138 Releases von 2022 im Rückblick.
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2022 — man wird auf dieses Jahr wohl zurückblicken, als ein Jahr, in der sich in der weltpolitischen Geometrie Dinge grundlegend verschoben haben. Geflügeltes wie „Weiter so“ oder das sogenannte „Ende der Geschichte“ haben ausgedient, die Zeitenwende ist da. Krieg in Europa und der womöglich als eine Blaupause für weitere bewaffnete Konflikte in der Welt. Großmächte auf einem unipolaren Schachbrett, die wieder bereit scheinen, Grenzen mit Waffengewalt und anderen Kopräsenten der modernen Kriegsführung zu verschieben.
Das langsame Medium Kino hat das, von ein paar unmittelbaren Dokumentarfilmen aus der Ukraine mal abgesehen, in diesem Jahr natürlich noch nicht mitreflektiert. Aber das wird es bald ganz sicher tun. Und man darf gespannt sein, was man wird sehen und erleben dürfen und müssen. Kommen wir zurück in die Zeit offener Kriegspropaganda? Dreht sich der Geist der woken Symbolfilme am Ende gar offen zur kriegerischen Parteiergreifung? Wie reagiert das intellektuelle Arthouse und der Mainstream auf diese Herausforderung, wohl in naher Zukunft den Globus nicht mehr als ein großes Dorf mit vermeintlich selben Werten zu begreifen, sondern als Kulturkampf, der sich an manchen Orten — wie jetzt in der Ukraine — blutig materialisiert.
Nein, das langsam Medium Kino mit seinen jahrelangen Produktiosprozessen hat davon 2022 noch nicht viel mitreflektiert. Ausgenommen die wenigen Filme, die so eine Ahnung gehabt haben könnte. In der Ukraine, wo der Krieg ja offiziell schon seit 2014 wütet, haben jene Filme, die den Krieg explizit zeigen, natürlich eine ganz neue Aktualität bekommen. „Klondike“ oder „Reflection“ sieht man jetzt mit anderen Augen, ersterer hatte seine Weltpremiere (ich war da) wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges. Aber auch ein „Top Gun: Maverick“ weist in gewisser Weise gleichermaßen in Vergangenheit wie Zukunft. Eine nicht weiter genannte Bösewichtsnation will hier ein Urananreicherungszentrum errichten, das von den guten Amerikanern natürlich rechtzeitig zusammengeschossen werden muss. Natürlich kann dieses anonyme Land nicht Russland sein, eher denkt man an den Iran oder Nordkorea, aber die hohle und auch nicht ganz ungefährliche Propaganda, dass die USA immer noch selbst entscheidet, welches Land Atomwaffen entwickeln darf und welches nicht (man möge im Zweifelsfall dort ja einmaschieren), wurde doch vom Publikum verstörend unkritisch aufgenommen.
In Cannes, Venedig und Berlin gewannen dieses Jahr weitestgehend solide, zeitgeistige Filme. In Venedig ein feministisches Vermächtnis in Form eines Dokumentarfilms, in Cannes zum zweiten Mal der Schwede Ruben Östlund, der eine Art Nische entwickelt zu haben scheint: Betont anti-woke Gesellschaftskritik. Er scheint derjenige zu sein, auf den man sich als ein gewisses Gegengewicht zur Identitätspolitik einigen kann. Dabei ist „Triangle Of Sadness“ sein mit Abstand schwächster Film und so gut getimt die Pointen bis zur Mitte des Films sein mögen, so unbefriedigend bleibt er letztlich, wenn man ihn als Gesellschaftsanalyse en detail durchdenkt.
Aber allgemein waren das auch schwache Jahrgänge in Venedig, Berlin und vor allem in Cannes! Kaum einer der geladenen Gäste an der Croisette erreicht Normalform und in Venedig waren wieder gut die Hälfte der Filme angelsächsische Produktionen. Und ein Iñárritu, der mit seiner furchtbaren Nabelschau „Bardo“ freilich auch zu der Oscar-Pre-Season gehört, die Venedig mittlerweile größenteils ist, habe ich da nicht einmal mitgezählt.
So wundert es gar nicht, dass die besten Filme dieses Jahr außerhalb der großen Wettbewerbe zu finden waren. Die Encounters in Berlin verteidigt ihren guten Ersteindruck und stellt dieses Jahr den besten Film. Ein besonderer Fokus lag (zumindest bei mir) auch auf dem spanischen Kino. Altmeister Pedro Almodóvars neuer Film ist für mich zwar der schlechteste des Jahres, aber neben Berlinale-Gewinnerin Carla Simón überzeugten auch wieder Rodrigo Sorogoyen und Jonás Trueba, die beide noch nie in einem Wettbewerb der großen drei Festivals gelaufen sind. Im Gegensatz zu Albert Serra, der dieses Jahr zum ersten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen word ist (und das völlig zurecht).
Out Of Competition • „Breaking The Ice“ (Clara Stern, 2022) • „Charly“ (Alisa Kolosova, 2021) • „Ein bisschen bleiben wir noch“ (Arash T. Riahi, 2020)
Leider überhaupt gar nicht 138. „Parallel Mothers“ (Pedro Almodóvar, 2021) 137. „Stop-Zemlia“ (Kateryna Gornostai, 2021) 136. „Snow White Dies at the End“ (Kristijan Risteski, 2022) 135. „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ (Andreas Dresen, 2022) 134. „The Den“ (Beatrice Baldacci, 2021) 133. „BARDO, False Chronicle of a Handful of Truths“ (Alejandro González Iñárritu, 2022)
Ablehnung Teil 1: l’art pour l’art Manch ein Kult kann man als Außenstehender kaum begreifen. Zum Beispiel, das sich selbst erhaltende Denkmal von Pedro Almodóvar, der scheinbar nur irgendeine progressive Haltung zu irgendeinem Beziehungsthema, Penélope Cruz und ein paar saftige Rottöne in der Postpro benötigt, um mit seinem Film in einem großen Wettbewerb zu laufen und für diverse Oscars nominiert zu werden. In meinen Augen, die dem „Zauber“ Almodóvars nie erlegen ist, sieht sein Film eher aus wie eine Ansammlung vorhersehbarer Szenen — schlecht gespielt und schlecht gefilmt — und dann noch irgendwas mit Gräbern und Franco, damit klar ist, dass Herr Almodóvar auf der richtigen Seite steht. Schade nur, dass das erzählerisch völlig orientierungslos daherkommt.
