Konstruktionen eines Coming-of-Age-Feminismus in eindrucksvoller Konsequenz.
Originaltitel: Bande de Filles
Alternativtitel: Girlhood, Band Of Girls
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch: Céline Sciamma
Produktion: Bénédicte Couvreur
Kamera: Crystel Fournier
Montage: Julien Lacheray
Musik: Jean-Baptiste de Laubier
Darsteller: Karidja Touré, Assa Sylla, Lindsay Karamoh, Marietou Touré u.A.
Laufzeit: 113 Minuten
Die 16-jährige Marieme (Karidja Touré) wächst im Nord-Westen Paris’ auf. Überall stößt überall auf Verbote, während sie an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Zwischen gesellschaftlichen Kategorien und Schubladendenken ist es gar nicht einfach, seine eigene Identität zu erkennen, doch dann stößt Marieme zu einer Gruppe von Mädchen, die ebenso freiheitsliebend sind wie sie selbst. Marieme passt sich den Regeln der Straße an, um ihre Jugend und die erste Liebe zu genießen.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Ein integrationsdiskursiver Film, ein Sozialdrama über den Status Quo schwarzafrikanischer Migranten in Frankreich, ist „Bande de filles“ höchstens auf den ersten Blick. Vielmehr macht die Regisseurin Céline Sciamma da auf, wo sie mit ihren Vorgängerwerken „Water Lilies“ und „Tomboy“ angefangen hat. Mutiges Gender-Kino, gezielt in Coming-of-Age-Dynamiken verfrachtet, um sein Anliegen noch greifbarer zu machen. An „Bande de filles“ beeindruckt seine unnachgiebige Konsequenz. Jede Szene dieses klug geschriebenen Films folgt einer klaren Agenda.
Nicht Migration, sondern Feminismus im Fokus
Einerseits ist die Protagonistin Marieme des Films zwar eine afrikanisch-stämmige Migrantin in einem ebenso migrationsreichen, zumeist schwarzen Umfeld, zudem wird angedeutet, dass es sich bei der Familie von Marieme um Muslime handelt (ihr Bruder hat den arabischen Namen Djibril). Aber ausgiebige Thematisierung des sozialen Aspekts sieht trotzdem anders aus. Wir erfahren z.B. erst gar nicht, in welchem afrikanischen Land Marieme ihre Wurzeln hat, das Berufsleben ihrer Familie und ihre schulischen Erfolge werden sehr spärlich angeschnitten, das Milieu von „Bande de filles“ wird als selbstverständlich angenommen. Es muss gar nicht weiter erläutert werden. Sicher, weil es dem (französischen) Zuschauer eh schon genug bekannt ist, aber eben auch, weil der Schwerpunkt des Films ein feministischer ist.
Ein Recht auf sexuelle Bestimmung
Erstens sehen wir hier einen verteidigenden Feminismus, der unter der Attacke patriarchalischer Kräfte steht. Mariemes Bruder Djibril übernimmt im Prinzip eine Vaterrolle für die Familie, sowohl im Positiven als starker, erwachsener Mann, aber auch, und das wird hier deutlicher akzentuiert, im Negativen als bestimmendes Familienoberhaupt, das sein Verständnis von Recht, Ehre und Ordnung zur Not mit Gewalt, physischer wie psychischer Form durchsetzt. Djibril ist kein Unmensch, er handelt auch nur nach seinen traditionellen Vorstellungen und aus Angst, dass die Familienehre im Block auf dem Spiel stehen könnte. Trotzdem ist er ein Antagonist. Marieme muss sich gegen ihn durchsetzen und das vor allem im Hinblick auf sexuelle Selbstbestimmung. Marieme ist 16 Jahre alt und in Ismaël verliebt. Ismaël ist vermutlich derselben Herkunft, derselben Religion und ist zudem auch noch ein guter Freund von Mariemes Bruder. Trotzdem ist diese Liaison aufgrund des gesellschaftlichen Drucks einfach undenkbar. Aber Regisseurin Céline Sciamma fordert genau das ein, denn ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist ein oberstes Prinzip ihrer feministischen Agenda. Und so ist es auch Marieme, die in der Schlüsselszene, in der es zum Sex kommt, ihrem männlichen Gegenüber Ismaël im Imperativ zum Sex bewegt. „Zieh dich aus … zieh dich ganz aus.“ befiehlt sie, erst dann zieht sie sich auch aus.
