Wo bin ich und wo gehöre ich hin?
Originaltitel: Le Passé
Alternativtitel: Le Passé — Das Vergangene
Produktionsland: Frankreich / Iran
Veröffentlichungsjahr: 2013
Regie: Asghar Farhadi
Drehbuch: Asghar Farhadi
Produktion: Alexandre Mallet-Guy
Kamera: Mahmoud Kalari
Montage: Juliette Welfling
Musik: Evgueni Galperine, Youli Galperine
Darsteller: Bérénice Bejo, Tahar Rahim, Ali Mosaffa
Laufzeit: 130 Minuten
Nach vier Jahren der Trennung kehrt Ahmad (Ali Mosaffa) von Teheran nach Paris zurück, um von seiner Noch-Ehefrau Marie (Bérénice Bejo) geschieden zu werden. Die Apothekerin lebt inzwischen mit dem Wäschereibetreiber Samir (Tahar Rahim) zusammen. Die beiden wollen heiraten, nur die Unterschrift unter Maries Scheidungspapiere scheint dem noch entgegen zu stehen. Die Probleme des Paares werden aber nach und nach offensichtlich: Maries 16-jährige Tochter Lucie (Pauline Burlet) kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, sie hasst den neuen Liebhaber ihrer Mutter. Warum das so ist, das soll Ahmad herausfinden, denn Marie ist ebenso ratlos wie überfordert. In ihrem Haushalt leben auch noch ihre jüngere Tochter Léa (Jeanne Jestin) und Samirs fünfjähriger Sohn Fouad (Elyes Aguis), der ebenfalls schwierig ist und unter den komplizierten Familienverhältnissen leidet. Seine Mutter Valeria (Valeria Cavalli) liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma – ohne Aussicht auf Rückkehr ins bewusste Leben. Das belastet die gesamte Familie.
Quelle: Filmstarts.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 13.11.2013)
Die gute Nachricht vorweg: Wer diesen Film sehen will, weil ihm „Nader & Simin“ gefiel, wird von „Le Passé“ nicht enttäuscht werden. Obwohl es der erste europäische Farhadi-Film ist, ist sein aktuelles Werk ebenso psychologisches Dialogkino, das sich sogar um dieselben Konfliktthemen dreht (Scheidung, Liebe, Ehre, Wahrheit) und sich ganz ähnlicher erzählerischer Mechanismen bedient. Nachdem der Iraner seinen Stil spätestens in „Nader & Simin“ fand, gelingt ihm hiermit eine artgerechte Transformation in einen französischen Kontext und ganz nebenbei ein in jeglicher Hinsicht überragendes Beziehungsdrama.
Politisch durch Selbstverständlichkeit
Für Drehbuch-Pedanten ist Asghar Farhadi die wohl heißeste Aktie im aktuellen Weltkino. Auch in „Le Passé“ gelingt es ihm seine Figuren tief psychologisch zu strukturieren, eine Mitte zwischen Sympathie und Distanz zu jeder zu finden, sodass ein etwaiges Urteil ganz dem Publikum überlassen werden kann und sie erfolgreich dramatisch genial gegeneinander auszuspielen. Natürlich ist es nicht ganz zufällig, dass er als Iraner Immigranten aus muslimischen Ländern in seine Geschichte einbindet, aber das verkommt schnell zur Nebensache. Die erzählte Geschichte ist universell und die einzige politische Fußnote des Films ist vielleicht, dass Religion und Ethnie für die Beziehungen der Menschen untereinander einhundert Prozent irrelevant sind und er somit (freiwillig oder nicht) ein Frankreich zeichnet, wie es gerade nicht unbedingt üblich ist.
Ein Kriminalfilm mit Waschsalon
„Le Passé“ erinnert erzährhythmisch nicht selten an einen Kriminalfilm; es gibt eine titelgebende Vergangenheit, die rekonstruiert werden muss. Farhadi-typisch ist hier wirklich jedes noch so kleine Detail von evidenter Bedeutung. Vieles wird erst nach und nach erhellt und jede Figur kann mit einem unerwarteten Geständnis die Dynamik des Films komplett auf den Kopf stellen. Im Gegensatz zu „Nader & Simin“ ist dieser erste europäische Farhadi-Film explosiver in seiner Emotionalität und mutiger in seiner Bildwahl. Schlecht ist das nicht, denn von falschen Sentimentalitäten ist Farhadi weit entfernt, es ist aber weniger detailliert und komplexer als die Screenplay-Wucht seines Vorgängerfilms. Dafür gelingt es „Le Passé“ besser sich bildlich auszudrücken. Nicht umsonst spielt in der Geschichte ein Waschsalon eine große Rolle. Es geht um das Reinwaschen von Schuld oder den säubernden Effekt, die Vergangenheit zu bewältigen, um die schmutzigen Flecken der Vergangenheit. Dass die Bettdecke in der Endeinstellung der wohl weißeste Gegenstand des Films ist, wird auch keine zufällige Wahl gewesen sein. Ebenjene letzte Einstellung ist übrigens nichts Geringeres als Filmgeschichte.
„Wo bin ich?“ und „Wo gehöre ich hin?“
Diese dunkle Vergangenheit, die dieser Film umkreist und seziert ist letztlich eine, an der alle Figuren irgendwie teilhaben und in der niemand unschuldig ist. Dass die Geschichte in eine französisch-belgisch-arabisch-persischen Patchwork-Familie installiert wird, ist dann vielleicht doch ein schöner Kommentar zur multikulturalistischen Gesellschaft, der darin erinnert, dass jeder Teil der Geschichte und ihrer Verantwortung ist und sich niemand aus der Affäre ziehen kann, nur weil er sich nicht national damit identifizieren kann. Das „Wo bin ich?“ und „Wo gehöre ich hin?“ fragt der Film geschickt zwischen den Zeilen, ohne dabei konkret zu werden. Die Antwort scheint zu lauten: Jedenfalls gibt es kein Fortschreiten ohne Umgang mit dem Vergangenen.
Alltäglichkeitsuniversen
Wieder hat Farhadi aus einer Alltäglichkeit ein kleines Universum geschaffen. Wo man sich bei „Nader & Simin“ noch selbst belügen und den Film zum Spiegel der iranischen Gesellschaft runterbrechen konnte, gibt es jetzt keine Entschuldigungen mehr. Farhadi ist die vielleicht vielversprechendste Stimme des gegenwärtigen Arthouse-Kino überhaupt. Man kommt nicht mehr darum herum, seine Filme zu sehen. Somit ist „Das Vergangene“ ironischerweise vielleicht ein unweigerlicher Hinweis auf das, was da noch kommen wird.
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