Rather not.
132. „The Line“ (Ursula Meier, 2022) 131. „CODA“ (Siân Heder, 2021) 130. „Commitment Aslı“ (Semih Kaplanoğlu, 2019) 129. „On The Edge Of Their Seats“ (Hideo Jōjō, 2020) 128. „Both Sides Of The Blade“ (Claire Denis, 2022) 127. „Ahed’s Knee“ (Nadav Lapid, 2022) 126. „EO“ (Jerzy Skolimowski, 2022) 125. „Hit The Road“ (Panah Panahi, 2022)
Ablehnung Teil 2: Der ideologische Film Mit besonders großen ideologischen Auslassungen hat sich zumindest der von mir gesehene Anteil des Jahres eher zurückgehalten. Sicher war „Top Gun: Maverick“ ganz im Stile seines vollumfänglichen Nostalgismus auch reine imperialistische Kriegspropaganda gegen jedes Land der Welt, das gerne Uran anreichern würde (um eine amerikanische Einflussnahme zu verhindern), aber darin ist er immerhin so platt, dass es offenkundig ist. Wenn man sich „Bardo“ von Alejandro Gonzalez Innarritu hingegen ansieht, schwingt hier natürlich vordergründig nur ein grober Narzissmus ins Bild. Ein Film, der in einer sehr egalen Ästhetik erst einmal nur ein Freibrief für eine karrieristische und ideallose Regie- und Lebenslaufbahn Inarritus darstellt, getarnt als eeeemotionalen Seelenstriptease. Aber genau diese Seelenpornografie hat einen ideologischen Kern, der nicht Schule machen sollte. In Zeiten, in denen Menschen sich und ihre Lebensverläufe zunehmend gerne analysieren und in (pseudo-)psychologische Fachbegriffe gießen (der Komplex, das Trauma blablabla) zeigt „Bardo“ auf welche Weise sich Menschen für ihr Verhalten ein Blanko-Attest ausstellen und in einer radikal marktförmigen Wow-Ästhetik den Zuschauerinnen küchenpsychologisch vorrechnen. Inarritu könnte hier kaum weiter von seinem Vorbild „The Mirror“ entfernt sein.
Mhmmm. 124. „Belfast“ (Kenneth Branagh, 2021) 123. „Nico“ (Eline Gehring, 2021) 122. „Little Nights, Little Love“ (Rikiya Imaizumi, 2019) 121. „Stars At Noon“ (Claire Denis, 2022) 120. „Bones And All“ (Luca Guadagnino, 2022) 119. „A Little Love Package“ (Gastón Solnicki, 2022) 118. „The Passengers Of The Night“ (Mikhaël Hers, 2022) 117. „Luzifer“ (Peter Brunner, 2021) 116. „In The Heights“ (John M. Chu, 2021) 115. „The Whale“ (Darren Arronofsky, 2022) 114. „It’s A Summer Film!“ (Soushi Matsumoto, 2020) 113. „The Novelist’s Film“ (Hong Sang-Soo, 2022) 112. „The Middle Ages“ (Alejo Moguillansky & Luciana Acuña, 2022)
Größte Enttäuschung: Natürlich ist es erstmal cool, wenn ein 90-jähriger Regisseur ein „Au Hasard Balthasar“-Remake raushaut und das auch noch in einer sehr jugendlichen, popmodernen Ästhetik. Legitim auch, diesen Film in Cannes, im Wettbewerb zu zeigen, aber: Er geht sich nicht aus. Er sich einfach nicht aus. In Zeiten von Drehbedingungen, die immer mehr Rechte von Frauen, marginalisierten Gruppen und eben auch Tieren einschließt, war es unmöglich, einen Film wie Bressons Klassiker zu machen, in dem ein Esel buchstäblich leiden musste. Die Bildtypen, durch die der Esel in „EO“ gejagt wird, sind aber immer fake, immer auf eine bestimmte Pointe aus, sehen immer entweder nach Postkarte oder anderweitig künstlig aus. Hier und dort ergeht sich der polnische Altmeister sogar in Exzessen musikvideoartiger Rottöne: als Ultra-Subjektive eines leidenden Esels? Nein, das geht sich nicht aus. Der Film ist ja gerade das Medium des Begreifens-durch-Zusehen. Und da der Esel nicht schauspielen kann, existiert nur das echte bressonsche Leiden oder ein falsches, dysfunktionales und irgendwie auch Albernes. Nimmt man Skolimowskis Esel das Leiden nicht ab, betrachtet man ihn nur als ein launisches Vehikel in einer dahinmäandernden Odyssee (was soll auch bitte diese Huppertszene sein?), dann bleibt nicht mehr viel übrig, von Balthasar.
