Sturzrevue & Kurzreplik — April ’24
G E S E H E N :
„La Chimera“ (Alice Rohrwacher, 2023): Einer der schönsten Filme des Jahres. Man wird von mir an anderer Stelle noch etwas darüber zu lesen bekommen.
„Angst“ (Georg Kargl, 1983): Diesen Film müsste man mit Freud, Lacan oder C.G. Jung sehen, denn es ist in der Tat eine ungewönhnliche Perspektive, einen Serienmörder aus der Psycho-Perspektive der Angst zu sehen. Geht es hier überhaupt um Angst? Die Morde werden hier eigentlich als eine Art Rausch geschildert. Fast wie auf chemischen Drogen, ironischerweise nicht unähnlich eines MDMA-Rausches (also einer Droge, die für Liebe und Zuneigung bekannt ist), hetzt sich das filmische Subjekt hier selbst von Mord zu Mord, scheinbar wissend, dass er alsbald wieder ins Gefängnis kommen wird. Mord ist hier Genuss mit einer Art wissentlichem Zeitlimit (wo wir wieder beim Drogenrausch wären). Obwohl ein Film über Mord, ist „Angst“ eigentlich eine der besten Filme über Rauschzustände. Die Kamera tut ihr übriges: in abgefahrenen Fahrten und „Hangeleien“ entreißt sie das Gesehene einem neutralen Realismus und macht es zu einer rauschhaften Ultrasubjektive. Nur in dieser Hinsicht, in dem man den Film dezidiert als Rausch liest, kann man dem kreativen, teils technisch hoch anspruchsvollen Kameramodus einen für die Handlung sinnhaften Einsatz attestieren. Die schauspielerischen Leistungen sind schlecht, holzschnittartig, aber auch hier lässt sich das Eingefangene aus einer Rausch-Ultrasubjektiven durchaus verlustfrei plausibilisieren. Dennoch führt es dazu, dass man diesen brutalen Skandalfilm mit genügend Abstand zum realen Hintergrund der Geschichte auch durchaus als eine Komödie sehen könnte. Jedenfalls dann, wenn man den psychischen Modus eines Rauschhaften identifiziert und ihn gleichwohl — wie es ein solcher Film ermöglicht — von Außen betrachtet. Noch einmal zurück zur „Angst“. Ja, in „Angst“ geht es auch um Angst und nicht nur um Rausch, zumal sich beides nicht ausschließen muss. Die Angst, als im Gegensatz zur Furcht nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtete Emotion, ist ja ein Unbehagen gegenüber der reinen Existenz. Wir haben im Endeffekt Angst vor der Existenz, weil sie unendlich scheint und es zu Ende gedacht und frei nach Nietzsches Übermenschen keine moralische Letztbegründung unseres Daseins, geschweige der Eingrenzung unserer Taten gäbe. Und natürlich ist hier der Serienmord die radikalste Form dessen, was man als Ausdruck einer transzendentalen Angst vor der endlosen Schlucht der menschlichen Existenz und ihrer Sinnlosigkeit bezeichnen könnte und für das Georg Kargl mit einem gleichermaßen trashigen wie handwerklich alleinstellungsartigen Unikat von Film hier wider aller Hindernisse seiner Zeit geschaffen hat.
„The Taste Of Things“ (Trần Anh Hùng, 2023): Diesen Film hätte Dieter Kosslick natürlich gerne auf die Berlinale geholt, um ihn in seiner Reihe „Kulinarisches Kino“ zu zeigen; Spaß beiseite. Ich kann wenig Gehaltvolles zu dem Film sagen, da ich ohne Schlaf und am Auskatern den Film gesehen und geträumt habe. Ich kann aber an Ungehaltvollem sagen, dass es schöne zwei Stunden waren. Ewiges Kochen, ewiges Reden, keine großen Storywendungen, die man verpassen würde, wenn man einmal die Augenlider zu lange schließt. Das soll kein hämischer Kommentar sein. Ich halte es absolut für möglich, dass man in dem sehr radikal-kulinarischen Feingeistkinofilm „The Taste Of Things“ seine gewichtigen Blicke findet und verborgene Gefühle spürt, aber ich habe den Film in gewissermaßen als Soulfood eines Übernächtigen ausgenutzt.
„Klassenverhältnisse am Bodensee“ (Ariane Andereggen, 2022): Rotziger eigenwilliger Videoessay über ziemlich genau: Klassenverhältnisse am Bodensee. Manchmal wütend, ratlos, rastlos.
„Slow“ (Marija Kavtaradze, 2023): Ich bin ein großer Fan von Marija Kavtarazdes Film „Summer Suvivors“ und als dann „Slow“ in Sundance und Co sogar einen internationalen Hype erfuhr, waren die Erwartungen an diesen Film meinerseits schon immens. Es ist auch ein schöner Film, der aber um sein betont kleines und liebenswertes Thema der asexuellen Liebschaft, doch dramatisch auch sehr brav und konventionell arbeitet. So habe ich das, was Kavtaradze bei „Summer Survivors“ unnachahmlich gut gemacht hat, einfach Menschen beim Menschsein zuzusehen, ein bisschen weniger gespürt, und ja, auch ein bisschen das Schauspiel dahinter gesehen.
„Evil Does Not Exist“ (Ryusuke Hamaguchi, 2023): Hamaguchi ist ein grenzenlos begabter Regisseur, der verschiedene Spielregeln des filmischen Erzählens beherrscht und je nach filmischen Vorhaben gegeneinander mischen kann. „Evil Does Not Exist“ ist in vielerlei Hinsicht eine Rückkehr zu seinen früheren Filmen, die noch halbe Dokumentarfilme waren, aber im (vielleicht) entscheidenden Moment dreht Hamaguchi dann doch noch einmal auf links und mischt Mistery- und Thrillersegmente in seine Erzählung. Vieles bleibt vielleicht selbst für Hamaguchi nur intuitiv verständlich, „Evil Does Not Exist“ ist sperrisch, ein bisschen rätselhaft und … so viel kann man zumindest mit Gewissheit sagen: ein ganz schön, nunja, blauer Film.
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