Originärer Bilderrausch: Wie ein Blinder, der schlagartig wieder sieht.
Originaltitel: Tui Na (推拿)
Alternativtitel: Tui Na — Blind Massage
Produktionsland: China, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Lou Ye
Drehbuch: Lou Ye
Produktion: Nai An, Kristina Larsen, Li Ling, Lou Ye, Wang Yong
Kamera: Jian Zeng
Montage: Jinlei Kong
Musik: Jóhann Jóhannsson
Darsteller: Guo Xiaodong, Qin Hao, Zhang Lei u.A.
Laufzeit: 114 Minuten
Ma hat als Kind bei einem Unfall sein Augenlicht verloren und muss sich seitdem auf sein Gehör verlassen. Auch die anderen Beschäftigten in der Massagepraxis in Nanjing, in der Ma als junger Mann arbeitet, teilen sein Schicksal. (…) Da ist Dr. Wang, der in die unsauberen Geldgeschäfte seines Bruders hineingezogen wird, und seine Verlobte Kong, die weiß, dass ihre Eltern nie einen Blinden als Ehemann akzeptieren werden. Da ist Yiguang, der seine Sehkraft bei einem Bergwerksunglück eingebüßt hat und Ma mit ins Bordell nimmt. Und da ist die junge Prostituierte Man, in die sich Ma verliebt. (…)
Quelle: Berlinale.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 11.02.2014)
Wie muss es sein, blind zu sein? Natürlich kann man seine Augen schließen und sich vorstellen als wäre man blind, aber die reale Lebenserfahrung blind zu sein mit all ihren Alltagsfacetten kann so auch nicht simuliert werden. Viel wird über „Blind Massage“ geschrieben werden, dass er die Erfahrung blind zu sein, erfahrbar machen möchte, aber das ist eine paradoxe Halbwahrheit. Mit betörend schönen Bildern vermag es Lou Ye eher ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie es ist, als Blinder schlagartig wieder sehen zu können. Die Bilder des Films sind nicht nur wunderschön, sondern auch hektisch, überfordernd und anstrengend.
In einer abgetrennten Welt
Die „Normalen“, die die sehen können, leben in der „Mainstream-Welt“, sie sehen das Licht, die Blinden aber sehen die Dunkelheit. „Blind Massage“ konstituiert eine abgetrennte souveräne Welt der Blinden. Die Nicht-Möglichkeit des optischen Reizes führt zu einer Übersensibilisierung des akustischen und haptischen Reizes. Die Blinden im Film sind Masseure, sie vollrichten eine Arbeit, die von der routine-geschärften Qualität der Hand profitiert. Aber auf dem titelgebenden Beruf liegt nicht der Fokus im Film, sondern eher auf dem Massage-Zentrum, in dem die Blinden zusammen leben; auf ihrer Gemeinschaft und auf ihren individuellen Schicksalen. Der Film macht unmissverständlich klar, dass es eine Riesenkluft zwischen Blinden und Nicht-Blinden gibt, dass die „Normalen“ für die Blinden wie Geister sind: übersinnliche Wesen.
Schönheit der Zwischenmenschlichkeit
Aus der Sicht von Geburt an blinder Menschen werden universelle, für den Zuschauer vielleicht schon längst beantwortete Fragen nach Liebe, Lust und Schönheit neu aufgeworfen und von einem neuen Winkel aus akzentuiert. Bei all der Schönheit, die von den Bildern des Films vorgetragen wird, es sind vor allem Menschen, die der Film zeigt. Menschen aus nächster Nähe. „Blind Massage“ reflektiert hier seinen eigenen Ansatz, fragt der Film doch nach der Schönheit der Zwischenmenschlichkeit.
Ein homogener Bilderfluss
Die zahlreichen Einzelschicksale der Blinden werden zerstückelt erzählt und neben- und gegeneinander montiert. Lou Ye nimmt hier Bruchteile der Romanvorlage und defragmentiert sie zu einem homogenen Bilderfluss, der entweder süchtig macht oder abstößt. Das Zeug zum Konsensfilm hat „Blind Massage“ nicht, die originäre Bildsprache, die mit Weichzeichnern, Unschärfen und (haut)naher Handkamera experimentiert, macht ihn aber zu einem Must-See für Fans des außergewöhnlichen Kinos. Es bleibt zu hoffen, dass es eine Blu-Ray-Veröffentlichung geben wird, ein Goldener Bär wäre auf diesem Weg sicherlich hilfreich gewesen.
Der philosophische, optische beeindruckende „Blind Massage“ hinterlässt ein überwältigendes Gefühl von (Über)forderung. Einem Gefühl noch nicht alles verstanden zu haben. Einem Gefühl noch nicht alles gesehen zu haben.
85%
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © Dream Factory / Les Films du Lendemain
War zwar nur einer von zwei Wettbewerbsfilmen, die ich auf der Berlinale heuer gesehen habe aber war echt begeistert. Diese (Über)forderung vermittelte mir der Film so gut, dass ich das Gefühl hatte selbst einer der Menschen in dem Film zu sein. Großartig.
Woooh, noch jemand der diesen Film mag :) Ich google in regelmäßigen Abständen den Film, um zu schauen, ob er endlich irgendwo auf der Welt auf DVD (oder Bluray, was hier eigentlich Pflicht ist) rauskommt :D Kann’s kaum erwarten, aber die wenig frenetischen Kritiken zum Film aus der internationalen Presse ließen mir schlaflose Nächte, ob der Film mich nicht ein wenig geblendet haben könnte. So richtig weiß ich’s wohl erst bei der Zweitsichtung ;)