Swjaginzew zwischen Kunst und Politik.
Originaltitel: Левиафан (Lewiafan)
Produktionsland: Russland
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Andrej Swjaginzew
Drehbuch: Andrej Swjaginzew
Produktion: Sergei Melkumow, Alexander Rodnjanski
Kamera: Michail Kritschman
Montage: Anna Mass
Musik: Philip Glass
Darsteller: Alexej Serebrjakow, Jelena Ljadowa, Sergej Pochodajew, Wladimir Wdowitschenkow, Roman Madjanow u.A.
Laufzeit: 142 Minuten
Kolya (Aleksey Serebryakov) lebt in einem Dorf in der Nähe vom Barentssee in Nord-Russland. Er betreibt eine kleine Autowerkstatt, die gleich neben seinem Haus gelegen ist, wo er mit seiner jungen Frau Lilya (Elena Lyadova) und seinem Sohn Roma aus erster Ehe lebt. Ihr ruhiger Alltag erfährt ein plötzliches Ende, als der korrupte Bürgermeister des Dorfes (Roman Madyanov) sich die Werkstatt, das Haus und das Land der Familie unter den Nagel reißen will. Zunächst bietet er Kolya Geld, aber der lehnt entschieden ab. Kolya will nicht alles verlieren, was er besitzt. Nicht nur das Land, sondern auch die ganze landschaftliche Schönheit, die ihn seit dem Tag seiner Geburt umgibt. Als der Bürgermeister in seinem Vorgehen immer skrupelloser wird, bittet Kolya seinen besten Freund Dmitri (Vladimir Vdovichenkov), der mittlerweile Anwalt in Moskau ist, darum, ihm zu helfen. Er ahnt nicht, dass dieser Schritt sein Leben für immer verändern wird.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(Ursprünglich: ein Essay für das Medienwissenschaftsstudium, 3. Semester)
Ich sitze in einem Café in Weimar und habe so eben eine russische Austauschstudentin kennengelernt. Nennen wir sie Klara. Es ist bei weitem nicht so als dass ich mit einer Russin nur über Filme reden könnte, aber sobald sich ein fruchtbarer Zugang zu diesem Thema ergibt, bin ich natürlich erst recht nicht zu stoppen. Dabei kann man noch so viel über Tarkowskij oder Eisenstein reden, man gelangt früher oder später zwangsläufig auf den Mann der Stunde zu sprechen: Andrej Swjaginzew (sprich: Swjáginzew, wie man mir beibrachte). Klara fragt mich, ob ich Swjaginzews Filme tatsächlich gut finde oder sie nur aus politischem Interesse verfolge. Ich zwinkere ihr zu und verrate ihr, dass genau das das Thema eines Essays werden soll, das ich für die Uni verfassen soll.
Ein von Putin gehasster Film
Swjaginzew hat mit „Leviathan“, seinem aktuellen Film, den Drehbuchpreis in Cannes gewonnen, eine Nominierung für den Auslands-Oscar erhalten und dieselbe Kategorie bei den Golden Globes gar gewinnen können. Einer der größten filmischen Erfolge des kontemporären russischen Films. Und das in dem Jahr, welches Putin als Russlands Kultur-Jahr ausgerufen hatte. Aber das alles waren Preise, die Putins Regierung nicht wollte. „Leviathan“ ist ein düsteres und elegisches Bild der russischen Gesellschaft, ein Film voller dreist offensichtlicher regierungskritischer Anspielungen. Und mit jedem Erfolg, den Swjaginzews Film verbuchen konnte, wurde die innerrussische Rezeption des Films feindlich gesinnter. Nach dem Drehbuchsieg hieß es seitens des Ministeriums für Kultur: „Sicher ist hier viel Talent zu sehen, aber ich mochte den Film nicht.“
Als „Leviathan“ bei den größten amerikanischen Filmpreisen Golden Globes und Academy Awards gastierte, hieß es schon: „Swjaginzew scheint die Russen nicht zu mögen, dafür aber Ruhm, rote Teppiche und Filmpreise.“
„Leviathan“ war in letzter Konsequenz jener Film, der die russische Filmindustrie mit neuen Restriktionen und Moralkodizes überzog. Geflucht werden darf im russischen Film nicht mehr – „Leviathan“ kam erst im Februar 2015 ins russische Kino, mit Pieps-Tönen zensiert – und generell sollen keine Filme mehr gefördert werden, die Russland allzu pessimistisch abbilden. Selbst ein Verbot des Films stand öfters zur Debatte. „Leviathan“ ist zu einem Politikum geworden, bei dem der Blick auf den Kunstwert in den Hintergrund zu rücken droht. Kritiker, die die Russland-Kritik platt und unnötig finden, gibt es aber durchaus auch im Westen, Bewunderer des Films natürlich auch in Russland. Die Wahrheit liegt also wohl ein weiteres Mal in der Mitte. Und wenn doch nicht, dann gilt es sie zu finden. Was ist das, „Leviathan“, also für ein Film?
