Putin-Russland in der Schule. Nonkonformität als Behinderung.
Originaltitel: Класс коррекции
Alternativtitel: Lenas Klasse
Produktionsland: Russland
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Ivan I. Tverdovsky
Drehbuch: Ivan I. Tverdovsky, Mariya Borodyanskaya, Dmitry Lanchikhin (nach einem Roman von Jekaterina Muraschowa)
Produktion: Natalya Mokritskaya, Mila Rozanova, Ulyana Saveleva, Michael Kaczmarek, Alex Vinnitski
Kamera: Fedor Struchev
Montage: Ivan I. Tverdovskiy
Darsteller: Olga Lapshina, Mariya Poezzhaeva, Filipp Avdeev, Nikita Kukushkin, Natalya Pavlenkova, Yuliya Serina, Artyom Markaryan, Mariya Uryadova, Natalya Domeretskaya,Irina Vilkova, Marina Nikolayeva, Zhanetta Demikhova
Laufzeit: 93 Minuten
Lena Chekhova (Mariya Poezzhaeva) wurde aufgrund ihrer Behinderung bis vor Kurzem noch zu Hause unterrichtet. Doch um die Bildung des lebensfrohen, im Rollstuhl sitzenden Mädchens weiter voranzutreiben, darf sie nun in eine besondere Klasse für Schüler, die mit verschiedenen Behinderungen geboren wurden. Wenn das Schuljahr vorüber ist, soll darüber entschieden werden, welche der Jugendlichen in eine „normale“ Klasse integriert werden. Um dieses Ziel zu erreichen gibt Lena sich alle Mühe, um eine vorbildliche Schülerin zu sein. Doch die Lehrer der Sonderklasse sehen den Unterricht eigentlich nur als sinnlose Pflichtübung und legen keinen Wert darauf, ihre Schützlinge voranzubringen. Lenas weiterführendes Interesse an komplexeren Lernstoffen wird im Keim erstickt. Zumindest in ihrem Mitschüler Anton (Filipp Avdeev) findet Lena dann aber einen echten Freund. Doch ihre aufkeimende Beziehung wird von den Menschen ihres Umfeldes mit Misstrauen beäugt.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Im selben Jahr wie der großartige ukrainische Film „The Tribe“ erschien auch Ivan I. Tverdovskys Debütfilm „Lenas Klasse“. Beide Filme porträtieren eine ukrainische bzw. in diesem Fall russische Gesellschaft am Beispiel einer Behinderten-Schule bzw. -Klasse. Der komplett in Gebärdensprache gedrehte „The Tribe“ eignet sich besser als eine Lesart über das Tier Mensch, während „Lenas Klasse“ sich wirklich dezidiert mit der russischen Gesellschaft der Gegenwart auseinandersetzt. Die „Behindertenklasse“ (mir ist kein deutscher Äquivalentbegriff zu „Corrections Class“, was der englische bzw. russische Originaltitel ist, bekannt) dient dem Zuschauer als Lupenglas, um ein putin-russisches Werte- und Normensystem kennenzulernen. Dabei geht es dem Film als Romanadaption der hierzulande unbekannten Jekaterina Muraschowa auch um ein Mitfühlen und -erleben, entgegen eines reinen Zuschauens.
Übelkeit oder Sog-Wirkung
Zunächst einmal ist „Lenas Klasse“ ein Film von einer konsequent angewandten formalen Vision. Den ruhigen, statischen, beobachten Tableau-Kadern des Regiekollegens Slaboshpytskyi in „The Tribe“ setzt Tverdovsky eine immens verwackelte Handkamera entgegen, die wild zwischen den (improvisierenden) Schauspielern hin- und hergeht. Gemein haben beide Filme eine osteuropäische (miserabilistische) Dreckigkeit mit entsättigten Farbkorrekturen und trostlosen Kulissen wie in diesem Fall immer wieder ein Bahngleis. Für viele Zuschauer dürfte bereits dieser kinematografische Modus, vor allem Aufgrund der regelrechten Handkamera-Exzesse, ein Problem darstellen. Wer generell Übelkeitsgefühle von Handkamera bekommt (sei es tatsächlich körperlich oder im übertragenen Sinne) sollte einen Bogen um „Lenas Klasse“ machen, denn der Film exerziert diese Kamera-Spielweise bis zum Äußersten. Allerdings erzeugt der zum Zeitpunkt des Drehs erst 26-jährige Filmemacher Ivan I. Tverdovskiy für alle übriggebliebenen Zuschauer eine beachtliche Sog-Wirkung. Man wird schnell Teil des Kollektivs behinderter Schüler, was zum einen an der großen Authentizität (semidokumentarischer Modus + improvisiertes Spiel) liegt, aber auch rein dramaturgisch an der Tatsache, dass hier alle Figuren zunächst nicht für dramatische Funktionen verheizt werden. Sie bleiben sie selbst und damit sind sie auch sympathisch, obwohl einige von ihnen ein doch sehr weirdes Verhalten, einen unintelligenten Duktus o.Ä. aufweisen. Leider macht der Film im Laufe des Geschehens den Fehler, Figuren in eindeutigere Funktionen zu stecken und ihnen damit letztlich auch Glaubwürdigkeit zu nehmen.
