In diesem Jahr war konnte ich leider „nur“ 74 aktuelle Filme für das Nominiertenfeld der alljährlichen Goldenen Tellerränder zusammenziehen, die zum neunten Mal in Folge stattfinden. Einmal mehr stehen bei den Tellerändern ein betont globaler Horizont, sowie ein stärkerer Fokus auf Innovation, Medienreflexivität und erzählerische Funktionalität, gegenüber reiner „handwerklicher Brillanz“.
Zugelassen waren alle Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe und als Release gelten, also (unabhängig von nationalen und internationalen Kino- und VoD-Starts) zwischen 2021 und 2023 erschienen sind.
Einige relevante Titel konnten erst 2024 erstgesichtet werden, wodurch sie erst für die nächstjährigen Goldenen Tellerränder in Frage kommen, bei denen es aller Vorrausicht nach also zu einem „doppelten Jahrgang“ kommen dürfte.
Best Make Up And Hairstyling • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „Sick Of Myself“ (Kristoffer Borgli, 2022) • „Scarlet“ (Pietro Marcello, 2022) • „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023) • „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023)
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„Sick Of Myself“ (Kristoffer Borgli, 2022)
Signe hat einen Unfall, ihr Gesicht wird entstellt. In einer toxischen Beziehung mit einem narzisstischen Künstler wird ihr auf einmal Aufmerksamkeit zuteil und sie süchtig nach diesem Gefühl. Von nun an zerstört sie mutwillig ihre Visage mit Medikamenten. Das Make-Up vollzieht in „Sick Of Myself“ die Handlung dieser bösartig-zynischen Gesellschaftssatire mit und wird Ausdruck innerer Hässlichkeit der Aufmerksamkeitsökonomie einer Gesellschaft im permanenten Spiegelstadium.
Best Costume Design • „Do You Love Me?“ (Tonya Noyabrova, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023) • „Metronom“ (Alexandru Belc, 2022) • „Killers Of The Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023)
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„Barbie“ (Greta Gerwig, 2023)
Greta Gerwig hat mit „Barbie“ eine stimmige Welt rein aus postmoderner Markenästhetik geschaffen. Das Kostümdesign hat nicht zuletzt aufgrund des legendären I-Am-Kenough-Fleecehoody Einzug in die Memegeschichte erhalten.
Best Production Design • „There Is A Stone“ (Tatsunari Ota, 2022) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023) • „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023) • „The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023)
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„Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023)
Die Kunst des Szenenbildes ist hier Illustrationskunst innerpsychischer Prozesse. Oder etwas einfacher ausgedrückt: Dass Beau afraid ist, wird in besonderem Maße durch die Ausstattung von Ari Asters Film illustriert. Eine kognitive Tour de Force, von der Exaltation „realistischer“ Kulisse als Ausdruck der Alltagsüberforderung wird „Beau Is Afraid“ immer trippiger und endet schließlich in einer buchstäblichen Bewusstseinsarena. Der geneigte Psychoanalytiker notiert zufrieden nickend mit, wie hier virtuoses Szenenbild an Szenenbild gereiht wird.
Best Score/OST • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023) • „Anatomy Of A Fall“ (Justine Triet, 2023) • „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022)
Kein Film ist in diesem Jahr so häufig nominiert wie Sophie Linnenbaums Erstlingswerk „The Ordinaries“. Aus technischer Sicht mag dieser Film dabei nicht einmal besonders herausragend gestaltet sein, aber seine Designentscheidungen sind durchweg einer genialen Dekonstruktionsgeste nach geordnet. Im Gegensatz zu anderen Filmen, die in einer platonschen Höhle angesiedelt sind, macht sich „The Ordinaries“ gar nicht erst die Mühe, den Anschein einer „echten Welt“ aufzubauen, sondern artikuliert sich sofort als Bühnenwelt, als Traumfabrik. Sodann als reine Farcewelt verstanden, kann sich die Zuschauerin genau mit dem Skelett eines Systems befassen, das vermeintliche gesellschaftliche Fakten produziert und dies einem kulturell legitimierten Klassensystem nach tut. In dieser (dystopischen) Welt, in der das „positive“ Gefühl legitim und die Angst tabuisiert ist, verweist der quietschfröhliche disneyeske Gesang in Linnenbaums Film erst auf sich selbst und darüber hinaus auch auf die Wirklichkeit, auf die Beschaffenheit von Ideologie per se.
