
Afilmischen zurück. Ein Versuch von originärer Schönheit.
Originaltitel: نمای نزدیک (Nema-ye Nazdik)
Produktionsland: Iran
Veröffentlichungsjahr: 1990
Regie: Abbas Kiarostami
Drehbuch: Abbas Kiarostami
Produktion: Ali-Reza Zarrin
Kamera: Ali-Reza Zarrindast
Montage: Abbas Kiarostami
Musik: Kambiz Roushanavan
Darsteller: Hossein Sabzian, Mohsen Makhmalbaf, Abolfazl Ahankhah, Mehrdad Ahankhah, Monoochehr Ahankhah, Mahrokh Ahankhah, Nayer Mohseni Zonoozi, Abbas Kiarostami
Laufzeit: 98 Minuten
Da er sich als Regisseur Mohsen Makhmalbaf ausgegeben hatte und das Haus einer wohlhabenden Familie als Drehort benutzen wollte, wurde ein filmverrückter Arbeitsloser festgenommen. Abbas Kiarostami filmte die Verhandlung und kreierte daraus eine Lektion über die Vermischung von Realität und Fiktion.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(Ursprünglich: ein medienwissenschaftliches Essay zur Bewerbung an der Filmakademie Wien)
Das Schulkind
Läuft auf der alten Schiene
Und macht unbeholfen
Das Zuggeräusch nach
Abbas Kiarostami
Der iranische Film „Close-Up“ erzählt von Menschen, die hinter einer Wunschvorstellung her sind, etwas erreichen oder sein wollen, das für sie unerreichbar scheint. Der Film handelt von dem nicht sehr wohlhabenden Drucker und Cinephilen Hossein Sabzian, der sich als berühmter Regisseur Mohsen Makhmalbaf (der real existiert) ausgibt, damit die Familie Ahankhah betrügt, sich strafbar macht und schließlich vor Gericht geladen wird. Aber auch andere Figuren des Films lassen sich in das Schema des von der Wunschvorstellung Getriebenen einordnen: Ein Journalist, der in der aller ersten Szene auftaucht und verkündet, er wolle die Geschichte zu einer großen Story aufblasen, träumt davon ein Star-Reporter zu sein. Die Söhne der betrogenen Ahankhah-Familie träumen vom Schauspielberuf, und letztlich (und das ist die entscheidende Pointe von „Close-Up“) jagt auch der Regisseur Abbas Kiarostami selbst einer Wunschvorstellung hinterher, nämlich der, die perfekte Rekonstruktion der wahren Begebenheit zu zeichnen, von der „Close-Up“ handelt. Aber auch Kiarostami wird, wie wir sehen werden, sein Ziel nicht erreichen.

Afilmisches und Profilmisches
Kiarostamis Film ist ein komplexer Hybrid aus Dokumentation und Spielfilm, der die Grenzen dieser beiden filmischen Gattungen, sowie allgemeiner die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, verhandelt. Hierzu sei der Filmwissenschaftler und Philosoph Etienne Souriau zitiert, der ein filmologisches Vokabular entwarf, um die verschiedenen Perspektiven von filmischer Rezeption herauszustellen. Für uns sind hier vor allem zwei dieser Perspektiven von Belang: Das Afilmische und das Profilmische. Ersteres ist die unveränderte Realität, bevor (oder nachdem) sie von einer Kamera eingefangen wird. Sie liegt also außerhalb des Films. Das Profilmische ist die Realität, die vom Film verändert und aufgefangen wird. Im klassischen Sinne versteht man darunter Realität, die extra für den Film verändert wurde (z.B. Kulissen, Schauspieler), aber im strengeren Sinne kann man auch von beispielsweise unveränderter Natur sprechen, die beim Filmvorgang in Beziehung zum Film gesetzt und somit profilmisch wird. Als Abgrenzung von der wirklich explizit für den Film veränderten Realität, sollten wir uns jedoch an die Bochumer Filmwissenschaftler Oliver Fahle und Eva Hohenberger halten, die das „Unveränderte“, das aber durch den Filmvorgang in Beziehung zum Film gesetzt wird, als „Vorfilmisches“ vom Profilmischen abgrenzen.