Eine Geschichte ohne Hoffnung
Wir sehen darin einen russischen Bürger, Nikolai, der am Barentssee mit eigenen Händen ein Haus errichtet hat. Er hat dort eine Familie gegründet, im Grunde sogar mehr als eine Familie, denn die Mutter seines Sohnes Roman ist bereits fort und Nikolai hat mit der schönen Lilja eine Stiefmutter für ihn gefunden. Dieses Haus am See wird für den Film zum erzählerischen Zentrum, denn es ist die erklärte Heimat, die es zu verteidigen gilt. Vor niemand Geringerem als der staatliche Machtinstanz selbst. Der gierige und korrupte Bürgermeister und Putinist Wadim will diese Immobilie abwerben, um dort eine Kirche zu errichten und will Nikolai mit einer lächerlichen Rubel-Summe abspeisen. Der Bürgermeister hat nicht nur ebenjene Kirche auf seiner Seite, sondern auch die lokale Justizmacht und zu guter Letzt scheint auch Fortuna auf seiner Seite. Denn selbst sein bester Freund und ehemaliger Armeekamerad Dmitri, der als Jurist aus Moskau anreist, um Nikolai zu helfen, fällt ihm in den Rücken, schläft mit seiner Frau und lässt sich schließlich von dem Bürgermeister Wadim zur Flucht bewegen. Nikolai verfällt dem Alkohol und verliert schließlich, als seine Frau tot aufgefunden wird und er des Mordes beschuldigt wird, auch sein Haus am See. Es wird abgerissen, eine Kirche wird dort errichtet. Nikolai muss ins Gefängnis. Damit endet Swjaginzews Film.
Bockig-jugendliche Kritik
Politisch ist dieser Film ohne Frage. Auch sind die Hinweise auf seinen politischen Gehalt so offensichtlich gesetzt, dass Swjaginzews Impetus hier dem eines bockigen Jugendlichen entspricht, dessen rebellische Attitüde gerade in der ausbleibenden Subtilität und Grobschlächtigkeit, seinen rebellischen Charakter erst erreicht. Korrupte Geschäfte zwischen Politik und Klerus, die als maximal verzahnt suggeriert werden, hält man in „Leviathan“ unter Putin-Porträts ab. Sozial prekär gestellte Russen betrinken sich zur Besinnungslosigkeit und schießen mit AK47-Gewehren auf Gemälde ehemaliger Staatsoberhäupter; für die aktuellen Oberhäupter sei es noch nicht Zeit. Die Substitution des Hauses zur Kirche erinnerte viele Kritiker an die Siedlungspolitik der Regierung zum Großereignis der Winterolympiade in Sotschi. Die russischen Zensoren liegen keinesfalls falsch mit der Annahme, dass dieser Film die Kirche als bigott, die Politik als korrupt und die Gesellschaft als hoffnungslos darstelle, kurzum: ein Film gegen die Politik Putins sei.
Politisches Timing egoistisch wie genial
Und ich wage zu behaupten: Andrej Swjaginzew hat mit „Leviathan“ genau das provoziert, was eingetreten ist. Eine Einschränkung der (künstlerischen) Rechte einer ganzen nationalen Filmindustrie. Ein gebildeter Filmemacher, wie Sjaginzew einer ist, dürfte in der Lage zur Antizipation gewesen sein, was passieren würde, wenn man einen solchen Film voller dreister Systemkritik auf einer Weltbühne wie den Cannes-Filmfestspielen präsentiert, im politischen Klima der Krim-Krise, die nicht wenige sogar als (Beginn eines) neuen Kalten Krieg(es) interpretieren. Diese über den Film hinausgehende Strategie des Films ist gleichzeitig egoistisch wie genial. Einerseits egoistisch, da Swjaginzew wissentlich in Kauf nahm, anderen Filmemachern des Landes ihre inhaltlichen und handwerklichen Arbeitsmethoden einzuschränken, andererseits eben auch genial, da der Kampf innerhalb des Films vom Bürger gegen den übermächtigen Staatsapparat hier außerhalb des Films, über die vierte Wand hinaus quasi, repetiert wird. Das erinnert entfernt an „Citizen Kane„, der bei den Oscar-Verleihungen 1941 in Kauf nahm, leer auszugehen, indem man kritisch auf den real existierenden Zeitungsmagnaten William Randolph Hearst anspielte, der damals Teil des Machtapparats Academy Awards war.