Fluchtwege vor Klischees
Im Mittelpunkt des Films steht die Liebesgeschichte der durch eine Muskelschwäche an den Rollstuhl gefesselten Lena und des Epileptikers Anton. Es ist tatsächlich vor allem diese Liaison, die emotionale Teilhabe des Zuschauers aufrechterhält. Warum? Wo sie sich doch an ähnlichen klassischen Plotpoints abarbeitet? Also eifersüchtiger Nebenbuhler, missgünstige Mutter, Mut- und Liebesproben etc.? Hier hilft auch wieder die Form. Die schauspielerische „Echtheit“ gibt z.B. dem Erwischen der Mutter der beiden Liebenden beim Sex eine physische Direktheit, die das Ganze so fühlbar und in diesem Fall unangenehm macht. Auch profitiert der Film davon, dass es gerade am Anfang und Mittelteil des Films viele, längere Szenen gibt, die eher epischer Natur sind, die das Erzählte weniger vorantreiben, sondern sich einfach mit den Individuen der Figuren auseinandersetzen. Und schließlich erleben wir die Figuren auch in ungewöhnlichen Interpretationen der potenziellen Klischees. Also z.B. indem Lena vielen Momenten des Schams gegenüber Autoritäten einfach mit einem Lachen oder Anton schwierigen Konflikten, wie den mit seiner Mutter, mit einer ungewöhnlichen Souveränität begegnet. Paradoxerweise vertraut man gerade, weil man das Verhalten der Figuren in diesem Film weitaus schlechter antizipieren kann als in anderen Filmen, die dieselben Momente näher am Klischee erzählen, der Beziehung von Anton und Lena viel mehr.
SPOILER: Eine Radikalellipse
Und umso brutaler kommt nun die entscheidende Wendung in diesem Film. Man glaubt lange, dass es ein Wir gibt, das den eifersüchtigen Klassenkameraden entgegen trotzen kann, die zum Ende hin leider immer mehr zu dem Klischee der eifersüchtigen Missgunst werden, gegen das der Film lange tapfer ankämpft. Aber am Ende wird auch Anton, dem wir als Zuschauer so sehr vertraut haben, die Seiten wechseln. Dieser Wechsel vom Paulus zum Saulus wird brutal-elliptisch (für meinen Geschmack sogar zu elliptisch) erzählt. Aus wirklich heiterem Himmel zeigt Anton seinem Mädchen auf einmal die kalte Schulter. Als Zuschauer versteht man ebenso wie die Hauptdarstellerin an diesem Punkt die Welt nicht mehr. Diese Radikalellipse ist mutig. Über nichts anderes an diesem Film habe ich nach dem Schauen so sehr nachdenken müssen. Sie ist einerseits stark, weil wir an dieser Stelle eben genauso ratlos sind wie unsere Hauptdarstellerin und diese Ratlosigkeit auch den politischen Meta-Kommentar des Films (siehe: nächster Absatz) sinnvoll erweitert, da er uns effektiv das Gefühl gibt, autoritärer Willkür ausgesetzt zu sein. Andererseits ist sie schwach, weil sie symptomatisch für das letzte Drittel des Films ist, welches erzählerische Geduld zu sehr vermissen lässt. Konflikte grober erscheinen lässt, als sie sein müssten. Und den Rhythmus schlicht nicht ganz homogen aufrechterhält. Wobei mir andererseits wieder gefällt, wie frech der Film einen damoklesartig über der Narration schwebenden Bahngleis-Tod am Ende nicht einlöst und damit ein besonders frecher Vertreter einer motivischen falschen Fährte ist.
Politische Lesart: Gegen den Autoritarismus!