Best Sound Mixing • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023) • „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022) • „Oppenheimer“ (Christopher Nolan, 2023)
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„The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023)
Das Offensichtliche und doch Nicht-Gezeigte, der industrielle Massenmord vor der eigenen Haustür erzählt Jonathan Glazer, von einer großen Auschwitzer KZ-Mauer verdeckt, ausschließlich über den Ton. Im Hintergrund rufen die Menschen ihre Todesschreie, knattert das MG und immerzu flicken die Krematorien ihren Klangteppich des nichtendenwollenden Todes. Dabei sind die Proportionen, ja, die akustische Relation zur Handlung des Ehepaar Höß durch das Sound Mixing von noch größerer künstlerischer Relevanz als das was wir in seiner banalen Endlosigkeit hören, was uns schaudern und nachdenken lässt.
Best Sound Editing • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023) • „La Bête“ (Bertrand Bonello, 2023) • „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022)
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„Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023)
Eine ganz eigene Bild-Ton-Logik erzeugt der aus dem Dokumentarfilm stammende Regisseur Giacomo Abbruzzese und seine Cutter Ariane Boukerche und Fabrizio Federico mit „Disco Boy“: Wie eine psychotrope Nahtoderfahrung montieren sich Geräusche und elektronische Bässe zu einer einzigen sinnlichen Erfahrung. Der Regenwald als Technoset, der Pariser Club als Dschungel.
Best Special / Visual Effects • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022) • „Oppenheimer“ (Christopher Nolan, 2023) • „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023)
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„RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022)
Nicht nur aufgrund seiner antikolonialen, dabei aber gleichzeitig auch hindunationalen und militanten Erzählhaltung ist es durchaus möglich, dass man den ambitionierten Bollywood-Hit „RRR“ mal als einen globalen Wendepunkt im Mainstreamkino weg von amerikanischer Kulturhegemonie und hin zu einem selbstbewussten Kino des globalen Südens betrachten wird. „RRR“ sprengt auch ästhetisch alle Grenzen des guten Geschmacks, insofern man den „guten Geschmack“ als etwas an westlichen Standards Erlerntem defininiert. Denn „RRR“ ist pompös, übertrieben, immer gleichzeitig atemberaubend und trashig zugleich. Wenn Stuntdramaturgien gerade dadurch großartig sind, dass sie sich jeglicher seriöser Logik entsagen. Wenn Tiger durch die Luft gleiten, in Zeitlupe zubeißen und dabei dennoch fotorealistischer aussehen als so manches Raubtier des westlichen Effektkinos, dann muss man eingestehen: „RRR“ ist der erste Welterfolg eines Kinos, das keine kalifornischen Vorbilder mehr braucht.
Best Film Editing • „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023) • „There Is A Stone“ (Tatsunari Ota, 2022) • „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023) • „Sonne und Beton“ (David Wnendt, 2023) • „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022)
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„Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023)
Man könnte diesen Film eigentlich ein als Spielfilm getarntes Essay nennen, denn seine dramaturgische Rhetorik erinnert an einen Aufsatz über die „Verdammten dieser Erde“, über die Identität eines globalen Proletariats, seiner Grenzen und Diversitäten. Ein Weißrusse, über dessen Hintergrund wir wenig erfahren, will sich der französischen Fremdenlegion anschließen, doch das Töten eines anderen (afrikanischen) Mannes, verändert ihn, verschmilzt ihn in gewisser Weise mit dem (Blick des) Anderen. Anfangs noch tableaugetriebener Autorenfilm treibt die Montage von „Disco Boy“ die Rogowski-Figur erst in ein psychedelisches, joseph-conradsches Dickicht und dann auf die Tanzflächen der Pariser Clubs.