Allerdings ist Swjaginzew nicht (nur) Verräter an seinen Kollegen politischer Filmkunst, sondern auch ein produktiver Antreiber und Märtyrer. Ein Präzedenzfall wie der von „Leviathan“ kann auch andere Filmemacher dazu anregen, filmisch gegen die Regierung an zu arbeiten, wissend, dass Swjaginzew diesen Diskurs in den Fokus der Weltöffentlichkeit bewegt hat. Und wie man auch im äußersten Falle politischer Restriktion politische Filme machen kann, zeigt der Iran, wo Jafar Panahi bereits seit fünf Jahren ein Berufsverbot hat und gerade durch die Einschränkung bzw. dem Verbot seiner Arbeit zu Höchstleistungen angestachelt wurde. Sein Film „Taxi Teheran“ gewann auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären. Ein Kopfstoß Richtung iranischer Politik, wie auch Russland ihn fürchten dürfte: Die Auszeichnung eines innenpolitischen Gegners unter einer internationalen Jury, eine Anmaßung des Westens er würde in seiner Kritik im Namen der Welt sprechen. Eventuell eine berechtigte, aber eine Anmaßung.
Quo vadis, russischer Film?
Die Entwicklungen der russischen Filmindustrie sind auch deshalb interessant, da der aktuelle russische Film insgesamt ein düsteres und sozialkritisches Inneres beherbergt. Filme von Sergej Losnitsa, Alexej Popogrebski, Alexej Fedorchenko usw. zeigen soziales Elend und ein uneindeutiges, nebulöses politisches Klima. Quo vadis, russischer Film? Politische Restriktionen können diese filmische Bewegung (wenn man sie als solche definieren möchte) eindämmen oder noch mehr verschärfen. Auch die Rolle internationaler Festivals als Bühne für eine solche Filmkunst spielt darin natürlich eine entscheidende Rolle.
Nun sind internationale Filmfestivals im Idealfall aber keine Klagebühnen für Dissidenten, sondern sollten zum Ziel haben ästhetische bzw. narrative Leistungen zu honorieren. Der Youtuber Wolfgang M. Schmitt, bekannt durch seine Show „Die Filmanalyse“, kritisiert genau das an „Leviathan“. Swjaginzews Film sei platte politische Provokation und filmisch komplett untalentiert. Schmitt leugnet jegliche Doppelbödigkeit des Films und bricht ihn einzig auf seinen politischen Gehalt runter. Ferner behauptet er, der Film sähe aus wie eine billige Kopie Andrej Tarkowskijs und würde selbst als politischer Film, im Gegensatz zum iranischen Film „Nader & Simin – A Seperation“ etwa, einzig Dinge durchkauen, die der westliche Zuschauer ohnehin schon wisse. Als wolle Swjaginzew sich mit dem Bedienen der russischen Stereotypen, die westliche Putin-Gegner kennt, jenem dem Westen und seinen Preisen anbiedern.
Eine kalkülierte Universalität
Swjaginzew dazu: „In Russland warfen mir alle vor, vom Kulturminister bis zum letzten Blogger, dass ich eine amerikanische Geschichte auf russischen Boden verpflanzt hatte. Aber diese Geschichte ist universell, denn Geschichten von Menschen, die unter Macht zu leiden haben, kennen keine Geografie; es gibt sie überall.“
Dem kann man natürlich zynisch entgegenhalten, dass eine detailliert dargestellte Verzahnung von Kirche und Staat, wie sie „Leviathan“ postuliert, und die gerade auch mit Hinblick auf Putins christlich-national-konservativer Politik für den Westen so interessant ist, eben doch nicht „überall“ gibt. „Leviathan“ und sein Universalitätsanspruch ist ein Streitfall, da er andererseits durch die Bibel (Buch Hiob) und Thomas-Hobbes-Zitate (Leviathan) eine universelle Lesart provoziert, sie andererseits eben auch wieder so offensichtlich und gewollt ist, dass sie wie eine gewiefte Vorverteidigung gegenüber Zensoren und Kritiker wirkt. Irgendwie erscheint sie Teil einer politischen Strategie zu sein, die der Film so intelligent und zielbewusst fährt. Wir müssen festhalten, dass „Leviathan“ eben primär ein politisches Pamphlet ist und zwar ein weltgewandtes, das ein internationales Echo für seine Ziele eher einplant als eine innerrussische Diskussion.