Yayy. 111. „Wet Sand“ (Elene Naveriani, 2022) 110. „Eismayer“ (David Wagner, 2022) 109. „Being The Ricardos“ (Aaron Sorkin, 2021) 108. „The Tradegy Of Macbeth“ (Joel Coen, 2021) 107. „Walk Up“ (Hong Sang-Soo, 2022) 106. „I Carry You With Me“ (Heidi Ewing, 2020) 105. „Commitment Hasan“ (Semih Kaplanoğlu, 2021) 104. „Ali & Ava“ (Clio Barnard, 2021) 103. „#DOGPOOPGIRL“ (Andrei Huțuleac, 2021) 102. „Mariupolis 2“ (Mantas Kvedaravičius, 2022) 101. „The Eternal Daughter“ (Joanna Hogg, 2022) 100. „Mis Misses Her Revenge“ (Bogdan Theodor Olteanu, 2020) 099. „Tchaikovsky’s Wife“ (Kirill Serebrennikov, 2022) 098. „One Year, One Night“ (Isaki Lacuesta, 2022) 097. „How The Room Felt“ (Ketevan Kapanadze, 2021) 096. „Men“ (Alex Garland, 2022) 095. „The Eyes Of Tammy Faye“ (Michael Showalter, 2021) 094. „Attica“ (Stanley Nelson & Traci A. Curry, 2021) 093. „Para:dies“ (Elena Wolff, 2022) 092. „A Love Song“ (Max Walker-Silverman, 2022) 091. „R.M.N.“ (Cristian Mungiu, 2022) 090. „Girl Picture“ (Alli Haapasalo, 2022) 089. „Irma Vep“ (Olivier Assayas, 2022) 088. „Pamfir“ (Dmytro Sukholytkyi-Sobchuk, 2022) 087. „Dry Ground Burning“ (Adirley Queirós & Joana Pimenta, 2022) 086. „Grand Jeté“ (Isabelle Stever, 2022) 085. „Top Gun: Maverick“ (Joseph Kosinski, 2022) 084. „Lingui: The Sacred Bonds“ (Mahamat-Saleh Haroun, 2022) 083. „Licorice Pizza“ (Paul Thomas Anderson, 2021)
Größte Überraschung: Kein Film hat mich dieses Jahr überrascht. Außer vielleicht „Nueve“ aber das ist wieder ein Fußballfilm. Mit der großartigen Elena Meilicke habe ich dieses Jahr über „Things To Come“ von Mia Hansen-Love gesprochen, weil sie für ihren Kracauer-Preis-Gewinnertext – und das ist die größte Überraschung des Jahres! – meine kleine, bescheidene unmittelbar-wütende Replik auf den Film gelesen und sogar (indirekt) zitiert. Warum ist das wichtig? Weil mir derselbe unmittelbare Affekt von „Things To Come“ in diesem Jahr auch bei einem anderen französischen Berlinale-Film begegnet ist, der ebenso gefeierter Kritikerliebling ist: „Passengers Of The Night“. Der Film ist handwerklich über alle Zweifel erhaben, aber sehr in seinen schwelgenden Retro-Realismus verliebt. Und noch viel verliebter ist er in seine bürgerlichen Figuren, die wiederum in eine drogensüchtige Streunerin verliebt sind, allesamt. Und niemand merkt, weder Regisseur, noch die Figuren, jemals, wie selbstgerecht die porträtierten Figuren ihre eigene sozialdemokratische Gutheit auf diese Talulah draufprojizieren und wie unverhohlen der Regisseur und Autor Mikael Hers das zulässt. Irgendwann bin ich ärgerlich geworden.
Alright! 082. „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ (Tizza Covi & Rainer Frimmel, 2020) 081. „History Of Ha“ (Lav Diaz, 2021) 080. „Official Competion“ (Gastón Duprat & Mariano Cohn, 2022) 079. „The Restless“ (Joachim Lafosse, 2021) 078. „The Uncle“ (David Kapac & Andrija Mardešić, 2022) 077. „Crimes Of The Future“ (David Cronenberg, 2022) 076. „When The Waves Are Gone“ (Lav Diaz, 2022) 075. „Flee“ (Jonas Poher Rasmussen, 2021) 074. „A Family“ (Michihito Fujii, 2020) 073. „Return To Dust“ (Li Ruijun, 2022) 072. „Poet“ (Darezhan Omirbayev, 2022) 071. „Ethos“ (Berkun Oya, 2020) 070. „Fractured“ (Fikret Reyhan, 2020) 069. „Mother And Son“ (Léonor Serraille, 2022) 068. „The Super 8 Years“ (Annie Ernaux & David Ernaux-Briot, 2022) 067. „Triangle Of Sadness“ (Ruben Östlund, 2022) 066. „Nope“ (Jordan Peele, 2022) 065. „Toma“ (Dragan Bjelogrlić & Zoran Lisinac, 2021) 064. „Broker“ (Hirokazu Koreeda, 2022) 063. „Between Two Dawns“ (Selman Nacar, 2021) 062. „King Richard“ (Reinaldo Marcus Green, 2021) 061. „Pornfluencer“ (Joscha Bongard, 2022) 060. „tick, tick … BOOM!“ (Lin-Manuel Miranda, 2021) 059. „You Have To Come And See It“ (Jonás Trueba, 2022) 058. „The Natural History Of Destruction“ (Sergei Loznitsa, 2022) 057. „Everything Everywhere All At Once“ (Daniel Scheinert & Daniel Kwan, 2022) 056. „Atlantide“ (Yuri Ancarani, 2021) 055. „Youngstown“ (Pete Ohs, 2021)
Pete Ohs Zweitlingsfilm wird entweder einmal ein absoluter Kultfilm oder … in Vergessenheit geraten. Ich wünsche ihm ersteres. „Youngstown“ hat eine ganz sonderliche Absurdität, eine fast schon mdma’sche Heiterkeit der Figuren, ein feines Gespür für Pointen und Situationen, die irgendwie etwas plastik- und popsicleartiges an sich haben. Stilsicher, ja, mit dem klären Hang zum auteurschen Wiedererkennungswert bastelt er eine Welt aus Fast-Food-Läden und anderen Fast-Nichtorten des neuen amerikanischen Traums. Wie eine Mischung aus Wes Anderson und Sean Baker begleiten wir Figuren, deren Idiotie wir zu lieben und Verständnis dafür gewinnen lernen, wie man eine Welt (eine Stadt) als Heimat lieben kann, in der es nicht viel anderes gibt als in der nächsten gleichgroßen Stadt. Aber dafür verdammt gute Tacos.