Best Documentary Feature Nicht vergeben
Best English Language Feature • „Past Lives“ (Celine Song, 2023) • „The Fabelmans“ (Steven Spielberg, 2022) • „Passages“ (Ira Sachs, 2023) • „Reality“ (Tina Satter, 2023) • „Killers Of The Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023)
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„The Fabelmans“ (Steven Spielberg, 2023)
Wer mich kennt, weiß: Ich halte die überwiegenden Teile des Spielbergschen Schaffens für absolut überbewertet und kann mir seine Kanonisierung nur durch Verklärung durch kindlich-biografische Verknüpfungspunkte zahlreicher Kritiker erklären. Anders stellt sich das aber bei seinem wirklich magischen Auto-Biopic „The Fabelmans“ dar. Spielberg kostet hier wirklich Figuren und Situationen inszenatorisch aus, ist auf der Suche nach psychologischen Tiefen seiner Figuren, betrachtet sie nicht nur durch das berühmt gewordene staunende spielbergsche Kinderauge, sondern als ein erwachsener Filmemacher, dem es zudem gelingt, grandiose medienreflexive Gesten in die Geschichte einzubauen.
Best Debut Feature • „Past Lives“ (Celine Song, 2023) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „Reality“ (Tina Satter, 2023) • „Love According To Dalva“ (Emmanuelle Nicot, 2022) • „Autobiography“ (Makbul Mubarak, 2022)
Dieser Film ist eminent politisch. In Zeiten, in denen es als ein bisschen chic gilt, sich gratismutig ein bisschen symbolisch auf die Seite von marginalisierten Gruppen zu stellen, ist „The Ordinaries“ tatsächlich ein Film, der rein gar nicht identitätspolitisch ist, sondern sich mit den Spielregeln eines postmodernen Klassenkampfes auseinandersetzt. Hier geht es explizit um die Frage nach diskursiver Legitmität und wie diese in einem bourdieuschen Sinne mit kulturellem Kapital verknüpft eben auch eine Klassenfrage ist. Linnenbaum findet hierfür fantastische Ausdrucksformen in ihrer Film-Welt, die zur selben Zeit Realität und analytischer Blick auf jene, zur Hälfte Dystopie und zur anderen Hälfte Farce derselben ist. Insbesondere das Drehbuch von Michael Fetter-Nathansky beeindruckt mit soziologischer Explizität einerseits und feinen Andeutungen andererseits, wo der Film selbst sonst womöglich die Grenzen des legitim Sagbaren einstürzen ließe.
Best Adapted Screenplay • „Sonne und Beton“ (David Wnendt, 2023) • „The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023) • „Reality“ (Tina Satter, 2023) • „Killers Of The Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023) • „Scarlet“ (Pietro Marcello, 2022)
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„Killers Of The Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023)
Der deutsche Holocaust war auch deswegen eine solche geschichtliche Ausnahmeerscheinung, weil er in nur wenigen Jahren eine große historische Umwälzung vollziehen wollte, ja, einem (dem eigenen Verständnis der Nazis nach) revolutionären Sprung in eine heile, arische Welt wagen wollte. Die meisten Völkermorde jedoch vollziehen sich subtiler, schleichender, nicht als Zäsur, sondern geben sich selbst bewusst den Anschein eines natürlichen Prozesses. Martin Scorsese hat diese Form des Völkermords, die an vielen Orten dieser Welt gerade ähnlich stattfindet, an einem historischen Beispiel in den USA der 1920er Jahre genial herausgearbeitet. Selbst in familiären Bunden wirkt das Ungleichsein der Völker fort und wartet auf den richtigen Augenblick, sein teuflisches Werk zu vollenden. Nebenbei ist Scorsese auch eine berührende Liebesgeschichte und ein weiterer epischer Spätwestern in seinem so reichen Schaffen gelungen.
