialer Schicht, um Gras zu rauchen. Dort ist man sich uneins darüber, ob Reda sich tatsächlich eine Koran-Sure tätowieren darf oder nicht. Einerseits ein Akt wahrer religiöser Verbundenheit, andererseits gilt ein Surentattoo einfach als haram. Hier wird implizit die Frage nach Reformation religiöser Dogmata verhandelt. Auch die Musik spielt hierin eine symbolische Rolle. Auch diese ist für sich stehend im wahabbitschen Verständnis haram, schon gar, wenn sie mit vulgären Texten daherkommt oder westlichen Musikgenres angehört. Das zitierte Musikgenre Taqwacore behauptet aber von sich selbst, halale Punkmusik zu sein. Und ganz unironisch scheint mir auch ein Punksong mit dem Titel „Sharia Law In The USA“ nicht zu sein. Selbstironie in der islamischen Religion? So etabliert ist das ja leider noch nicht. Reda steht vielleicht wirklich für einen refomierten Islam, was auch eine legitime gesellschaftliche Hoffnung in Algerien sein mag.
Ein Ehekonflikt als nationale Krise
Als staatlich institutionalisiertes System steht die Religion den Sehnsüchten der Figuren aber meistens im Weg, vor allem, wenn es darum geht, sich berauschen zu wollen. Graskonsum ist noch weit entfernt von gesellschaftlicher Akzeptanz, wie Fahim von Polizisten erwischt feststellen muss. Viel aussagekräftiger ist aber noch die parallel stattfindende Handlung zwischen den beiden Eheleuten Samir und Amal. Samir möchte nichts sehnlicher als mit seiner Frau einen guten Wein in einer öffentlichen Lokalität zu trinken. Es erscheint unmöglich; überall wird ihm darauf hingewiesen, dass Alkohol nicht an Frauen ausgeschenkt wird und Frauen in Bars unerwünscht sind etc. Samir bleibt hartnäckig und findet seinen Wein schließlich ausgerechnet (danke für die schöne Metapher) in einem Hotel! Wie ein Exil, eine Insel westlicher Gesellschaft, umgeben von muslimisch konservativer Gesetzlichkeiten.
Dieses Hotel wird zum Ort der ausgesprochenen Gedanken. Die beiden reden dort über ihre Ehe und das Land Algerien. Beides ist unweigerlich mit einander verbunden. Im Scheitern Samirs, seiner Frau beweisen zu können, dass Algerien ein Ort ist, um leben, aufwachsen, studieren, ja Alkohol trinken zu können, scheitert auch seine Ehe. All die in der Handlung bis hierhin bereits fein spürbar gemachten Traurigkeiten, Unzufriedenheiten, totgeborene Hoffnungen von Amal, seiner Ehefrau, brechen in einem öffnenden Dialog aus, der auf einmal das ganze Dilemma dieses Landes offenbart. Als ein Land des wertlos gewordenen Kampfes, ebenso wie auch ihre Ehe nur vom gemeinsamen Kampf zusammengehalten wurde. Es ist unheimlich stark, wie dieser tiefe Ehekonflikt nie als exaltierter Streit ausbricht, sondern immer eine rationale Diskussion zweier Erwachsener bleibt, dessen kleine Gesten in ein tiefes und exakt spürbares Meer verschiedenster Emotionen blicken lässt.
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