Ein Kampf mit der Natur, ein Kampf mit den Geschlechterrollen.
Originaltitel: Turist
Alternativtitel: Höhere Gewalt
Produktionsland: Schweden, Dänemark, Frankreich, Norwegen
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Ruben Östlund
Drehbuch: Ruben Östlund
Produktion: Erik Hemmendorff, Marie Kjellson
Kamera: Fredrik Wenzel
Montage: Jacob Secher Schulsinger
Darsteller: Kristofer Hivju, Lisa Loven Kongsli, Johannes Kuhnke, Clara Wettergren, Vincent Wettergren
Laufzeit: 120 Minuten
Die französischen Alpen haben sich Tomas (Johannes Kuhnke) und Ebba (Lisa Loven Kongsli) für ihren Urlaub ausgesucht. Zusammen mit ihren zwei Kindern wollen sie Skifahren und das wunderbare Wetter auf ihrer Berghütte genießen. Dann allerdings löst sich eine gewaltige Schneelawine und bringt das Leben der schwedischen Familie in Gefahr. Während die Naturkatastrophe jedoch noch einmal glimpflich ausgeht, sind es die Nachwirkungen derselben, die die Beziehung der einzelnen Familienmitglieder auf eine harte Probe stellen: Denn während Ebba im Angesicht des Unglücks alles dafür tat, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, dachte Tomas zu diesem Zeitpunkt nur an sich und ergriff die Flucht.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Neben dem verflixten siebten Jahr ist es laut dem Volksmund vor allem der Urlaub, der eine Beziehung auf eine harte Probe stellen und nicht selten zerstören kann. Kein Wunder, denn ein Urlaub wird mit der Absicht begonnen, besonders viel Spaß zu haben und so kann schon beim kleinsten Einbruch dieser Vorstellung eine Spirale aus schlechter Stimmung und Streits in Gang gesetzt werden, die eine Beziehung für immer belasten oder augenblicklich beenden kann. „Höhere Gewalt“ nutzt dieses Motiv, um sich dann doch wieder auf ganz andere Dinge zu konzentrieren: Das Selbstverständnis von Geschlechterrollen, die noch immer hochaktuell sind und gerade im Emanzipationsprozess besonders interessant sind. Ruben Östlund trägt seinen Konflikt so stark geschrieben und neutral positioniert aus, dass er nicht nur die Beziehung der Filmfiguren, sondern womöglich sogar die der Zuschauer auf eine Probe stellen könnte. Weswegen dieser Film für ein verheiratetes Paar mit Kindern womöglich mehr über die Fortsetzbarkeit ihrer Ehe aussagen könnte als das Gutachten eines Ehe-Therapeuten.
Eine Plakatfehler-Anekdote
Zunächst mal eine persönliche Anekdote: Ich informiere mich so wenig wie möglich über Filme, bevor ich sie schaue und leite mich nur von allgemeinen Resonanzen (mit möglichst wenigen Details), sowie Faktoren wie Regisseur-Name etc. ob ich einen Film schaue. Als ich nun in das Kino meines Vertrauens ging, um mir „Höhere Gewalt“ anzusehen, prangte am Kinoplakat ein FSK-18-Symbol. Ich dachte mir „Huch, was könnte an einem Film, der von Wintersport und Lawinen handelt (so viel wusste ich dann doch schon) bitte schon so brutal sein, dass er ab 18 ist?“. Letzten Endes saß ich in diesem Film und zuckte bei jeder noch so ereignislosen Gondelfahrt zusammen, da ich das Unheil förmlich kommen sah und es in meinem Kopf furchtbar grausam sein musste. Letztendlich ist „Höhere Gewalt“ lediglich ab 12 freigegeben, aber das schließt ja wiederum auch nicht aus, dass in diesem Film furchtbare Gräuel passieren. Aber auch wenn meine persönlich erlebte Spannung durch einen Plakat-Fehler meines Lieblingskinos verstärkt wurde (von höherer Gewalt sozusagen), ist die unterkühlte Atmosphäre, in der jeder Zeit etwas Unerwartetes lostreten kann, doch eine unbestreitbare Attraktion in Östlunds Film.