Best Original Screenplay • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „The Night Of The 12th“ (Dominik Moll, 2022) • „The Delinquents“ (Rodrigo Moreno, 2023) • „About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023) • „Anatomy Of A Fall“ (Justine Triet, 2023)
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„About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023)
Im Fokus von Nuri Bilge Ceylans Drehbüchern steht die Komplexität (zwischen)menschlicher Psychologie, wie sie in der filmischen Welt wohl keine Entsprechung neben Ceylan und in der Literatur am ehesten im russischen Realismus des 19. Jahrhunderts hat. Ceylan macht überspezifische Niederungen menschlicher Existenz nachfühlbar, deutet dabei aber auch immer über die Figuren hinaus in einer erzählerischen Gemäldehaftigkeit, die gleichzeitig universell als auch gesellschaftspolitisch determiniert ist. Man kann der Größe dieser dreistündigen Erzählung von „About Dry Grasses“ kaum mit einer einzigen Sichtung gerecht werden.
Goldgelbe Farbtöne bestimmen die Farbpalette eines Filmes, der auch seiner Handlung nach einfach unoffensiv schön ist. So wie Celine Song drei Figuren und zwei Welten miteinander in Einklang bringt, so kommuniziert auch Shabier Kirchners zwischen der etwas steif-romantischen koreanischen Sphäre und der amerikanischen Ostküste, in der Liebe irgendwie ironisierter und indirekter zu sein scheint. Für ein Film, in dem Menschen aufeinandertreffen und miteinander reden, ist Kirchners Kamera zudem ein wahres Feuerwerk an kinematografischen Einfällen.
Best Casting Director • „Sonne und Beton“ (David Wnendt, 2023) • „Love According To Dalva“ (Emannuelle Nicot, 2022) • „About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023) • „Delegation“ (Asaf Saban, 2023) • „Metronom“ (Alexandru Belc, 2022)
Der Tellerrand für das beste Casting hat häufigerweise eine politische Implikation, da Besetzungsethik einen gewaltigen Teil diskursiver Wirkmächtigkeit eines Films besetzt. Im mittlerweile berühmt gewordenen Bonmot von Buchautor Felix Lobrecht, auf dessen Roman dieser Jetzt-schon-Kultfilm basiert, Netflix-Redakteure hätten eine arabische Dealergang lieber mit lesbischen Alman-Mädchens besetzt, zeigt sich das ganze Dilemma einer identitätspolitischen Wünschdirwas-Ideologie, die Wirklichkeitsverzerrung mit pseudolinker Correctness verbrämt. Aber links ist gerade das, was die Herrschaften um Lobrecht, Wnendt und Co mit dieser nahezu perfekten Buchadaption durchsetzten (und man darf mutmaßen, dass ihnen das leider nur durch die Macht ihrer eigenen Berühmtheit gelungen ist): „Sonne und Beton“ ist wirklich mit Berliner Jungs „von der Straße“ besetzt, die wissen, wie man spricht, sich bewegt und denen in ihrem Spiel politisch korrekte Befindlichkeiten komplett scheißegal sind. Die Alternative zu fantastischen Neuentdeckungen wie Levy Rico Arcos oder Aaron Maldonado Morales wären wohl die klassischen etablierten Agenturgesichter gewesen, die soziologisch gesprochen viel zu weit weg von dem dargestellten Vibe aufgewachsen sind. Wenn man schon eine identitär motivierte Besetzung einfordert, dann doch bitte so wie hier. Mit „Sonne und Beton“ hat eine Felix-Lobrecht-Verfilmung, ein deutscher Mainstream-Film, neue Wege des Mach- und Sagbaren bestritten und damit den deutschen Film ein bisschen gerettet.
