Go West. Go East? Go Anywhere.
Originaltitel: 山河故人, Shānhé gùrén
Produktionsland: Volksrepublik China
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: Jia Zhangke
Drehbuch: Jia Zhangke
Produktion: Patrick Andre, Rémi Burah, Shôzô Ichiyama, Jia Zhangke, Nathanaël Karmitz, Shiyu Liu, Olivier Père, Zhong-lun Ren, Yûji Sadai, Wanli Xing
Kamera: Nelson Lik-wai Yu
Montage: Matthieu Laclau
Musik: Yoshihiro Hanno
Darsteller: Zhao Tao, Sylvia Chang, Zhang Yi, Dong Zijian
Laufzeit: 131 Minuten
Kurz vor der Jahrtausendwende in Fenyang: Zwei Männer buhlen um die Gunst von Tao (Tao Zhao). Alle drei sind zudem Jugendfreunde. Während einer der Männer es durch Ehrgeiz schafft, sich finanziell abzusichern und das Herz von Tao erobert, führt das Schicksal des anderen in ein freudloses Leben. Nach der Heirat und der Geburt eines Sohnes wird Tao nicht glücklich und schon bald folgt die Scheidung. Der Vater soll nun das Sorgerecht bekommen und er plant auch schon die Zukunft seines Sohnes in Australien, was Tao das Herz bricht. Mountains May Depart besteht aus drei Teilen, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behandeln.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Die Village People brachten 1979 den Song „Go West“ heraus, der (ersichtlich durch ihre Performance und ein Western-Zitat) auf den amerikanischen Aufbruch an die West Coast anspielte. In den 90ern brachten die Petshop Boys einen Disco-Remix heraus, der wesentlich erfolgreicher wurde, obwohl man den Text nicht mehr verstehen konnte, er eine furchbare Melodiosität hatte (die sinnbildlich später von Fußball-Fans missbraucht wurde und heute hauptsächlich als „Steht auf wenn ihr XYZ seid“ bekannt ist) und zu guter Letzt die politische Post-Kalter-Krieg-Situation ausnutzte, um im Musikvideo die Go-West-Thematik etwas despektiertlich in einen Aufruf für die Post-Sozialisten ins gelobte, kapitalistische Land aufzubrechen, umkonnotierte. Was hat das nun mit Jia Zhangke zu tun? Der chinesische Regisseur hat dieses furchtbare Lied nun zum Titelsong seines neuen Films gemacht, zwar zusammen mit einem kantonesischen Chanson-Stück, aber der Disco-Hit der Petshop Boys framt diesen Film, ist erster und letztes Musikstück des Films, und er gibt auch die Thematik vor. Hier geht es um die chinesische Gesellschaft und ihr Verhältnis zur westlichen Gemeinschaft und wo Zhangke schon immer chinesischer Chronist war, wagt er hier einen drei Zeiten (90er, Gegenwart und 2025-Zukunft) überdauernden, epochalen Schlag, der nicht immer voll und ganz trifft, aber dennoch unterhaltsam und kreativ zur Reflexion über China und seine Rolle in der Welt einlädt.
Schablonenhafter Beginn
Das Besondere an „Mountains May Depart“ ist sein Verzicht auf einen klaren Protagonisten, bzw. haben alle drei Zeitepisoden eigene Protagonisten, obwohl sie alle mit einander verknüpft sind und von derselben Gruppe von Menschen handeln. Der Film beginnt Ende der 90er Jahre in einer recht klischeehaften Episode (auch „Touch Of Sin“ von Zhangke hatte ja seine schlechtesten Momente am Film-Anfang). Der gutherzige Arbeiter Liangzi und der reiche Kapitalist Jinsheng buhlen um dasselbe Mädchen. Letztlich bekommt es der reiche Jinsheng aus verständlichen Gründen: der finanziell aussichtsreicheren Lage. Zweifelsohne sind in China und der Welt schon viele Ehen auf diese Weise entstanden. Die Figurenzeichnung Jinshengs als militantes, uneinfühlsames, erfolgsgeiles Arschloch entbehrt aber jedem Feingefühl, auch der sanfte Arbeiter Liangzi bleibt ein blasses Klischee. Die Frau Tao, um die gebuhlt wird, ist am Anfang der Erzählung auch noch ein schwer nachvollziehbares Objekt der Begierde. „Mountains May Depart“ fängt ziemlich schwächlich an und dann schockt uns Zhangke auch noch mit einem angetäuschtem Abspann.