Einforderung neuer Lebensweisen
Wir sehen hier zweitens aber auch einen aktiv-attackierenden Feminismus, der nicht nur Frauenrechte verteidigt, die schon da waren oder da sein sollten, sondern auch neue Lebensweisen einfordert, die kaum mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Mehrfach wird das Thema Gewalt aufgebracht. Marieme spielt am Anfang des Films in einem American-Football-Team, auch wenn dies nachher nie wieder aufgegriffen wird, ist dieses Intro schon ein Verweis auf einen Fokus von „Bande de filles“. Das hier grobes, Revier markierendes Verhalten, wie es gerade im Migrationsmilieu sehr stark zu beobachten ist, keineswegs nur Privileg von Männern sein muss. Eigentlich sind die meisten Männer in „Bande de filles“ sogar ziemlich zahm-freundliche Typen. Es gibt aber eine Menge Frauen, vor allem die titelgebende „Bande de filles“, also Mädchengruppe, der sich Marieme hier anschließt und die sich mit anderen Mädchengruppen verbale „Hahnenkämpfe“ austrägt und eben auch körperlich prügelt. Diese Mädchengruppe ist zugegebenermaßen nicht die sympathischste Zusammenkunft an Personen, die man sich vorstellen kann und eine, die die meisten Zuschauer wohl im echten Leben durchaus kennt, aber weniger wirklich leiden kann. Und trotzdem schafft es der Film, sich empathisch auf ihre Seite zu stellen.
Selbstfindung zwischen femininem und maskulinem Extrem
Trotzdem geht es hier nicht darum, einfach weibliche Verhaltensmuster durch männliche zu substituieren, sondern diese in Einklang zu bringen. Marieme und ihre Freundinnen beanspruchen zwar auch körperlich nicht als submissiv wahrgenommen und ausgenutzt zu werden, indem sie sich wie Platzhirsche aufspielen etc., sie haben aber dennoch Interesse an der Ästhetik des Femininen. An schönen Kleidern, Lippenstift und kitschiger Popmusik. Als dann aber Marieme in einem irritierend unaufgeregtem Höhepunkt der Geschichte vor ihrem Bruder fliehen und bei einem anderen Macho namens Abou untertauchen muss, gerät ihre Geschlechteridentität ins Wanken.
Hier macht der Film jetzt etwas Spannendes: Marieme ist tagsüber mit kurzen Haaren und versteckten Brüsten einer von Abous Gang und ihr Aussehen eine maskuline Konstruktion, hinter der sie sich verbirgt. Nachts verkauft sie Drogen an Partygäste mit rotem Lippenstift und weißer Perücke. Hier ist sie eine völlig feminine Aussehenskontruktion. Aber eben nur eine Konstruktion, beides ist nicht sie selbst. Sie selbst ist unterdrückt. Nie aber ist eine Kapitulation eine Option für Marieme. Ab dem Zeitpunkt, als sie in der Mädchengruppe ein Selbstbewusstsein als Coming-of-Age herausbildet, nennt sie sich „Vic“ wie victoire. Im ganzen Film wird sie nicht mehr vor einem Menschen katzbuckeln, weder vor einer Frau noch vor einem Mann. Diese „Vic“ ist von nun an ein Ziel einer Selbstkonstruktion bzw. -verwirklichung, dem sie sich mehr und mehr annähert bis aus dem Alter Ego Vic ein reales Ego zu werden scheint.
Strikte Konsequenz und angedeutete Schlussbilder
„Bande de filles“ ist trotz insgesamt gelungenem Schauspiel und starker Bildbereitung mit interessanten farblichen Leitmotiven narrativ reichlich unspektakulär. Was den Film so gut macht, ist seine strikte Konsequenz. Und so findet Marieme zum Schluss in einem subtil optimistischem Ende zu ihrem Selbst, ihrer eigenem Geschlechter- und Selbstbewusstsein. Bis zu diesem Ende deutet der Film immer wieder mögliche Enden an, die sich dann aber doch höchstens als Kapitelende entpuppen. Immer wieder ertönt laute Popmusik, die Bilder nehmen den Takt einer Schlusseinstellung auf und ein Fade-to-black lässt Zuschauererwartungen wachwerden, dass gleich die Credits eingeblendet werden. Immer wieder passiert das. Immer wieder geht der Film dann doch noch weiter. Bis zur besagten letzten Einstellung, in der Marieme — so viel sei verraten — sich ihrer Vergangenheit mutig entgegen stellt. Erst verschwindet sie weinend am rechten Bildrand, die Kamera schaut unscharf, fast weinend, in die Ferne. Dann taucht sie mit entschlossenem Blick am rechten Bildrand auf und bewegt sich von rechts nach links durchs Bild. In Richtung einer Vergangenheit, die (im Feminismus) wie der Film begriffen hat, erst couragiert in Angriff genommen werden muss, um eine Zukunft möglich zu machen.
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Schöne Kritik zu einem schönen Film.