Honorable Mentions 054. „Three Minutes: A Lengthening“ (Bianca Stigter, 2021) 053. „Unrueh“ (Cyril Schäublin, 2022) 052. „West Side Story“ (Steven Spielberg, 2021) 051. „Mad God“ (Phil Tippett, 2021) 050. „No Bears“ (Jafar Panahi, 2022) 049. „Alle reden übers Wetter“ (Annika Pinske, 2022) 048. „Oeconomia“ (Carmen Losmann, 2020) 047. „TÁR“ (Todd Field, 2022) 046. „Onoda: 10,000 Nights In The Jungle“ (Arthur Harari, 2021) 045. „Showing Up“ (Kelly Reichardt, 2022) 044. „Alcarrás“ (Carlo Simón, 2022) 043. „House Of Gucci“ (Ridley Scott, 2021) 042. „A Hero“ (Asghar Farhadi, 2021) 041. „Lunana: A Yak In The Classroom“ (Pawo Choyning Dorji, 2019) 040. „The Plot Against America“ (Minkie Spiro & Thomas Schlamme, 2020) 039. „Nueve“ (Martín Barrenechea & Nicolás Branca, 2020) 038. „Aftersun“ (Charlotte Wells, 2022) 037. „Im Westen nichts Neues“ (Edward Berger, 2022) 036. „Brother In Every Inch“ (Aleksandr Zolotukhin, 2022) 035. „Other People’s Children“ (Rebecca Zlotowski, 2022) 034. „Eyimofe (This Is My Desire)“ (Chuko Esiri & Arie Esiri, 2020) 033. „All The Beauty And The Bloodshed“ (Laura Poitras, 2022) 032. „Klondike“ (Maryna Er Gorbach, 2022) 031. „The Eight Mountains“ (Felix van Groeningen & Charlotte Vandermeersch, 2022) 030. „Rimini“ (Ulrich Seidl, 2022) 029. „Nightmare Alley“ (Guillermo del Toro, 2021) 028. „Mutzenbacher“ (Ruth Beckermann, 2022) 027. „Don’t Look Up“ (Adam McKay, 2021) 026. „Leave No Traces“ (Jan P. Matuszyński, 2021)
Die Top 25 der besten Filme 2018
25. „Vera“ (Tizza Covi & Rainer Frimmel, 2022)
Ein geradezu allzuklassischer Tizza-Covi-&-Rainer-Frimmel-Film. Das Semidokumentarische, das unverhohlen Derbe, das Erkunden von Lebensrealitäten italienischer Sinti und Roma, aufgefangen einmal mehr in der wunderschönen 16mm-Analog-Fotografie Frimmels. Aber nein, es ist noch mehr als das. Ein Coup, Vera Gemma, die Tochter des Spaghetti-Western-Stars Giuliano Gemmas, sich hier selbst spielen zu lassen und auf eine Familie windiger Unfallbetrüger treffen zu lassen, weil sich „Vera“ als wahnsinnig vielschichtige und präzise Darstellung von Klassengrenzen erweist. Vera ist die Tochter eines Neureichen, berühmt, aber doch pleite, voller sozialem und symbolischen, aber kaum materiellen Kapital — und habituell-kulturell doch sowieso nie in der herrschenden Klasse angekommen. Wohl auch deswegen begegnen sich Schauspielertochter und Automechaniker hier auf einer Augenhöhe, in der sich Sehnsüchte auf beiden Seiten spiegeln und trotz der letztlichen Tragik, des letztlichen Scheiters, ein seltenes menschliches Momentum zum Vorschein kam.
024. „The Quiet Girl“ (Colm Bairéad, 2022)
Ein junges Mädchen, Cait, schweigsam und Bettnässerin, wird von ihrer etwas erziehungsüberforderten Familie zu Verwandten gebracht, um dort den Sommer zu verbringen. Kaum ein Film setzt Zeitempfinden so effektiv ein wie „The Quiet Girl“, denn zunächst ist die Langsamheit der Handlung etwas ermüdend, zunächst scheint sich gar nicht so viel für das Mädchen verändert zu haben. Ein bisschen Spannung liegt naturgemäß in der Luft, ob die Verwandten nicht vielleicht ein dunkles Geheimnis haben könnten. Und tatsächlich: Es gibt ein solches Geheimnis, aber das ist gar nicht einmal die Hauptsache! In kleinen, teilweise versteckten epischen und kinematografischen Momenten erzählt Bairéad in seinem ganz eigenen Sommerferientempo vor sich hin und als Cait schließlich zurück zu ihren eigentlichen Eltern gebracht wird, ist irgendwas anders, irgendwas verändert, wir merken an der Seite von Cait — und durch die erlebte Zeit(lichkeit)! — dass wir uns eigentlich wünschen würden, sie wäre bei den Verwandten geblieben.
023. „Spencer“ (Pablo Larraín, 2021)
Pablo Larraín hat schon einige gute Filme gemacht, auch immer durchaus bemüht, einen gemeinsamen Nenner zu finden, was einen Larraín-Film zu einem Larraín-Film macht: Historische Interpretationen, unorthodoxe Scores, eine flashy Cinematography zwischen Arthouse und Musikvideo. Aber einen richtig guten Film hatte er noch nicht gemacht. Irgendetwas hat immer gefehlt, zumindest mir. „Spencer“ ist vielleicht sein bislang komplettester Film. Wie immer ist die historische Interpretation kühn, aber das hat mich auch nie gestört. Hier kann er aber mit seiner Lady-Di-Interpretation tatsächlich etwas Gehaltvolles zum Ausdruck bringen: Es ist die Psychologie einer Frau, die negative Aufmerksamkeit als einzige wirkliche Aufmerksamkeit spüren kann. In der Stiff-Upper-Lip-Fassade der britischen Krone, in diesem Leben, das nach einem klaren Regelwerk ausgerichtet ist, interpretiert Larraín Lady Di’s unorthodoxes, skandalträchtiges Leben als einem neurotischen Reputationsmasochismus nachgeordnet. Wenigstens für einen Moment rettet die Regenbogenpresse sie aus ihrem Gefängnis.