Swjaginzews bedeutungsschwangere Orte
Nur was Wolfgang M. Schmitt nicht sieht oder nicht sehen will, ist, dass „Leviathan“ zwar ein politischer Film ist, aber die Zutaten, die auf die politische Oberfläche verweisen, von hoher nachweisbarer Qualität sind und den Film eben nicht oberflächlich werden lassen. Swjaginzew hat ein Händchen für die Auswahl von Räumen, Orten und Landschaften als erzählerische Mittel. In „Die Rückkehr“, seinem bereits mit dem Goldenen Löwen in Venedig gerühmten Debütfilm, waren es ein mobiler Ort; das Auto oder das Schiff als Metapher für Gemeinsamkeit und Schicksalsgemeinschaft — oder eine Insel für die Notwendigkeit der Konfrontation. In „Elena“ steht der Kontrast zwischen einfacher Stadtwohnung der Unterschicht mit dem gut ausgestatteten Einfamilienhaus der Oberschicht als zugegebenermaßen oft durchgekauter Konflikt im Zentrum. In „Die Verbannung“ steht ein Landhaus gleichzeitig für Zukunft und Vergangenheit einer Familie, die sie eigentlich nie hatte und nie haben wird. Und „Leviathan“ schließlich führt diese Strategie auf eine Spitze. Hier haben wir einmal das bereits erwähnte selbst erbaute Haus Nikolais als Heimat- und Autonomiebegriff und die Kirche, die hier sowohl als Objekt des Gebäudes als auch figurativ anhand eines korrupten und pompös gekleideten Geistlichen dargestellt wird, für eine bigotte Politik, die Recht und Ordnung referiert, aber ihren Weg mit Unrecht ebnet. Und schließlich auch das Gerichtsgebäude, das im selben Gebäude wie die Bürgermeister-Residenz zu sein scheint und suggeriert, das Machtinteresse und die Instanz Justitia in diesem Land generell an einem Strang ziehen würden.
Der Zugang zum Meer als Zugang zur Macht
Und dann gibt es noch das Meer als großes Symbol in „Leviathan“. Darin lebt laut der Bibel der namengebende Leviathan, also das Monstrum, das für Hobbes stellvertretend für die staatliche Machtinstanz ist. Aber diese Machtinstanz, auf die sich der Mensch trotz (bzw. gerade wegen) der Furcht vor ihr, geeinigt hat, um gemeinsam auf Freiheit zum Schutz des Einzelnen zu verzichten, ist in diesem kontemporären Russland pervertiert. Hier herrscht nicht die Gleichheit der relativierten Freiheit wie in Hobbes‘ Staatsmodell, sondern die Willkür und das Ungleichgewicht der Macht. Der Zugang zum Meer, auf den das Haus am Barentssee symbolisch verweist (denn ökonomisch-logisch könnte es ja auch jedes andere Gebäude am Meer noch eher sein), steht hier also zum Zugang zur Macht. Und dieser Zugang ist bereits am Anfang der Narration hoffnungslos an die korrupte, pervertierte Politik geraten, nur ein einzelner Michael Kohlhaas kämpft noch gegen sein Schicksal an (Tatsächlich hat Andrej Swjaginzew Heinrich Kleists Novelle gelesen). Am Ende wird dieser Zugang zum Macht auch noch zerstört und durch einen mit gegnerischem Banner ersetzt sein. In diesem Fall das zynische, da eigentlich positiv konnotierte, einer prunkhaften Kirche. „Leviathan“ zeichnet also weniger einen Machtwechsel, sondern eine Machtausdehnung mit extravertierter -demonstration inbegriffen. Putins Politik lässt die Muskeln spielen und negiert das Recht des Einzelnen. Oder wie der korrupte Bürgermeister Wadim im volltrunkenen Zustand äußert: „You’ve never had any fucking rights. And never will!“
Nicht-erklärte Naturgewalten
Ein Wal spielt ebenso eine Rolle bzw. Doppelrolle in „Leviathan“. Einmal als gigantische Gerippe, das an der Küste lagert, einmal wenige Sekunden zu sehen als lebendiges Monstrum des Meeres, das kurz aus den kalten Wellen des Barentssees auftaucht. Swjaginzew hat ein Faible für solche unkommentierten Bildgewalten der Natur und der Rolle des Menschen darin. Schon in „Elena“, ein Film, der hauptsächlich in Interieurs stattfindet, gibt es eine Szene, in der die gleichnamige Protagonistin eine Kuh am Gleisesrand verenden sieht. Wir sehen solche ausdrucksstarken Objekte immer wieder, während wir mit Figuren des Swjaginzewschen Kosmos unterwegs sind, quasi durch deren Augen. Doch meistens sind sie dabei allein und eine Verbalisierung dieses Geschehnis bleibt aus. Hier überträgt uns Swjaginzew das Recht, uns assoziativ eine höhere Bedeutung der Bilder autonom zu denken oder uns einfach auf den reinen Ästhetik-Wert des Gesehenen zu beschränken. Es ist vor allen Dingen das Gerippe eines Wals, das in „Leviathan“ ein solches Bild darstellt. Wie ein organisches Äquivalent zum im verschneiten Hafen lagernden Schiff aus Nuri Bilge Ceylans Film „Uzak„. Sinnbildlich für einen verstorbenen Giganten?