Und tatsächlich sind die französischen Alpen eine selten erlebte cineastische Zelebrierung von Natur im ständigen, aber gezähmten Kriegszustand mit dem Menschen. Wie Gondeln in Schwindel erregender Höhe über die Berge tanzen, Schneeraupen die Pisten planieren und die grellen Lichter der Nobelhotels die Besiedelung eines eigentlich unbesiedelbaren Ortes reiner Natur triumphal ausstellen: hier schwebt jederzeit der Einbruch von (Natur)-Gewalt in der Luft. Östlund findet Bilder, die scheinbar vermitteln wollen, dass dieser Zustand nicht permanent sein kann. Dass die wundersame Unnatürlichkeit dieser Bilder nur ein Trug sein kann. Dass hier irgendwas, irgendwann zusammenbrechen muss.
Ein moralisches Dilemma
Aber findet (zunächst?) der Ausbruch der Gewalt nicht äußerlich, sondern rein innerlich statt. In der Ehe von Tomas und Ebba, die zusammen mit ihren Kindern Vera und Harry eine bedrohliche Schneelawine zwar überleben, Tomas sich aber im Angesicht des nahenden Todes nur um sein eigenes Leben schert und die Flucht ergreift, seine Familie im Stich lässt. Was jetzt losbricht ist die Diskussion eines moralischen Dilemmas im Stile eines Asghar Farhadi: Ist dieser Selbstschutzreflex verzeihbar? Ist er für einen Vater und Ehemann verzeihbar? Ist er überhaupt für Eltern und Eheleute verzeihbar, abseits von Geschlechterrollenverständnissen? Und wie hätte ich gehandelt?
Kommentar auf Geschlechterrollen
Jedenfalls nicht wie Tomas, ist sich Ebba sicher. Obwohl sie eine durchaus moderne junge Mutter ist, hat sie ein klares Verständnis einer starken Vaterrolle, der sein Leben riskieren würde, um seine Kinder auch nur ein Hauch einer Überlebenschance zu gewährleisten. Auch ein durchaus zutreffender Kommentar auf Geschlechterrollen in Zeiten der Emanzipation: Frauen dürfen jetzt die starken, karriereorientierten Rollen einnehmen, aber von Männern wird in der Regel eben immer noch klassisch männliche Eigenschaften erwartet. Ein Heroismus, wie ihn Männer wie Tomas vielleicht gar nicht bewusst wählen können, da wir im Angesicht einer Todesangst möglicherweise mehr instinktiv-affektisch als wirklich an bewusste Ideale gekoppelt handeln. Tomas zerbricht zunehmend an seinem bereits zerbrochenen Bild von sich selbst, in einer Kernszene zeigt Östlund männliche Emotionalität in all ihrer Jämmerlichkeit. Aber später gewährt er ihm auch seinen eigenen kleinen Heroismus, in dem Tomas eine geradezu lächerliche Gefahr bändigt, aber für einen Moment den Status des starken Familienvaters zurückerlangen kann. Auch wenn Tomas und Ebba an die Grenzen der Würdelosigkeit gehen, ein Rest Würde räumt der norwegische Regisseur seinen Figuren doch immer ein.
„Höhere Gewalt“ wird oft als Satire bezeichnet, dabei ist die emotionale Distanz zwischen Figuren und Zuschauer im Grunde ziemlich gering. Östlund erreicht dies durch klug geschriebene Punchlines und ein wuchtiges Schauspiel, vor allem von der großartigen Hauptdarstellerin Lisa Loven Kongsli. Dabei muss man schon sehr zynisch an diesen Film rangehen, um von der emotionalen Nacktheit der Figuren tatsächlich sowas wie etwas Heiteres abzugewinnen. Die Tiefe mit der Östlund hier Geschlechterrollen anfasst, ist jedenfalls so eindrucksvoll ausgefallen, dass nur Pärchen, die sehr sicher in ihrer Rollenverteilung sind, über diesen Film herzlich lachen können.
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