022. „Ninjababy“ (Yngvild Sve Flikke, 2021)
Ein wichtiges Drehbuchideal besteht für mich darin, dass man jede Figur mögen sollte oder zumindest empathisch nachvollziehbar gestalten sollte. In einer Komödie, wo Sympathieverhältnisse in der Regel stärker in Helden und Arschlöcher polarisiert werden, wäre das nochmal eine besondere Errungenschaft und vielleicht ist genau dieses Kunststück von „Ninjababy“ der Schlüssel zu seinem allumfassenden Gelingen. In dieser wahrlich progressiven Komödie verfolgen wir das Schicksal einer promisken jungen Frau, die unversehens schwanger wird und nicht weiß von wem. „Ninjababy“ schafft es dabei tatsächlich, dass man die charmant durchs Leben schlawienernde Protagonistin genauso mag wie jeden anderen Charakter — ob Mann oder Frau, ob gescheit oder Idiot — irgendwie mag. Das ist insofern wichtig, weil die Figuren auch als Träger eines Koordinatensystems neuer Liebes- und Erziehungsleitbilder fungiert und vor allem ist es ziemlich grandioses und auch einfach ziemlich witziges Writing.
021. „Who’s Stopping Us“ (Jonás Trueba, 2021)
220 Minuten lang ist Jonás Truebas wohl radikalstes Werk. Eine Langzeitdokumentation mit narrativen Spurenelementen, dann teilweise ganze Episoden des Szenisch-Narrativen, Verweise auf mindestens einen ganzen Spielfilm von ihm („The Reconquest“) und sich manchmal auch in der Idee gefällt, das alles könnte „gespielt“ sein (ist es aber nicht). Eine dauerhafte Meditation zwischen Dokumentation und Fiktion, die sich irgendwann einfach auflöst, zugunsten einem Dabeisein an der Jugend und ihrem Pathos. Auch Trueba selbst versinkt ein bisschen in diesem medienwissenschaftlichen Versuchslaboratorium, das mehrere offene Stellen hat, unveredelt und unvollendet.
020. „Close“ (Lukas Dhont, 2022)
Zwei beste Freunde, auch die Eltern sind befreundet, auf der neuen Schule werden sie mitunter als schwul beschimpft, für ihre unorthodox-enge Freundschaft aber auch bewundert. Feinfühlig zeigt der Film wie eine kleine Episode der Entfremdung für den eben genau das sein kann, eine kleine Episode der Entfremdung, und für den anderen die Hölle, der Antrieb in den Selbstmord. Was danach folgt ist eine immer noch herausragend inszenierte Hälfte, in der sehr viele schön beobachtete Momente des kollektiven und singulären Trauerns auch mit teilweise unplausiblen Fragen nach Schuld verwässert werden. Aber fairerweise muss man sagen: Jeder sieht diesen Film ein bisschen anders und kaum jemand würde behaupten, dass der erst 31-jährige Regisseur Dhont hier nicht eine absolute schauspielführerische Meisterprüfung abgelegt hätte.
019. „Just Rembering“ (Daigo Matsui, 2021)
Der japanische Film bleibt für mich weiterhin eine Fundgrube sensationeller Drehbuchprämissen, handwerklich nicht immer vollends am Punkt, aber dort scheint jedenfalls der Weg von einer charmanten Strukturidee am Schreibtisch zu einem produzierten Film weitaus kürzer zu sein als hierzulande. „Just Remembering“ erzählt immer wieder denselben Tag aber in verschiedenen Jahren — und das rückwärts. Was in diesem konkreten Fall bedeutet, dass wir mit einem auseinandergelebten Pärchen beginnen und am Ende erst sehen wir ihr Kennenlernen. Die Running Gags zwischen den beiden dringen schon vorher, quasi regressiv, durch die Sequenzen. Und, fürwahr, wir sehen hier zwei Seelenverwandte, ein wirklich schönes, unorthoxes Leinwandpaar.
018. „Sonne“ (Kurdwyn Ayub, 2022)
Wie hätte ein Film wie „Sonne“ wohl als deutscher Film ausgesehen? Als ein Film, in der drei verschiedene Fernsehsendern aus drei verschiedenen Bundesländern in die Enstehtung hineingequasselt hätten, wie doch ein Film über ein hijabtragendes Mädchen auszusehen hätte? Nun, sicher nicht so wie „Sonne“ — und sicher wäre der Film auch nicht in der renommierten Encounters-Sektion der Berlinale, sondern vielleicht in der ghettoisierten Perspektive Deutsches Kino gelaufen. Dass „Sonne“ gerade keinen braven, formalisierten Umgang mit seinem Thema darstellt, macht den Film erst zu diesem aufregenden Abenteuerspielplatz, der er ist. Sowohl Ayubs eigensinnige, improvisationsbasierte Regie, als auch die positiv-chaotische (De)konstruktionslogik seiner thematischen Fixpunkte, die den Film so unberechenbar und so gut macht.
017. „The Lost Daughter“ (Maggie Gyllenhaal, 2021)
Eine große Aufgabe des Kinos besteht darin, rein durch das Beobachten des menschlichen Handelns (im Gegensatz zur Literatur, die auch über das Mittel introspektiver Beschreibung verfügt) komplexe und teils auch negativ-konnotierte Personen bzw. Persönlichkeitszüge empathisch nachvollziehbar machen zu können. Man könnte sagen, das Thema von „The Lost Daughter“ sei regretting motherhood , aber damit würde man dem präzisen character piece von Maggie Gyllenhaal nicht ganz gerecht werden. Die Hauptfigur Leda Caruso ist eine Frau, die einfach gerne Zeit für sich hat, die einfach gern ihre Ruhe hat und diese nicht immer vordergründig sympathische Eigenschaft wird hier auf beeindruckende Weise spürbar gemacht (und als Facette weiblichem Karrierismus auch femnistisch aufgeladen).
016 „Pleasure“ (Ninja Thyberg, 2021)
Zwischen selbstbestimmter Arbeit und potenzieller Ausbeutung ist die Pornografie/Prostitution einer der großen Wegesgabelungen feministischer Positionierung. Ninja Thyberg gelingt hier ein Film, der das eine betont, ohne das andere auszublenden, er ist ein fairer Umgang mit dem Medium Pornografie und seiner Branche. Das fängt ästhetisch damit an, dass der Film erotisch explizit ist und es hierin schafft, den erigierten Penis in dem Mittelpunkt zu stellen, ohne selbst einer phallozentrischen Logik anheimzufallen. Das geht in der Besetzung weiter, wo Pornodarstellerinnen sich selbst spielen und somit im Marxschen Sinne die Produktionsmittel zurückerobern. Und das kulminiert schließlich in einem ausgewogenen Drehbuch, das nie prüde ist, nie pornografiefeindlich und trotzdem sensibel mit psychokorporativen Fragen fragiler Weiblichkeit umgeht.