Best Supporting Actress • Neomi Harari („Delegation“) • Pauline Serieys („The Night Of The 12th“) • Fanta Guirassy („Love According To Dalva“) • Ece Bağcı („About Dry Grasses“) • Michelle Williams („The Fabelmans“)
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Ece Bağcı („About Dry Grasses“)
Auf eine unausgesprochene Weise ist Samet, Hauptfigur in „About Dry Grasses“, der Grundschülerin Sevim erlegen. Unwahrscheinlich, dass es eine (reine) sexuelle Obsession ist (ebensowenig auszuschließen), aber doch: In der Fantasie, dass das Schulkind sich in ihn verliebt haben könnte, spiegelt sich eine narzisstische Bestätigung. Ece Bağcı spielt diese Schülerin unnachahmlich, tatsächlich liegt in ihr etwas seltsam Betörendes. In der schauspielerisch wohl aufregendsten Szene des gesamten Filmjahres konfrontiert Samet das Mädchen mit Gerüchten, die es vermeintlich gegen den Lehrer in die Welt gesetzt habe und Sevim lässt Samet, der in ihr eine erwachsene Intrigantin und komplexes romantisches Verhalten hineinprojiziert, auflaufen, in dem sie in diesem Moment ganz und gar Kind ist. Etwas verwirrt von der Situation, bockig, sie wüsste nicht, was er meint. In dieser Szene im Speziellen und Ece Bağcıs Spiel im Allgemeinen überträgt sich die Projektionsunschärfe der Hauptfigur Samet auch auf die Zuschauerschaft. Eine Erscheinung.
Best Supporting Actor • Robert de Niro („Killers Of The Flower Moon“) • Devid Striesow („Wann wird es endlich so, wie es nie war“) • Ben Wishaw („Passages“) • Arswendi Nasution („Autobiography“) • Brian Tyree Henry („Causeway“)
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Brian Tyree Henry („Causeway“)
„Causeway“ von Lila Neugebauer ist fantastisches Schauspielkino der Zwischentöne. Bis auf eine einzige Szene, in der sich das Unausgesprochene auf einmal brutal Bahn bricht, treffen mit Jennifer Lawrence als Ex-Soldatin und Brian Tyree Henry als schwerbehinderter Automechaniker James zwei Menschen aufeinander, die sich freundschaftlich annähern und vor allem, nunja, abhängen. Selten sah man gemeinsames Eisessen und Jointrauchen mit so vielen subtilen Details versehen, die tief in Vergangenheit und Gegenwart der Figuren und deren zwischenmenschlichen Verortungen reichen. Brian Tyree Henrys Figur ist würdevoll, cool, nahbar, zerbrechlich; und Ausdruck der Wahrheit, dass man die tragischen Erlebnisse einer neuen Bekanntschaft zumeist in Form beiläufiger Bemerkungen begreift.
Best Actress • Jennifer Lawrence („Causeway“) • Zelda Samson („Love According To Dalva“) • Merve Dizdar („About Dry Grasses“) • Sandra Hüller („The Anatomoy Of A Fall“) • Lily Gladstone („Killers Of The Flower Moon“)
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Sandra Hüller („The Anatomoy Of A Fall“)
In einem der stärksten Jahrgänge weiblicher Leadperformances, an die ich mich erinnern kann, verleihe ich den Goldenen Tellerrand an Sandra Hüllers beste Karriereleistung. Zusammen mit dem brillanten Drehbuch schultert Hüllers Spiel Justine Triets Film. Das Gesicht der Hüller wird zu einer Oberfläche, die das Publikum nach Wahrheit und Lüge absucht, zweieinhalb Stunden lang, und dabei bis zum Ende nicht mit ganzer Sicherheit fündig wird. Müde, überfordert, dann wieder ganz gefasst, vielleicht auch kalküliert? Eine Topographie der Gesichtsregungen. Eine Backstory, die nur einmal in einer Rückblende sichtbar wird und sonst der Publikumsfantasie überlassen ist, schwebt immer unscharf zwischen den Zeilen des Gesagten. Dieser Fast-Monolog, diese One-Woman-Show von Sandra Hüller ist schauspieltechnisches Endgegnerkino
Best Actor • Gabriel LaBelle („The Fabelmans“) • Levy Rico Arcos („Sonne und Beton“) • Raphael Thierry („Scarlet“) • Christian Friedel („The Zone Of Interest“) • Deniz Celiloğlu („About Dry Grasses“)
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Deniz Celiloğlu („About Dry Grasses“)
Dem Ceylanschen Kino liegen häufig tiefe Schürfungen in Männerfiguren zugrunde, die mit „schwierig“ noch schmeichelhaft zu beschreiben sind. Das Narzisstische, Verächtliche, mitunter Misanthrope einer Figur wie Samet in „About Dry Grasses“ deutet immer auch ein wenig auf den Ruf, den auch Ceylan in der Filmwelt selbst zu haben kolportiert wird. Diese Form der Selbsttherapie kann man sehr uneitel oder andersherum auch besonders eitel finden, in jedem Fall ist es beeindruckend, wie Ceylan es immer wieder gelingt, die richtigen Gesichter für seine Rollen zu finden und sie wie im Falle Deniz Celiloğlu an die Grenzen der Schauspielkunst zu treiben. Die Selbstzweifel, in Verachtung sublimiert, die Samet durch rücksichtslose Manipulation seiner Mitmenschen spürbar macht, dringen durch jede Pore.
