Sturzrevue & Kurzreplik — Juni ’24
G E S E H E N :
„And Your Bird Can Sing“ (Sho Miyake, 2018): Sho Miyake ist einer der vielversprechendsten Regisseure, wenn es um die Darstellung komplexer menschlicher Annäherung geht. Der Alltag ist das Spielfeld, wo ihm durch präzise Momenteinkreisungen eine Immersion des Zwischenmenschlichen gelingt, die sich normalerweise filmischem Ausdruck eher entzieht. Obwohl alle seine Filme Romanaptionen sind, findet Miyake überwiegend genuin filmische Formen, die aber in literarische Genauigkeit erinnern. „And Your Bird Can Sing“ ist hierfür bereits Demonstration eines Stils, den er in „Small Slow But Steady“ und „All The Long Nights“ perfektion würde, aber hin und wieder erkennt man doch, dass noch nicht jede filmische Geste zündet und der eine oder andere Blick noch ins Leere geht.
„Supermarkt“ (Roland Klick, 1974): Es ist eigentlich aberwitzig, wie man den politischen Gehalt von Roland Klicks „Supermarkt“ (zu seiner Zeit) nicht sehen wollte. So schreibt etwa das Lexikon des internationalen Films „Handwerklich erstaunlich routinierter Thriller von Roland Klick, der sich um geradliniges, emotionales Genrekino bemüht, das eher auf Identifikation als auf kritische Reflexion setzt“ oder Kay Weniger, der bemerkte, „Supermarkt“ sei „eine schonungslose (…) Gesellschaftsbetrachtung (…) ohne den für diese Zeit typischen, autorenfilmüblichen (…) sozialkritischen Ansatz.“ Natürlich kann man „Supermarkt“ als einen spaßigen Milieu-Actionfilm mit markigen Sprüchen und skurrilen Figuren gut herunterkonsumieren, aber im Grunde ist der Film auch ein geradezu brechtianisches Theaterspiel. Die Hauptfigur Willi ist ein Proletarier, der in seine Verhältnisse hineingeboren wurde. Fortan buhlen verschiedene, eindeutig allegorisch lesbare Parteien darum, ihn auszunutzen, bzw. ihre Interessen auf ihn, das „proletarische Subjekt“, zu projizieren. Da gibt es die sozialistisch orientierte Presse, die skrupellose, dauerbetrunkene und herumfluchende Unterwelt, das hedonistische Bürgertum (das hier schon in Form eines queeren Lebemannes recht gut anschlussfähig an die Gegenwart dargestellt wird) usw. Willi selbst steuert ziemlich ziellos durch die Welt, die ihm überall nur Fallen zu stellen scheint und wird schließlich auch in einen Überfall auf einen Geldtransporter hineingezogen, der nicht zufällig auf dem Parkplatz des namensgebenden Supermarktes steht (ein 1974 noch sehr junges Marktkonzept, aber damals wie heute natürlich ein Symbol des kapitalistischen Fortschrittsversprechens). Diese legendäre Sequenz, in der zunächst eine Müllabfuhr den Fluchtweg versperrt und die Räuber dann mit einem Kleinwagen vollgepfropft mit Konsumgegenständen türmen müssen, ist natürlich nicht unabsichtlich mit Chiffren des westdeutschen Aufstiegsversprechen determiniert. Natürlich hat diese Sequenz auch etwas (unfreiwillig) Komisches, aber die Patina, die ein solch rotziger Film über die Jahre entwickelt — vergleichbar mit der einer Punkrock-Vinyl — ist doch beachtlich und zahlt äußerst positiv auf Filme Roland Klicks, insbesondere auf „Supermarkt“ ein. Bertolt Brecht ist 1956 gestorben; hätte er länger gelebt, vor allem aber wäre er in die 70er Jahre hinein noch ein junger Mann gewesen, es wäre doch interessant geworden, was er zu einem Film wie „Supermarkt“ gesagt hätte.
„Will-o‘-the-Wisp“ (João Pedro Rodrigues, 2022): Inwiefern hier das Absurde, Überhöhte, Burleske metaphorisch ins Schwarze trifft oder nicht, müsste man sich nochmal genauer ansehen. Aber dafür war es wohl einfach zu wenig mein Cup of Tea als dass ich das wohl jemals tun würde.
„Cruising“ (William Friedkin, 1980): Wie „French Connection“ sind William Friedkins Thriller nicht nur Genrefilme, sondern auch Zeitkoloritfilme, die mit einem gewissen sozialrealistischen Anspruch ihre (urbanen) Räume durchmessen. In Zeiten, in denen LGBTQ-Szenen in westlichen Metropolen noch keine bürgerlich dominierte Safe Spaces, sondern ziemlich roughe Orte mit undurchschaubaren Regeln waren, hat „Cruising“ damit eine Koloritdimension, die bereits heutzutage historisch ist. Allerdings dürfte auch eine gute Spur externer Überhöhung und Stilisierung anwesend sein, die auch schon zu seiner Zeit wegen zu negativer Darstellung der Szene kontrovers diskutiert wurde. Dabei ist das dramatische Spannungsmodell in „Cruising“ immer noch brillant gedacht. Um einen Mörder zu finden, der es auf Schwule abgesehen hat, muss der von Al Pacino gespielte Kommissar sich selbst als schwul maskieren, um verdeckt zu ermitteln. „Cruising“ bezieht seine Faszination also aus einer Welt, in der der Protagonist gleichermaßen Jäger und Gejagter ist, als eine Reise in eine sinistre Welt, in der völlig unklar ist, ob man nicht vielleicht schon längst gesehen und erkannt wurde.