Ein schnellerer Ceylan
Gegenüber Klara und der ausstehenden Meinungsfrage jedenfalls, muss ich an dieser Stelle, vehement meine Bewunderung für Swjaginzew aussprechen. Seine Filme haben optische, kaderstrategische Schnittmengen mit dem erwähnten Nuri Bilge Ceylan, den ich bereits sehr verehre, sie atmen aber einen ganz anderen Rhythmus. Swjaginzew taktet seine Filme viel schneller, der Schnitt ist rabiater, die Erzähldauer (zumindest im Kontrast zum Hyper-Realismus Ceylans) stark verkürzt. Das ergibt dann vor allem in „Leviathan“, seinem besten Film, eine extraordinär dichte Atmosphäre. Den Realismusgrad schraubt Swjaginzew mit seinen geduldigen, ruhigen Kadern und seiner sehr talentierten Schauspielführung nach oben und kombiniert dann diesen Autoren-Regiestil seiner Vorbilder mit einem ökonomischeren, konventionelleren Editing, das einer Ermüdung entgegenwirkt und der afilmischen Wahrnehmung des Zuschauers sehr nahekommt.
Ellipsen als Verdeutlichung des Wissens-aber-nicht-Sehens
Swjaginzew wählt wie schon bei seinem zweiten Film „Die Verbannung“ einen elliptischen, schwierig zu greifenden Erzählstil. Manche Dinge werden ausführlich mit langen Dialogzeilen gezeigt, andere vollkommen ausgespart. Obwohl der Film mit Nikolai einen tragödischen Antihelden und klaren Protagonisten einführt, wird etwa dem Zuschauer verheimlicht, was passiert als Nikolai und seine Freunde Lilja und Dimitri auf der Grillparty das erste Mal in flagranti erwischen. Der Zuschauer verbleibt an der Seite der Freundin und Polizisten-Gattin Angela und kann nur Schüsse in der Ferne hören. Was passiert, lässt sich im Zusammenspiel mit den folgenden Szenen leicht erahnen, Dimitri scheint sich geprügelt zu haben, die Gewehrsalven schienen nur Warnschüsse gewesen zu sein. Und trotzdem spart Swjaginzew uns hier die Bebilderung einer entscheidenden Eskalation aus, die obligatorisch wäre, würde dieser Film einer konventionellen Erzählstrategie folgen, die Zuschauersicht mit der Sicht des Protagonisten gleichschalten würde. Gleichzeitig werden aber etwa die Konversationen des Geistlichen mit dem Bürgermeister Wadim mit langen Wortwechseln eingefangen, auch wenn sich diese fernab einer Protagonisten-Perspektive befinden. Das ist eine schizophrene, auf den ersten Blick inkonsequente Erzählweise, aber vielleicht fängt sie ganz gut die Stimmung ein, in diesem von Putin regierten Land zu leben:
Die Missstände wie Korruption, staatliche Verfolgung und Ohnmacht des Einzelnen sind dem russischen Bürger bestens bekannt, aber die eskalierenden Zuspitzungen dieser Kondition bleibt doch für den einfachen Bürger undurchsichtig. Diese diffuse Atmosphäre des Wissen, aber Nicht-Sehen-Könnens und somit auch dem Sich-Nicht-Wehren-Könnens fängt die Erzählstrategie „Leviathan“ kongenial mit seinen kühlen, elegischen Bildern ein. Und so sehen wir schließlich den Key-Moment des Mordes an Nikolais Frau Lilja gar nicht und trotzdem erscheint uns klar, wer dahinter steckt. Das Mittel der Leben auslöschenden Gewalt ist in der porträtierten Gesellschaft nämlich ein politisches, ein Puzzlestück für denn Machtapparats. Und weniger ein Selbstjustiz-Movens eines verzweifelten Individuums und seiner universellen Leiden. Denn Nikolai greift zwar zum Wodka, also zur Selbstdestruktion, aber verzeiht letztlich ebenso seinem Moskauer Freund Dimitri als auch seiner Frau. Er ist, ohne es zu wollen, vielleicht doch ein moderner Hiob.