Diese 90er-Episode erzählt auch nichts Neues über China, das war nicht schon so oder so ähnlich aus anderen (Zhangke-)Filmen erfahren hätten. Der kapitalismusbegeisterte Jinsheng kauft sich einen deutschen Wagen und steigt damit rasant auf, während der romantische Arbeiter sich damit begnügt, seine Arbeit im Bergwerk stoisch zu ertragen, also dem Lebensstil des Sozialismus noch anhaftet und damit gnadenlos überholt wird. Jinsheng heiratet und schwängert schließlich Tao und Liangzi zieht als Gastarbeiter aus der Heimat fort, nachdem das Bergwerk, in dem er arbeitet, von Jinsheng aufgekauft wurde. Gerade das geschwinde erzählerische Tempo im Zusammenhang mit der rudimentären Figurenzeichnung macht diese Episode wenig nachvollziehbar und äußerst schablonenhaft.
Zukunftsszenario ohne sozialdramatische Steifheit
In der Gegenwart angekommen entzieht sich der Film seiner Vereinfachung und rückt die Frau Tao ins Zentrum, die mittlerweile von ihrem Mann geschieden lebt und mit ihrem Sohn konfrontiert wird, der ein englisch sprechender Elite-Schüler geworden ist, obwohl erst sechs-sieben Jahre alt. Die Einsamkeit Taos, ihre verzweifelte Mütterlichkeit und vom Sohn als minderwertig angesehene Kleinbürgerlichkeit macht der Film fühlbar und zum empathischen Zentrum des gesamten Films. Als der Film dann ins Jahre 2025 springt und nur noch das Schicksal des Sohnes „Dollar“ thematisiert, vermisst der Zuschauer immer noch die Mutter und ihre Übereinkunft mit dem Kind. Im Zukunftsszenario wird Zhangkes Film erst so richtig gewagt, verspielt und frei von aller sozialdramatischen Steifheit. Gerade der schwer zu greifende, immer wieder Figuren fallen lassende Narrativstil, gepaart mit den politisch gefärbten Zhangke-Tableaus und den comichaften, stilisierten Charakter-Zeichnungen machen „Mountains May Depart“ verdaulich, aber auch angreifbar.
Suchbewegungen nach Heimat
Brillant wird Zhangkes Werk leider nie, aber sein Anspruch ein jahrzehnteübergreifendes China-Porträt zu zeichnen, ist trotzdem beachtlich. Hier geht es immer wieder um Suchbewegungen. Suche nach einer alten oder neuen Heimat, nach einer alten oder neuen Identität, im Falle von Dollar, der Sohn Taos und Jinshengs, anhand seiner sprachlichen Fähigkeit. Er spricht zwar perfekt Englisch, aber kein Chinesisch mehr. Metaphorisiert anhand der Suche nach der Mutter (auch über die erotische Annäherung zu einer Mutterfigur, seiner deutlich älteren Englisch-Lehrerin) verspürt Dollar aber doch einen Reiz, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Ist die Internationalisierung Chinas eine kulturelle Falle? Aber droht sie überhaupt? Muss man sich nicht eher vor einer Chinesierung der Welt fürchten? Dadurch, dass das Zukunftsszenario von „Mountains May Depart“ aber in Australien und nicht in China spielt, wird diese Frage gar nicht so richtig beantwortet. Und wer weiß. Vielleicht ist diese letzte Episode ja auch nur sowas wie eine Fantasie einer im Schnee tanzenden Mutter — im China der Gegenwart.
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