Ein sprachloser Film. Iñárritus Meisterwerk ist ein eigengesetzes Denkmal auf den Episodenfilm.
Originaltitel: Babel
Produktionsland: Frankreich, USA, Mexiko
Veröffentlichungsjahr: 2006
Regie: Alejandro González Iñárritu
Drehbuch: Alejandro González Iñárritu
Produktion: Steve Golin, Alejandro González Iñárritu, Jon Kilik
Kamera: Rodrigo Prieto
Montage: Douglas Crise, Stephen Mirrione
Musik: Gustavo Santaolalla
Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Gael Garcia Bernal, Koji Yakusho, Rinko Kikuchi, Elle Fanning, Adriana Barraza u.A.
Laufzeit: 142 Minuten
Ein Schuss in der Wüste von Marokko ist das auslösende Moment einer ganzen Kette von Ereignissen, die vier Schicksale von unterschiedlichen Menschen auf drei Kontinenten miteinander verbindet: Da ist ein amerikanischer Tourist, der in Marokko um das Leben seiner schwer verletzten Frau kämpft. Ein mexikanisches Kindermädchen, das verzweifelt versucht, die Grenze mit ihren beiden amerikanischen Schützlingen zu überqueren. Ein taubstummer japanischer Teenager, der gegen den eigenen Vater und dessen mysteriöse Vergangenheit rebelliert. Und zwei kleine Jungs auf der Flucht vor der eigenen Verantwortung. Geschichten und Schicksale, die nur scheinbar keine Verbindung haben.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 13.06.2013)
„Es ist die Meldung des Tages. Die ganze Welt verfolgt die Ereignisse.„
Gonzalez Iñárritus furiosen Abschluss seiner Episodenfilmtrilogie, die mit größerem Handlungsraum (Mexiko, USA, Welt) auch kontinuierlich an Qualität zulegt, überhaupt zu zitieren, ist im Grunde sinnlos. „Babel“ ist ein Film, der das Versagen menschlicher Kommunikation zur Aussage hat, uns die Wertlosigkeit unserer Sprache aufzeigt, die wir Menschen so zum Kulturgut und zur entscheidenden Unterscheidung vom Tier erklärt haben. Dabei ist neben der zum Mythos des Babelturmbaus gehörigen Zerstreuung der Sprache auch das allgemein unzureichende kommunikative Potenzial von Sprache herauszustellen — und das inmitten eines weltpolitischen Status Quos, der den menschlichen Eigenstolz wie kein zweites Beispiel provoziert: Die globalisierte, sozial und ökonomisch vernetzte Welt des 21. Jahrhunderts, inklusive eines beachtlichen Beinahe-Weltfriedens.
Wege und Motive der Kommunikation
Umso näher der Film ums Epizentrum des gefallenen Schusses kreist, desto wortkarger werden die Menschen, die angesichts von Leben und Tod nur noch hektische, verzweifelte Worte aus dem Mund werfen, wohingegen die Tränen, Schweißperlen und Gestiken der Verzweiflung viel aussagekräftiger sind als Vokale und Konsunanten. „Babel“ reiht Kommunikationen aneinander, die scheitern oder einen alternativen, unvokalen Weg einschlagen. Manchmal erreicht erst zweiterer den Menschen wirklich, wie eine Umarmung oder das Teilen einer Tabakpfeife, manchmal artikuliert sich dieses kommunikative Ausweichen aber auch in dem schlimmsten wozu der Mensch fähig ist: Der Gewalt. Iñárritu zeigt beides und stellt es ebenso wortkarg gegenüber, wie seine ganz und gar menschlichen Figuren bei ihren Versuchen sich zu erreichen. Dabei sind alle Menschen des Films im Grunde von Liebe und Zuneigung getrieben und handeln aus ebenjener Motivik. Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und die politische Lage verhindern und verzögern jedoch immer wieder eine rettende Hilfeleistung.
Jeder ist Teil der Kausalkette
Die japanische und mexikanisch-amerikanische Episode des Films nimmt die Hektik der Marokko-Vorgänge raus, um für das Schicksal der amerikanischen Touristen zu sensibilisieren, aber auch um weitere Formen scheiterender Kommunikation vorzustellen. An der amerikanischen Grenze wird vorverurteilend gedacht, inhuman gehandelt, das stumme japanische Mädchen versucht Sprache durch verzweifelte körperliche Annäherung zu kompensieren. Man könnte Kritik äußern, dass diese Episoden zu weit entfernt von der Haupthandlung seien, konstruiert wirkten. Aber genau das sind sie nicht. Iñárritu wählt die vor allem in der japanischen Episode auffällige Distanz zur Haupthandlung um auszudrücken, dass alles und jeder ein Teil des globalisierten Kausalnetzes ist, jeder ein Teil, der Menschheit ist, die tagtäglich kommunikativ scheitert, wenn es wieder Krieg und Konflikte auf der Welt gibt. Jeder Mensch, der vor dem Radio sitzt und von einer in Marokko verletzten amerikanischen Touristin hört, ist unweigerlich ein noch so kleiner Teil der globalen Kausalkette. Die japanische Episode ist ohnehin die vielleicht spannendste, da sie mit einem angedeuteten Selbstmord der Mutter noch weitere Interpretationsansätze liefert, wie sich dies auf die Psyche des stummen Mädchens auswirkte oder sogar auf das Jagdhobby des Vaters, welches letztlich zum Vorfall in Marokko führte. Iñárritu schafft es, den wichtigen Eindruck zu erwecken, dass jede noch so kleine Entscheidung einen globalen Effekt haben kann. Dass die menschgemachte Welt zu soviel fähig ist, an dem man selbst einen so großen Anteil haben kann und doch so wenig ausrichten kann, weil man schon in kleinster Konversation durch die Imperfektion menschlicher Sprache scheitert.
Die Welt als Schauplatz
„Babel“ ist das eigengesetze Denkmal auf den Episodenfilm, der Mitte des 2000er-Jahrzehnts zur Mode von Sozialdramen wurde. Der Film stellt sich vor die große Herausforderung die ganze globalisierte Welt als Schauplatz des Geschehens zu machen und meistert es ohne in Gigantismus zu verfallen eindrucksvoll. Jeder Mensch ist gleich. Gleich macht- und bedeutungslos vor der Schicksalsfrage tot oder lebendig — vor Gott, wenn man so will. Wenn man den Film religiös auslegt, was man machen oder auch sein lassen kann. Iñárritu lässt gekonnt eine religiöse Note mitschwingen, ohne auch nur im Ansatz in Idealismus zu verfallen. So ist „Babel“ eine ambivalent auslegbare, meisterhaft inszenierte Wucht des Realismus, die unvergessen und zeitlos bleibt. Ein famoses Meisterwerk ohne jegliche Schwäche. Es sind mehr die Bilder und weniger die Worte die bleiben. Mehr die Empfindungen, das Scheitern und Siegen gegen das Schicksal. Und die letzte Umarmung auf dem Balkon in einer 35-Millionen-Einwohner-Metropole. Glitzernde Lichter. Ich bin sprachlos — wie dieser Film.
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