Der Versuch einer perfekten Kopie der Vergangenheit
Kiarostami will eine perfekte Kopie der Vergangenheit, er will zum Afilmischen wohl nicht zurück, da es wie gezeigt unmöglich ist, er will aber möglichst nah an das Afilmische heranreichen, das verkomplizierender Weise auch noch zusätzlich in der Vergangenheit liegt. Dazu bedient er sich dem formalen Aufbau eines Dokudramas, also der Nebeneinanderstellung von dokumentarischen und spielfilmischen Szenen, wenn auch eines äußerst speziellen Dokudramas. Denn von einem klassischen Dokudrama entfernt sich „Close-Up“, da er seine dokumentarischen Momente erst dadurch erzeugt, dass die beteiligten Menschen von Kiarostamis Präsenz und seinem semidoku-mentarischen Vorhaben wissen, womit diese realen, afilmischen Personen, wissend der ständig auf sie gerichteten Kamera, auch zu einer Art Schauspieler werden und damit auch das Spielfilmische berühren. Gleichzeitig lässt er seine Elemente im Spielfilmstil von denselben Personen nachspielen, die auch in der wahren Begebenheit, also in der afilmischen Vergangenheit, an dem Geschehen in derselben Weise beteiligt waren und nähert sich hiermit also der Dokumentation an. Weder seine spielfilmischen Szenen noch seine dokumentarischen Szenen funktionieren also klassisch nach diesen Filmgattungen und bewegen sich auf die jeweils andere Gattung zu, sodass „Close-Up“ letztlich eine eigene Herangehensweise entwickelt, die sich kaum mehr in fiktiv(er) und real(er) auseinanderschlüsseln lässt (Der Übersicht halber wird im Laufe dieses Essays dennoch die Unterteilung in (eher) dokumentarische und spielfilmartige Szenen aufrechterhalten.) Die abgefilmte Realität, die „Close-Up“ zeigt, ist weder afilmisch noch im strengeren Sinne profilmisch, sondern lässt sich mit der Kompromissbetitelung „vorfilmisch“ am präzisesten beschreiben. Eine profilmische, aber maximal unverfälschte Dimension, die sich stark der afilmischen annähert, ohne sie letztendlich zu erreichen.

Jacques Rancière: Fiktive Erinnerungen
Kiarostamis Film ist maßgeblich auf Erinnerungen aufgebaut: Die Spielfilmszenen sind auf solchen basierend nachgestellt und die dokumentarischen Szenen lassen die Akteure ihre Erinnerungen wiedergeben. Nach dem Philosophen Jacques Rancière sind Erinnerungen genuin fiktiv, er grenzt sie von den non-fiktiven Informationen ab, die eine Vergangenheit stabil und monovalent darstellen würden. Fiktive Erinnerungen würden die Vergangenheit hingegen multipel darstellen und seien im Gegensatz zu der Information erst in der Lage, Vergangenheit überhaupt erst gegenständlich zu machen. Man kann sich das sehr einfach vor Augen führen, da Spielfilme nach Rancière gleichartig einer Erinnerung funktionieren, indem man sich eine Szene aus einem Historienspielfilm herausnimmt, die Geschichte derart gegenständlich macht (ihnen Bilder gibt). Mit der Kombination von Spielfilmszenen mit Dokumentarszenen und ihrem multiplen Blick zurück durch verschiedene erinnernde Subjekte kommt Kiarostami dem Ziel einer perfekten Kopie nach Rancière also näher als durch die Verwendung reportagenartiger Informationsvermittlung. Auch oder gerade weil die Kraft der Fiktion nach Rancière immer auch eine neue Raum-Zeit-Struktur konstituiert, die sich von der Realität unterscheidet. Durch Kiarostamis Film können wir zum Beispiel zwar nicht zwei verschiedene Orte gleichzeitig sehen, sie aber hintereinander sehen, während sie sich in derselben Zeit befinden.
Die Intervention des Filmschaffenden ins Geschehen
Eine Besonderheit an „Close-Up“ ist, dass Abbas Kiarostami als er selbst in die wahre Begebenheit, die er versucht zu rekonstruieren, gleichzeitig eingreift und einwirkt. Ganz im Stile des Cinéma Verités wird hier Filmendes und Gefilmtes vermengt. Kiarostami erfuhr von dem Fall Sabzians in der Zeitung und intervenierte rechtzeitig zum juristischen Prozess in das Geschehen. Man kann mutmaßen, dass das letztlich verzeihende Urteil der Ahankhah-Familie gegenüber Sabzian zumindest von Kiarostamis Haltung (Diese geht durch den Film nicht hervor, aber wurde möglicherweise in der dem Zuschauer unzugänglichen Realität publik oder zumindest angedeutet) zu dem Fall oder zumindest dem Scham der laufenden Kamera zusammenhing. Auch ist der Kontakt mit dem echten Mohsen Makhmalbaf, der in der finalen Szene einen Cameo-Auftritt hat, möglicherweise erst durch die Teilnahme Kiarostamis an diesem Fall zustande gekommen. Somit erreicht Kiarostami zwar, gerade durch seine direkte Intervention ins Geschehen, dass er im besonderen Maße an die afilmische Realität heranreicht. Aber gleichzeitig, so muss man zumindest in Betracht ziehen, riskiert er auch das Entstehen ungewollter, genuin profilmischer Momente, die sich aber schwerlich nachweisen lassen, da wir vor dem ältesten Problem des Dokumentarfilms überhaupt stehen. Der unbeantwortbaren Frage: Was wäre ohne Zutun der Kamera genau so da gewesen? Und was nicht?