„Schöne Tage“ (Fritz Lehner, 1981): Der Dreh mit Laien war dazumal ein wesentlich weniger erforschter filmischer Drehmodus als heutzutage, zumindest im österreichischen Film. Natürlich muss man hier immer auf Bresson verweisen, der mit seinen Modellen wesentliche Vorarbeit auf dem Gebiet geleistet hat und tatsächlich erinnern die schauspielerischen Darbietungen in „Schöne Tage“ eher an das etwas steife, puppenartige Spiel von Bressons Modellen als an modernes Laienspiel, das Dinge eher versucht, in spontane Improvisationssituationen aufzulösen. Aber ähnlich wie Bresson (oder, wenn man so will wie bereits der sowjetische Revolutionsfilm der 20er Jahre) geht es auch Fritz Lehner in seinem Anti-Heimatfilm darum, das unverbrauchte Gesicht (sowie seine Stimme, sein Habitus) des Landarbeiters zu zeigen, um auch sein politisches Potenzial zu agitieren. „Schöne Tage“ ist ein großes, sperriges Werk, das seine Handlung immer wieder mit langen Momenten des Arbeitens und Zusehens des lebensalltäglichen Daseins unterbricht. Auch wenn vielleicht die großen emotionalen Momente des Films nicht von der schauspielerischen Brillanz des durchprofessionalisierten Kinos des Establishments mithält, besticht „Schöne Tage“ durch einen radikalen, dezidiert sozialistischen und antibürgerlichen Gestus.
„Ivo“ (Eva Trobisch, 2024): Nachdem Eva Trobisch mit „Alles ist gut“ in Locarno lief, der zweifellos sehr gut, aber seiner Form nach auch sehr filmhochschulabschlussartig-normal gewesen ist, ist „Ivo“ nun viel mehr Form als Erzählung. Einem strengen Schnittprinzip, demnach jede Einstellung nicht länger als 30 Sekunden zu dauern dürfen scheint, folgen wir Leben und Lieben der gleichnamigen Palliativpflegerin, ohne dass sich Trobisch wirklich für etwas in ihrer dargestellten Welt nachdrücklich zu interessieren scheint. Informationen werden spärlich vergeben, manchmal von der Montage abgeschnitten oder vom Set-Ton unverständlich gemacht. Das Verhältnis von Cadrage zur Länge der Einstellung hält den bedingungslosen Primat vor der Handlung. Schanelechaft soll die Form herausfordern, zur Suche nach Verborgenem animieren. Aber mir wäre die mondäne Arbeitswelt der Palliativpflege schon genug gewesen, um zu versinken, abzudriften, meine eigene Suche zu beginnen. Zu sehr war ich aber abgelenkt von der Suche, die man mir aufgezwungen hat.
Eureka (Lisandro Alonso, 2023): Für eine endgültige Bewertung dieses filmischen Gegenstandes fehlen mir Erfahrungen von anderen Lisandro-Alonso-Filmen, so völlig klar ist es, dass dieser Film sich nur eingebunden in ein Gesamtwerk wirklich sehen und verstehen lässt. Und dennoch! Das ästhetische Einkreisen eines Gegenstandes (das ist ein sehr schönes R.D.-Precht-Kurzzitat über das Wesen des Essays) sehen wir zum Thema Kolonialismus und das ganz ohne den narrativen Spielfilm dabei zu suspendieren. Einzig mit der Technik der Gegenüberstellung und — wenn man so will — „magischen“ Verlinkung von drei sehr unterschiedlichen Erzählstränge erzeugt Alonso einen großen Assoziationsraum. Und im Gegensatz zu seinen (von mir ebenso sehr wertgeschätzten) KollegInnen von El Pampero Cine scheint mir Alonso dabei noch einen größeren Wert darauf zu legen, dass seine Erzählsegmente auch eigenständig wirken, filmisch wertig und atmosphärisch eindrücklich sind, und nicht „nur“ als gestikale Architektur funktionieren, wie man das dem Pampero-Ansatz teilweise vorwerfen kann. Warten wir’s ab, aber ich sage vorweggreifend: Ich mag das Kino Lisandro Alonsos!
„Radical“ (Christopher Zalla, 2023): Egal, wie widrig die Umstände, die menschliche Neugierde kann aus jeder Armenhaustochter potenziell eine Nobelpreisträgerin machen. Den guten Absichten des Films kann man wenig vorwerfen. Zwar meint man die Geschichte des gutmütigen Lehrers, der seine Problemschulkinder nicht aufgibt und mit unorthodox-liberalen Methoden die Neugierde der Kinder weckt, schon einige tausend Mal irgendwo gesehen zu haben, dennoch ist diese „wahre“ Geschichte natürlich erzählens- und — wenn man so will — propagierenswert. Das Problem von „Radical“ ist ganz und gar seine abgestandene, uninteressante Form. Jede Wendung, jede schauspielerische Geste, jeder Schnitt, jede Einstellung sind schonmal genauso gesehen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner mit dem Filmgeschichtsstandard herabnetflixisiert. Mittelmäßig inszenierter Bildungskitsch und Absichtskino.