Dissident, aber nicht _nur_ Dissident
Halten wir fest: „Leviathan“ ist ein Film, der durchaus universell gelesen werden kann, sich aber nie von seiner politischen Motivation komplett loseisen kann bzw. will. Andersherum könnte man nämlich die universellen Verweise der Handlung auf eine reine Stützfunktion der politischen Tendenz herunterbrechen, wobei man aber nicht den Fehler wie Wolfgang M. Schmitt machen sollte, ihre inhärente filmische Qualität in Abrede zu stellen. Denn Swjaginzew führt hier seinen aufregenden kinematografischen Stil zwischen Sozialrealismus und Bild-Poesie, zwischen Zeitbezug und Zeitlosigkeit auf eine vorläufige Spitze und ist eben kein Wiederholungstäter der vermeintlichen politischen Eklat-Provokation und Affirmation des westlichen Russland-Bildes. Seine bisherigen Filme „Die Rückkehr“, „Elena“ und „Die Verbannung“ mögen zwar grundlegend düstere und pessimistische Filme sein, verhandeln ihre Themen aber mit bestenfalls sehr losem Russland-Bezug und ohne Brechstangen-Anspielungen auf die russische Innenpolitik, wie es „Leviathan“ zweifellos tut. Und große Autoren dürfen bzw. müssen sogar auch (innerhalb ihres ästhetischen Kosmos‘) ins politische Tagesgeschehen eingreifen, wenn dort Dinge stattfinden, die ein Wegschweigen nicht verdient haben und eine Positionierung einfordern. Thomas Mann hat über den Nationalsozialismus geschrieben, Solschenizyn über den Stalinismus usw. Und da Filmemacher (aus cinephiler Sicht) dem Schriftsteller in der inhaltlichen Aussagekraft und ästhetischen Strahlkraft mindestens ebenbürtig sind, so muss auch von einer gleichen Verpflichtung gegenüber dem gesellschaftlichen Raum die Rede sein, der den Künstler umgibt, bzw. aus dem der Künstler entstammt. Die Kunst hat auch eine politische Verantwortung, sowie die Politik eine Verantwortung gegenüber der Kunst hat. In diesem doppelperspektivischen Verhältnis ist das Swjaginzewsche Werk im Allgemeinen und „Leviathan“ im Speziellen sowohl Kunst als auch Politik. Sowohl ein wichtiges, subjektives Zeitzeugnis in einem politischen Klima der Uneindeutigkeiten und geteilten Meinungen als auch das bisherige Opus Magnum einer der spannendsten Handschriften im europäischen Autorenkino.
Klara steht in diesem Moment jedenfalls auf, verabschiedet sich höflich und geht. Vielleicht habe ich sie mit meinen ausufernden Gedanken zu diesem Thema gelangweilt. Vielleicht fühlte sie auch, dass ich, als Teil eines besserwisserischen Westens, die Gesellschaft, in der sie aufwuchs und die sie besser kennt als ich (auch wenn ich mehr Swjaginzew-Filme gesehen haben mag) zu sehr pathologisieren würde.
Ich sitze da nun allein, in diesem Weimarer Café, mit meinen Gedanken über Swjaginzew. Aber letztlich wohl egal. Klara hat ohnehin einen Freund. Einen Deutschen.
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3 thoughts on “Leviathan (fullshot)”