Verweise auf eigene Filmographie(n) als Erweiterung
Jean-Luc Godard hat schon 1963 in „Le Mépris“ einen real-existierenden Regisseur sich selbst spielen lassen. Aber Fritz Lang spielt in Godards Film sich eben selbst, anstatt er selbst zu sein. Kiarostami und sein Regiekollege Mohsen Makhmalbaf sind in diesem Film aber genau die Regisseure, die sie auch in der afilmischen Realität sind. So schafft es „Close-Up“ mit afilmischen Bezügen, Inhalte zu vermitteln. Einmal sagt etwa Sabzian zum Richter, er sähe sich in der Tradition des Protagonisten aus Kiarostamis „The Traveller“. Die Aussage Sabzians versteht man damit erst, wenn man dieses afilmische Detail und seine Bedeutung kennt. Eine Reportage hätte dieses Detail möglicherweise auserklärt, Kiarostami traut dem Zuschauer hingegen zu, manche Dinge erst nachvollziehen zu können, wenn er in der afilmischen Realität recherchiert, die der Film selbst ja gar nicht erreichen kann. Auch Mohsen Makhmalbafs Film „The Cyclist“, der im Film mehrfach zitiert wird, ist ein solcher afilmischer Verweis. In diesem Film wird ein beeindruckendes, aber erklärbares Phänomen (ein Fahrradfahrer fährt tagelang ununterbrochen auf seinem Rad) erst vom Medieninteresse zu einem Wunder erklärt, was natürlich wiederum ein Verweis auf den Film „The Cyclist“ selbst ist, der ebenso als Medium das Wunder aufrechterhält, indem er den Fahrradfahrer bis zur letzten Einstellung weiterfahren lässt. Ähnlich funktioniert auch „Close-Up“: Durch die filmische Machart zwischen Dokumentation und Spielfilm diskutiert der Film die Grenzen zwischen Schein und Wahrheit, Realität und Fiktion, nicht nur inhaltlich-narrativ, sondern auch in Form des Mediums Film selbst. Oder wie Marshall McLuhan sagen würde: „The medium is the message.„
Konditionen der Technik als Unmöglichkeit, die Realität zu erreichen
In der finalen Szene aus „Close-Up“ geschieht nun etwas Bemerkenswertes: Sabzian wird vom realen Mohsen Makhmalbaf auf seinem Moped abgeholt, um mit ihm zusammen der Ahankhah-Familie ein Blumengeschenk zu überreichen. Diese Szene sehen wir aus der Perspektive des Autos von Kiarostami und seiner Kameracrew, die feststellt: „We can’t redo this shot.“ Unmissverständlich gibt Kiarostami also vor, was wir da sehen, geschieht wirklich, es wird gerade in einem dokumentarischen Shot aufgenommen. Makhmalbaf und Sabzian spielen sich gerade nicht selbst, sie sind sie selbst. Und trotzdem oder gerade deswegen wirkt diese Szene surreal. Man könnte diese Szene als Illustration von Makhmalbaf als Sabzians Alter Ego interpretieren. Sabzian gelangt erst durch das „Vehikel“ der Makhmalbaf-Identität an Anerkennung, die ihm zuvor vergönnt ist. Die Szene streift, dadurch dass Makhmalbaf hier nur eine symbolische Figur wäre, also das Übernatürliche.

Zurück zum Eingangsgedicht
Diese Schlüsselszene zeigt uns aber vor allem eins: Die letztendliche Unmöglichkeit, die afilmische Realität mit filmischen Mitteln zu erreichen oder auch nur perfekt zu kopieren. Denn Kiarostami und sein Team filmen das Geschehen, das trotz surrealer Wirkung absolut real ist, unterliegen dabei aber den technischen Konditionen ihrer Aufnahmetechnik. Das Knopflochmikrofon, das sie zur Aufnahme der Dialoge zwischen Makhmalbaf und Sabzian verwenden, streikt immer wieder und gibt nur unregelmäßig Geräuschfetzen frei. Damit unterstreicht Kiarostami die Ohnmacht der Technik vor der Realität und verweist darauf, dass eben doch alles noch so Realistische und Dokumentarische, das durch filmische Mittel erzeugt wird, den Regeln einer imperfekten Technik unterliegt und somit die Realität niemals erreichen wird (Ein treffliches Symbol findet der Film hierfür in der zersprungenen Windschutzscheibe durch die er Sabzian filmt).
Um abschließend auf das einleitende Gedicht zurückzukommen: Wir wir gesehen haben, ist die afilmische Realität nicht in einer perfekten Kopie einzufangen. Auch wenn es Kiarostami darin womöglich nur um die Schönheit des lyrischen Bildes ging, ist dieses Gedicht meiner Ansicht nach die perfekte Allegorie auf seinen Film, Nein, Kiarostami ist in seinem Versuch, die Realität zu kopieren, letztlich ebenso unbeholfen wie das Schulkind beim Versuch den Zug zu imitieren. Wie auch das Schulkind mit seiner akustischen Onomatopoesie versucht auch Kiarostami die wahre Begebenheit medial zu rekonstruieren. Die alte Schiene bleibt dabei jedoch ebenso eine solche wie Kiarostamis Gegenwart nicht zu einer Vergangenheit wird. Aber, und das macht „Close-Up“ auf dieselbe Weise so großartig wie Kiarostamis Gedicht: Der Versuch, und allein der Versuch, ist von originärer Schönheit und macht uns nachdenken.
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