015. „Reflection“ (Valentyn Vasyanovych, 2021)
Valentyn Vasyanovych ist insofern ein besonderer Regisseur, da er aus der Kamerarbeit kommt und sich auch als Filmschaffender eher weiterhin innerhalb dieses Departments verortet; in gewisser Weise inszeniert er seine Filme also als ein Bildgestalter. Während sein Erstling „Atlantis“ optisch zwar beeindruckte, aber narrativ sehr formalistisch war, immer an der Grenze zu einer gewissen Prätention war, findet mit „Reflection“ nun eine Entwicklung statt: Das tableauartige Erzählen bleibt, gestaltet sich aber in weitaus komplexere narrative Strukturen aus, die man am besten mit dem Miserabilismus Andrej Zvyagintsevs vergleichen könnte. In „Reflection“ fächert sich eine Familiengeschichte in zwei Hälften auf: Traumatisierung und stille Bewältigung. Die Tableaus der ersten Hälfte bleiben unvergessen und legen sich wie ein tiefer Schatten auf die Tableaus des (viel längeren) zweiten Teils: Trauerarbeit wird hier durch den vasyanovych’en Blick in filmische Form gesetzt.
014. „The Banshees Of Inisherin“ (Martin McDonagh, 2022)
Martin McDonagh ist ein Filmauteur, der aus dem Theater kommt und dessen Filme immer gleichzeitig auch irgendwie Theaterstücke sind. Dadurch kann er bestimmte Stärken einsetzen, die innerhalb des Filmmediums eher untypisch sind. Orte sind zu Bühnen zusammengefasst (Brügge, Ebbing, jetzt: Inisherin) Figuren und Konflikte sind motivisch zugespitzt und in einer Absurditätshöhe kurz vor einem Levitationsgrad, der sich völlig realistischer Darstellung entziehen würde. Ganz knapp davor. Ohne dramatische, psychologische oder motivischen Erklärung kündigt Colm seinem besten Freund Pádraic von einem auf den anderen Tag die Freundschaft. Als ein zwischenmenschliches Gedankenspiel schon komisch genug, bietet der Film einige optionale Lesarten, was das auf einer politischen Ebene bedeuten könnte. Ist ein Bürgerkrieg vielleicht genau das? Keine erotische Beziehungskrise, sondern eine Aufkündigung einer Bindung, die bislang völlig bedingungslos und selbstverständlich funktioniert hatte: eben eine Freundschaft.
013. „Playground“ (Laura Wandel, 2021)
Der Schulhof als Schlachtfeld. Laura Wandel macht in ihrem Spielfilmdebüt keinen Hehl daraus, was der wesentliche Kern in ihrem Film ist und entwickelt daraus eine äußerst konsequente Form-Inhalt-Genese: Die Kamera ist immer nah bei den Kinder-Figuren und lässt um sie herum alles im Unscharfen verschwimmen. Alles andere wirkt groß und einschüchternd; eine Welt in Froschperspektive und Tunnelblick. Inmitten dieser Welt totaler Überforderung konzentriert sich der Film auf kleine Situationen, die für eine Lehrkraft auf dem Schulhof unwesentlich erscheinen können, im Kopf und Körper eines Kindes jedoch zu großen Dramen und traumatischen Erfahrungen entwickeln können. Mit diesem konsequenten kinematografischen Modus und einem wahnsinnigen Gespür für kindliches Schauspiel evoziert „Playground“ gleichermaßen im Zuschauer Erinnerungen an die eigene Überforderung zu Schulhoftagen und sensibilisert andererseits doppelt für die größere Dimension des Traums, die der Hauptfigur zugefügt wird. In ganz kleinen, wohldosierten Gesten macht Wandel zudem auf einen Klassenaspekt aufmerksam, der hier die Frage nach erziehungspsychologischen wie auch sozialpolitischem Wandel aufwirft. Das Kleine ganz groß, selten hat es so sehr gestimmt wie hier.
012. „She Said“ (Maria Schrader, 2022)
„She Said“ wählt die Form des amerikanischen talkative Polit-Dramas („Dark Waters“, „Spotlight“ usw.) und verwandelt die literarische Vorlage eines journalistischen Berichts zu den Enthüllungen um Miramax-Boss Harvey Weinstein in ein investigatives Drama, das seine große Spannung aus seinem schieren Detailgrad auf Sach- und Figurenebene bezieht. Viele Szenen spielen an Telefonen, so viele, dass der Film das sogar zu einem Stilmittel erhebt und zu einem der intelligentesten Gegenüberstellungen des Drehbuchs macht: Die Journalistin ist gleichzeitig Partnerin und Mutter und macht ihre feministische Enthüllungsarbeit häufig sogar parallel zu ihren „Pflichten“ als Vertreterin des weiblichen Geschlechts. Dabei bleibt das Drehbuch immer fair und am Punkt und verkommt nie zu einer moralinsauren oder rachsüchtigen Kulturkampffantasie. Am Ende des lückenlos unterhaltsamen Open-Plan-Dramas steht nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch eine Freundschaft zweier Frauen, der man ganz organisch und unaufgedrückt durch die gemeinsame Arbeit und Kollegialität hat wachsen sehen und fühlen können.