„Lenas Klasse“ ist ein trotz einiger Unzulänglichkeiten großartiger Debütfilm. Neben seiner empathischen Kraft überzeugt er als eine Ansammlung sozialpolitischer Beobachtungen, die er subtil am Beispiel der Behindertenklasse ausdrückt. Das Genre des Sozialdramas wird hier im Grunde genommen missbraucht, um Systemkritik zu formulieren. In der Gesellschaft, die „Lenas Klasse“ zeigt, wird Nonkonformismus pathologisiert. Er stellt in gewisser Weise eine systemische Krankheit dar und daher ist die Thematisierung einer Behindertenklasse nicht zufällig gewählt. Eigentlich geht es hier aber um Ungehorsam gegenüber einem autoritären System und um ein Recht auf alternative Lebenswege (solang sie für sich stehend moralisch tragbar sind). Die Frage nach der Moral stellt sich in dem Film sehr schnell. Als ihre Mitschüler über den Tod eines Verstorbenen Klassenkameraden lachen, appelliert Lena moralisch an die Gruppe. Sie stellt sich (zurecht) als eine höhere moralische Instanz dar. Danach unternimmt Lena eine Reihe anderer Dinge, die von der porträtierten Gesellschaft als unanständig angesehen werden. Diese sind aber allesamt moralisch tragbar (z.B. Sex vor der Ehe usw.) Zunächst nur von erwachsenen Autoritäten wie der Polizei oder der Lehrer, später — beim Fall des vermeintlichen Koitus mit Anton — überträgt sich diese Betrachtung von ihr als Unanständige aber auch auf die Gruppe ihrer Mitschüler und extremisiert sich hier erst. Als sie sich sogar auf das love interest Anton überträgt, obwohl dieser dieselben „Anstands-Abweichungen“ aufweist, geschieht die Katastrophe. Während erwachsene Autoritäten im Film im Grunde so etwas wie gesamtgesellschaftliche Werte und Normen des heutigen Russlands repräsentieren, stehen die Jugendlichen für den verhärteten Kern der autoritaristischen Ideologie, vielleicht auch für eine potenzielle Entwicklung des kontemporär-russischen Gesellschaftsytems.
Ein alternativer Lebensweg
Wie auch das nonkonformistische Verhalten Lenas ist auch ihr Behindertsein ein alternativer Lebensweg, auch wenn er unfreiwillig sein mag. Er benötigt unter Umständen Zusatzleistungen, die aus dem Kollektiv zu erzeugen sind, welches eine Bereitschaft im Kollektiv voraussetzt. Wodurch eine faschistische Gesellschaft z.B. behinderten Menschen, das Recht auf Teilnahme an der Gesellschaft bzw. sogar dem Leben abspricht. In einer kleineren Dimension passiert das auch in „Lenas Klasse“. Der nationalkonservative, putinistische Systemgeist, der hier auftritt, weiß zwar um die Notwendigkeit der Inklusion des Kranken in das System (aus einer moralischen Perspektive heraus), er erträgt dies aber eher mit einem „Zähneknirschen“, denn eigentlich, entspricht es nicht dem starken und gesunden Bild, das diese Ideologie als Ideal betrachtet. Es ist mehr ein Ertragen; eine vage Toleranz statt Akzeptanz, geschweige denn Respekt. Vor allem zeigt es, wie schnell eine solche Haltung des bloßen Tolerierens auch in eine des Nicht-Tolerierens umschlagen kann. Das sehen wir wie gesagt an der Gruppe der anderen Behinderten um den eifersüchtigen Nebenbuhler Mishka, der den „sozialen Aufstieg“ Lenas zur Freundin des beliebten Antons aus der Perspektive eines chauvinistischen Neids herausbetrachtet, der dann in die Bereitschaft zur Gewalt umschlägt. Durchaus vergleichbar mit rassistischer Konspiration gegen Juden, wie sie in den 1920er Jahren den Weg der Nationalsozialisten geebnet hat, oder heute gegen Muslime, wie sie Nährboden für die neuen Rechten ist.
Eine Heilige
Diesem System setzt Tverdovskiy nun eine Heilige entgegen: Lena. Das Mädchen mit dem Rollstuhl ist nicht nur die einzige vollends moralische Figur im Film (abgesehen vielleicht von Lenas Mutter), sie wird auch in der Tat wie eine Heilige inszeniert. Lena durchlebt ein unverschuldetes Märtyrium, ihr „Laufenlernen“ hat zudem etwas von Jesus‘ Gang über dem Wasser und stellt ein starkes symbolisches Bild, ohne sich der filmimmanenten Logik zu entsagen, ohne ins Metaphysische zu gleiten, wie es viele andere Filmemacher täten. Das Heilige ist in dem Fall das Hochhalten liberaler Werte und rebellische Einfordern dieser. In diesem Fall bezieht sich das primär auf die nicht in Frage zu stellende, eingeforderte Akzeptanz und Gleichstellung der Behinderten in einer Gesellschaft. Und auch einen feministischen Verweis finden wir darin, dass sich die Gewalt auf das Unanständige sofort auf die Frau entlädt und nicht auf den Mann (Anton), der dasselbe tut. Und das in einer Schule, in der einzig LehrerINNEN arbeiten, also ein klassischer Fall von Frauen, die ihren eigenen Patriarchalismus tragen. Symbolischerweise würde Lena durch bestehen der Corrections Class in eine „richtige Klasse“ und somit quasi als vollwertiger Teil der (Schul-)Sozietät aufgenommen werden. „Lenas Klasse“ mahnt uns, diesen Kampf nicht aufzugeben.
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