Ein Lied, ein Brot, eine Pistole: Georgien Anfang der 1990er-Jahre.
Originaltitel: გრძელი ნათელი დღეები (Grzeli nateli dgeebi)
Alternativtitel: Die langen hellen Tage
Produktionsland: Georgien, Deutschland, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2013
Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Groß
Drehbuch: Nana Ekvtimishvili
Kamera: Oleg Muti
Montage: Stefan Stabenow
Produktion: Simon Groß, Nana Ekvtimischwili
Darsteller: Lika Babluani, Mariam Bokeria, Zurab Gogaladze, Data Zakareishvili, Ana Nijaradze, Maiko Ninua
Laufzeit: 102 Minuten
Die langen hellen Tage zeigt die Ausbruchsversuche der Freundinnen Eka und Natia im Übergang von Kindheit zur Jugendzeit aus den gesellschaftlichen Regeln, der Arbeit und ihrem turbulenten Familienleben. Schauplatz der Geschichte ist die georgische Hauptstadt Tiflis Anfang der 90er Jahre.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 21.08.2014)
Immer wieder laden uns deutsche Filmförderungsgelder ein, in exotische Filmnationen zu reisen. Besonders schön, wenn dabei Beiträge zustande kommen, die es mit der deutschen Kinolandschaft aufnehmen können oder diese sogar überragen. Mein Wissen über Georgien beschränkte sich vor diesem Film darauf, dass es die Heimat von Joseph Stalin ist, es rekordverdächtig viele rote Kreuze in der Flagge hat, es eine schöne Sprache und eine noch schönere Schrift hat und (fast) alle Nachnamen mit -shvili oder -ze enden. Also nicht besonders viel. „Die langen hellen Tage“ wirft einen ungeschönten Blick in die unmittelbare postsozialistische Zeit des Landes (sowieso ein Thema, das im Kollektivschicksal osteuropäischer Länder gerne thematisiert wird) und kann dabei auch filmtechnisch überzeugen.
Eine Damoklespistole
Im Fokus des Films stehen zwei vierzehnjährige Mädchen, Eka und Natia, ein doppelter Protagonist. Aber auch wenn der Film gerne auf Coming-of-Age-Thematik runtergebrochen wird, ist er eigentlich etwas ganz anderes. Ihr jugendlicher, für ihr Alter aber nichtsdestotrotz sehr reifer Gestus, bleibt im Filmverlauf nämlich eher unberührt. Ein Erwachsenwerden ist das nicht, viel mehr konfrontiert der Film zwei junge Menschen immer wieder, lässt sie streiten, sich versöhnen, zusammen lachen und dafür kämpfen, sich im neu gegründeten Georgien zurecht zu finden. Denn hier wird der Film viel konkreter: Er versteht sich als Sittengemälde seiner thematisierten Zeit, zeigt er eine Gesellschaft, die von vielen ungelösten Konflikten und Spannungen durchdrungen ist. Mitten in diese angespannte Stimmung platziert er eine Pistole — eine Waffe, wie sie zuhauf nach Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs auf dem Schwarzmarkt verfügbar wurde — und lässt sie wie ein Damoklesschwert über dem Geschehen kreisen.
Gute Kamera, unnützer Farbfilter
Der Film hat seinen kontrasterzeugenden Farbfilter sicher nicht nötig, um eine rauhe, deprimierende Stimmung seiner Zeit zu porträtieren. Ansonsten funktioniert die Kameraarbeit aber sehr gut. Viel wird mit langen, ununterbrochenen Einstellungen und Handkamera gearbeitet. Vor allem in einer Szene, in der die Mädchen Brot für ihre Familie organisieren, bezieht die Kameraarbeit seine Effektivität, denn im Durcheinander der ungeduldigen, hungernden Menschenmassen, die auf ihr Brot warten, überträgt sich die Unruhe und Hektik der Szenerie durch die Kamera auf den Zuschauer.
Entfesselter Tanz als Repression
Stilsicher umschifft das deutsch-georgische Regie-Paar Simon Groß und Nana Ekvtimishvili eine ausrechenbare Standarddramaturgie und kann immer wieder für große Momente sorgen, die es den Film definitiv ansehenswert macht. In einer der längsten Einstellungen überhaupt im Film tanzt Eka einen traditionellen Tanz auf Natias Hochzeit. Man kann eigentlich nur mit etwas Hintergrundwissen verstehen, wie repressiv diese Situation für sie ist, da ihre Tanzschritte völlig improvasitionslos sind und strikt der traditionellen Erwartungshaltung der Hochzeitsgäste folgen. Spätestens der auf diese Einstellung folgende Schnitt, der eine völlig erschöpft-traurige Eka auf ihrem Bett am nächsten Morgen zeigt, ist aber international verständliche Kinosprache genug. Auch das Brot als wiederkehrendes Motiv ist ein funktionables Stilmittel, ebenso wie ein trauriges Liebeslied, das im Film eine übergeordnete Rolle spielt:
„I will walk along your street all night
I will long for you all night, all night
This life is so short, you can see the end
I go home and think about you till morning
This life is so short, you can see the end
I go home and think about you till morning
You don’t know, you don’t know, my dear
How my heart aches, how my heart aches
I want to fence off a place in front of your house
And stand beneath the balcony till morning
This life is so bitter and so harsh
If you have a dream, it will crush it„
Entführung als Tradition
Auch wenn sich politisch einiges im Georgien der angehenden 1990er Jahre verändert haben mag, dokumentiert „Die langen hellen Tagen“ auf gesellschaftlicher Ebene eher Stagnation und Verharrung in Tradiertem. Ganz zentral werden traditionelle Wertevorstellungen thematisiert und man kann die sehr interessante (laut meiner kumykischen Ex-Freundin zumindest in Tschetschenien bis vor ca. 5 Jahren (!) immer noch absolut übliche und legale) Vorgehensweise sehen, wie Vierzehnjährige zur Hochzeit getrieben werden: Indem man sie mit mehreren Jungs in ein Auto zwingt und sie dann mehr oder weniger direkt zum Hochzeitsbankett karrt. Natürlich spielt da noch die Einwilligung der Eltern eine Rolle, aber der Wille der Zuverheiratenden ist eher untergeordnet.
Titel-Konfusion
Der deutsche Titel des Films „Die langen hellen Tage“ ist sehr irreführend und sollte wohl einfach ein clever-klingender Titel sein, der das Arthouse-Publikum anspricht. Die offizielle Übersetzung des Originaltitels liefert der englische Titel „In Bloom“ (dt. in (voller) Blüte), was natürlich ebenso Fragen aufwirft, was damit gemeint ist. Das junge Georgien mit all seinen Konflikten und Krankheiten sicherlich nicht.
„Die langen hellen Tage“ liefert einen äußerst interessanten Exkurs über das Georgien der 90er Jahre ab und wird für so manchen gesellschaftspolitischen Aspekt Georgiens immer noch aktuell sein. Gut aufgelegte Schauspieler und ein nicht herausragend, aber zumindest mal sehr gutes Drehbuch machen aus diesem georgischen Weltkinobeitrag eine klare Empfehlung.
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