Best Director • Nuri Bilge Ceylan („About Dry Grasses“) • Steven Spielberg („The Fabelmans“) • Tatsunari Ota („There Is A Stone“) • Justine Triet („Anatomy Of A Fall“) • Martin Scorsese („Killers Of The Flower Moon“)
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Nuri Bilge Ceylan („About Dry Grasses“)
Als Nuri Bilge Ceylan in den 90er-Jahren zum Film kam, tat er das gewissermaßen als Quereinsteiger von der Fotografie. Sein zweiter großer Einfluss mag die Literatur sein, insbesondere der russische Realismus um Dostojewksi, Tolstoi, Tschechow und Co. Über die Jahre seines Schaffens hat er einen Stil entwickelt, in der das Fotografische und Literarische zusammenwirken und einen Realismus erzeugen, der fernab des etablierten Arthouse-Realismus anzusiedeln ist, wohl deshalb, weil er nicht einem vermeintlichen Naturalismus nachjagt und dabei nicht minder um große Motive und Gesten verlegen ist. Wie ganz wenige Regisseure der Filmgeschichte (ja, diesen Superlativ mache ich auf), schafft es Ceylan einen Sog zu entwickeln, in dem man über die Brillanz seines Stils abgewickelt, Längen und erzählerische Auswüchse nicht als Unförmigkeiten, sondern als erzählerischen Skulpturcharakter akzeptiert. „About Dry Grasses“ ist Ceylans möglicherweise reifster Film. Wir sehen hier einen großen Künstler auf dem Höhepunkt seines Schaffens.
Best Picture • „The Fabelmans“ (Steven Spielberg, 2022) • „Past Lives“ (Celine Song, 2023) • „There Is A Stone“ (Tatsunari Ota, 2022) • „The Ordinaries“ (Sophie Linnenbaum, 2022) • „About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023) • „The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023) • „Anatomy Of A Fall“ (Justine Triet, 2023) • „Sonne und Beton“ (David Wnendt, 2023) • „Passages“ (Ira Sachs, 2023) • „Killers Of The Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023)_ÄÄ
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„About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023)
Manchmal erfüllt der am meisten erwarteste Film des Jahres auch ganz einfach seinen Soll. Ich hatte das große Glück, Nuri Bilge Ceylans neuen Film auf meinem Auslandssemester in Istanbul zu sehen und somit auch in einem kulturellen Environment, in dem der Film dasselbe Großevent wie für mich persönlich war. Lustvolle Diskussionen rankten an so manchem Abend um diesen besten Film des Jahres. In einem Filmjahr mit „nur“ 74 von mir gesehenen Releases gelingt es Ceylan zudem erstmals mit fünf Tellerrändern einen neuen Rekord aufzustellen, sowie die Preise für Regie und Best Picture gleichermaßen zu gewinnen. Tebrik ederim!