011. „C’mon, C’mon“ (Mike Mills, 2021)
Mike Mills ist als autosoziobiografischer, progressiver Familienchronist das amerikanische Pendant zu Hirokazu Koreeda. Die Idee zu „C’mon, C’mon“ kam ihm, als er sein Kind badete. Man merkt seinen Filmen und diesem ganz besonders (positiv) an, dass sich die komplexen, teilweise extrem unorthodoxen Gebilde aus einer kleinen, dafür umso präziser gefühlten Beobachtung heraus entwickeln. Für ein herkömmlich dramatisiertes Familiendrama ist die Figurenkomposition im Grunde viel zu komplex, trotzdem gelingt es, weil die Schauspielführung Raum für Ungewöhnliches, kleine Beobachtungen und wichtige Blicke lässt. Das Mühegeben und Richtigmachenwollen in komplizierten familiären Konstellationen ist so etwas wie ein letzter unreduzierbarer, wenn man so will: sozialistischer Kern, den Mills dazu intelligent mit semidokumentarischen Einwürfen echter Kindes-Interviews zu ihrer Zukunft anreichert, als ein Blick von dem Kleinen auf das Große.
010. „How To Save A Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022)
Das ist vielleicht die einzige Dokumentation über echte Liebe und das bei einem Film, der im Titel von einem „Freund“ spricht. Denn genau das ist hier der Punkt und das unendlich Rührende daran. Die Filmemacherin Marusya Syroechkovskaya beschreibt hier eine nahezu lebenslängliche Beziehung zu ihrem stark selbstzerstörerischen, heroinabhängigen Ex-Freund, der nach Abklang der erotisch-romantischen Übereinkunft zu einer bedingungslosen platonischen Liebe wird. Dieser Übergang geschieht beiläufig, scheinbar selbstverständlich. Dieses kleine aus Videoschnippseln zusammengearbeitete Film-Essay verdoppelt die Ästhetik der Zeiten, die er begleitet. Selten sah ein Film so nach frühen Internetjahren, nach YouTube-Gründerzeit und VKontakte, aus. Er ist eine rührend persönliche Bezugnahme auf einen Verstorbenen, dabei gleichzeitig halbe Autobiografie und Porträt eines Russlands, in der die Zeiten düsterer werden.
009. „Trenque Lauquen“ (Laura Citarella, 2022)
Laura Citarella gehört zu dem argentinischen Filmkünstlerkollektiv El Pampero Cine, das sich durch einen besonders markanten Zugang zum Filmschaffen auszeichnet. Es sind zumeist extrem medienreflexive, genre-über-, an- und aufgreifende Filme, die überschaubar finanziert, aber mitunter ausufernd lang und in ihrem skulpturalen Charakter nie dagewesene Strukturexperimente im narrativen Film versuchen. So auch „Trenque Lauquen“, ein Film, der nach Laura Citarellas Heimatort benannt ist und diesen in einer vierstündigen Geschichte mit Geschichten-in-der-Geschichte, genrezistischen Fantasien und Fieberträumen, umspielt. Ein rätselhaftes Filmpoem, indem unklare Reste bleiben, doch aber ein Gefühl überwiegt, hier die Psychoanalyse einer Frau gesehen zu haben, die sich allen zwischenmenschlichen Dependenzen entreißen will.
008. „Holy Spider“ (Ali Abbasi, 2022)
Der Film hat logischerweise seine Sympathien bei der westlich-liberal-feministischen Perspektive der Journalistenfigur. Ali Abbasi führt jedoch als erzählerisch kühnen Akt den Täter als zweite Hauptfigur ein, womit er „Holy Spider“ in einer schönen, da seltenen Balance aus schaurigem Genre und Sozialdrama belässt. Alle Figuren bleiben dabei rest-realistisch und doch so etwas wie systemtheoretische Bedeutungsträger. Letztlich dient diese Doppelperpektive nämlich dazu, dass man den Frauenmord nicht als bestialisches Böses zeichnet, sondern verstehbar macht, aus welchen gesellschaftlichen Strukturen so ein Mord entstehen kann, wie er von der Gesellschaft mitgetragen wird oder in welchen Instanzen dann vielleicht eben auch nicht.
007. „Riot Police“ (Rodrigo Sorogoyen, 2020)
Sein wir ehrlich: Das Erzählformat Drama Series bringt zwar ungeahnte Möglichkeiten in erzählerischer Breite und Detailgrad, für eine besonders herausragende Schauspielregie oder filmhandwerkliche Ausnahmezustände sind sie aber selten, sehr sehr sehr selten, ein fruchtbares Terrain. Hier ist das anders. Der Spanier Rodrigo Sorogoyen, der bekannt dafür ist, tiefgehende Figurenpsychogramme zu erzählen, dabei in langen, technisch komplexen Plansequenzen seine dichten Atmosphären heraufbeschwört, hat mit „Riot Police“ eine Serie geschrieben (in Co-Autorenschaft), vor allem, aber hat er es geschafft, seine Stärken in Schauspielführung auf das Langlang-Format zu übertragen. Dabei ist „Riot Police“ spannend und wendungsreich geschrieben und analysiert das spanische Polizeisystem und seine (soziologischen) Subsysteme mit einer Präzision, die „The Wire“ in nichts nachsteht. In jeglicher Hinsicht ist der Begriff „Qualitätsfernsehen“ hier tatsächlich mal angebracht.
006. „Pacifiction“ (Albert Serra, 2022)
Albert Serra hat einen narzisstisch unterfütterten, aber zweifellos auch sehr originellen Ansatz an das Filmemachen. Mit vielen kleinen Kameras ausgestattet, observiert er permanent seine erzählte Welt, die Schauspielerinnen und Schauspieler haben eigentlich nie eine Ahnung davon, ob sie gerade aufgenommen werden oder nicht — bzw. ob in Close-Up, Totale oder was auch immer. Mit „Pacifiction“ erschafft Serra ein abgefahrenes, düsteres Universum am Ende der Welt. Im doppelten Sinne, denn Tahiti im Südpazifik ist einerseits geografisch nahezu maximal entlegen, andererseits schwebt hier auch permanent das Damoklesschwert eines nuklearen Erstschlags in der Luft. Rätselhaft durchdringt es immer mal wieder die kryptischen Dialoge. Niemand scheint sich hier wirklich ernstzunehmen, aber irgendwie würde man genau das auch den hier porträtierten Politikern zutrauen, die immer eine Mischung aus hochrangigem Außenpolitiker und urlaubenden Übersee-Präfekten zu sein scheinen. Serra hat mit „Pacifiction“ etwas Besonderes geschaffen, nämlich einen filmischen Ort, an dem nichs undenkbar scheint, ein Möglichkeitsraum, und der genau daraus eine unterschwellige Spannung für seine über drei Stunden gewinnt.
005. „Between Two Worlds“ (Emmanuel Carrère, 2021)
Wie weit haben sich gesellschaftliche Milieus schon voneinander entfernt, dass die bürgerliche Protagonistin nur als Investigativ-Journalistin in die fremde proletarische Sphäre Einblick erhalten kann? Wie eine Geheimagentin bewegt sich eine Buchautorin, gespielt von der bürgerlichen Juliette Binoche, in der Welt von Putzfachkräften. Für sie ist das Leben, das andere leben müssen, nur ein Recherche-Experiment. Das Besondere an „Between Two World“ ist, dass er sein Milieu nicht nur behauptet, sondern an Realschauplätzen mit echten Arbeiterinnen und Arbeitern aus Nordfrankreich realisiert hat. Das Aufeinandertreffen des bürgerlichen Filmteams mit dieser Welt verdoppelt also in gewissem Sinne das im Film thematisierte transklassische (Wieder)Kennenlernen.
004. „Zola“ (Janicza Bravo, 2020)
Inwieweit gelingt es Filmsprache verschiedene Spielweisen literarischer Sprache zu übersetzen? Es gibt Filme die Tolstois psychologischen Realismus nahekommen, Filme vom lakonischen Witz einer Schelmenerzählung oder der präzisen Absurdität eines Beckett-Theaterstücks. Seit Janicza Bravo gibt es nun also auch ein filmsprachliches Äquivalent zu einem Tweet. Oder präziser: Einer ultrasubjektiven, an ein großes Publikum gerichtetes, möglicherweise zu starken Übertreibungen neigendes Darstellungsmedium. Die Weise, wie Bravo die Geschichte hinter dem viralen Tweet über die vermeintlichen Erlebnisse der schwarzen Sexarbeiterin Zola King in Schnitt, Kamera, Ton, Dramaturgie und Schauspiel filmgrammatikalisch anordnet, kommt dem formal sehr nahe. Durch die multiple, transmediale ultra-unzuverlässige Erzählweise entsteht zudem ein Ahnungsraum für das, was womöglich wirklich passierte.
003. „The Beasts“ (Rodrigo Sorogoyen, 2022)
Sorogoyen zum Zweiten. Wie kaum ein anderer Regisseur vermag der Spanier es das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu finden. Bürgerliche französische Ferienhausurlauber kollidieren hier mit einfachen Arbeitern im nordspanischen Baskenland, erst vollzieht sich alles noch in dreckigen Späßen, dann Nicklichkeiten, Gemeinheiten, irgendwann kriminalrelevanten Regelbrüchen, die Gefahr vor der wirklichen Eskalation bleibt immer diffus. Als sie sich dann doch bahnbricht, hat Sorogoyen längst wieder eine neue Idee, wie er den in schweißtreibender Atmosphäre badenden Halbthriller noch einmal in eine ganz andere Richtung gelenkt bekommt. Großes Erzählen, vor allem durch eine atemberaubende Schauspielführung.
002. „Saint Omer“ (Alice Diop, 2022)
Wie ein großer Intertext über das Verstehenwollen des Nichtverstehbaren ist „Saint Omer“ aufgebaut, den die Dokumentarfilmerin Alice Diop zusammen mit der Schriftstellerin Marie NDiaye geschrieben hat und der wiederum auf einer wahren Begebenheit beruht. Eine intelligente, aber prekär und im Einfluss ihrer Herkunftsfamilie stehende senegalesische Philosophiestudentin hat hier mutmaßlich ihr Kind ermordet, indem sie es, mutmaßlich über die nahende Flut wissend, am Meer ausgesetzt hat. Der erzählerisch mittig angesiedelte, ausufernde Textblock einer Angeklagtenaussage (der mutmaßlich sehr nah an der real-geschichtlichen Aussage liegt), fungiert gleichermaßen als Anschlussmöglichkeit an einen außerfilmischen Diskurs, ermöglicht allerdings noch umso mehr einen gigantischen Assoziativraum, der sich aus den möglichen Parallelen der Angeklagten zur Hauptfigur, einer Schriftstellerin, ergibt. Welche Gedanken gehen der schwangeren Frau durch den Kopf? Wie wird ihr Roman aussehen? Und wie sehr sieht sie sich sogar wieder in der Kindesmörderin?
001. „Small, Slow But Steady“ (Shô Miyake, 2022)
Ein Film über eine taubstumme Boxerin? Das klingt erst einmal nach dem x-beliebigen Problemfilmchen irgendeiner Antiheldin, die sich in schwierigem Umfeld für ihren Traum hochkämpfen muss und blablabla, das alles ist „Small, Slow But Steady“ nicht . Stattdessen ist dieser in der Tat sehr kleine und sehr langsame Film ein Versenkungserfahrung, ein genaues und feinfühliges Beobachten seiner Heldin und ihrer Beziehung zu ihrem Boxlehrer. Lange trägt der Film rein über seine meisterhaft beherrschte Form, erzählt scheinbar wenig, bis man scheinbar im Vorbeigehen etwas Großes gelernt hat. Es ging hier nie wirklich um Taubstummheit oder Boxen. Es geht hier darum, dass diese beiden Figuren alles für einander sind. In gewisser Weise beide wirklich nur einander haben. Was für eine Schlosshunderfahrung! Im Interview sagt Regisseur Shô Miyake, er habe „Small Slow But Steady“ analog drehen wollen, weil das Material damit eine Endlichkeit habe und nicht ständig wiederholt werden könnte, was er fair gegenüber der anstrengenden Körperlichkeit des Boxens empfände, die er seiner Hauptdarstellerin Yukino Ishii aussetzt. In „Small, Slow But Steady“ steckt etwas absolut Weises und Reines. Kino, wie es heutzutage kaum mehr gedacht und gemacht wird.
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