Soziologien der Herzen.
Originaltitel: Louder Than Bombs
Produktionsland: Norwegen, Frankreich, Dänemark
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: Joachim Trier
Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt
Produktion: Joshua Astrachan, Albert Berger, Alexandre Mallet-Guy, Thomas Robsahm, Marc Turtletaub, Ron Yerxa
Kamera: Jakob Ihre
Montage: Olivier Bugge Coutté
Musik: Ola Fløttum
Darsteller: Jesse Eisenberg, Gabriel Byrne, Isabelle Huppert, David Strathairn, Amy Ryan, Rachel Brosnahan, Devin Druid, Leslie Lyles
Laufzeit: 109 Minuten
Louder Than Bombs, lauter als Bomben, sollten die Fotos von Isabelle Reed (Isabelle Huppert) sein und die Welt mit ihrer Bildsprache aufrütteln. Nach dem viel zu frühen Tod der gefeierten Kriegsfotografin liegt das Leben ihrer Familie allerdings in Trümmern. Ihr Ehemann Gene Reed (Gabriel Byrne), der jüngere Sohn Conrad (Devin Druid) und der ältere Sohn Jonah (Jesse Eisenberg) haben kein gutes Verhältnis mehr zueinander. Erst eine Ausstellung von Isabelles Fotografien, drei Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod, bringt Jonah zurück ins Haus seiner Kindheit, wo er dazu gezwungen ist, Zeit mit seinem Vater und seinem zurückgezogenen Bruder zu verbringen. Während Gene verzweifelt versucht, die Familie wieder zusammenzuflicken, stellen die Männer fest, dass sie sehr unterschiedliche Erinnerungen an ihre Mutter beziehungsweise Ehefrau haben. Je näher das Event der Ausstellungseröffnung rückt, desto schwerer wird es, ihre Gefühle mit dem Bild der Verstorbenen zu vereinbaren.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
In einer Szene klärt Jonah seinen pubertierenden Bruder Conrad über seine Chancen zum Cheerleader-Girl Melanie auf, bei seinem Plan, dem Mädchen einen selbstgeschriebenen Text zu schenken. „Du hast keine Chance bei ihr. Es ist nicht deine Schuld, sondern die des Systems. Sie wird es ihren Freundinnen zeigen und sie werden über dich lachen. Aber wenn du hier raus bist, wird alles besser„, (sinngemäß zitiert). „Louder Than Bombs“ macht eigentlich über 109 Minuten genau das, was der von Jesse Eisenberg gespielte Jonah hier seinem Bruder mit auf dem Weg gibt. Er philosophiert über menschliches Zusammensein mit sehr viel Charme, Liebe zu den Figuren und auch einem Händchen für wahrhaftige Momente (wie es wohl eine Stärke schlechthin Joachim Triers ist). Und das tut Trier erstmals in einem völlig fremden Milieu. Nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika, samt ihrer Kriege im Nahen Osten. Dass hier Lehrgeld bezahlt wird, weil nicht aus einem reichen, autobiografischen Fundus geschöpft werden kann wie bei „Reprise“ und „Oslo, 31. August“, offenbart sich unglücklicherweise hier und da, trotzdem bleibt der Norweger seinem spannenden Autoren-Stil treu und liefert einen weiteren sehr guten Film ab.
Europäische USA
Man fragt sich natürlich schon, ob das Amerika-Setting für die Erzählung zwingend notwendig war oder nur Mittel zum Zweck für Regisseur Joachim Trier, um an große internationale Namen wie Jesse Eisenberg oder Isabelle Huppert zu kommen. Letztere ist ja die einzige Figur, die mit ihrem Beruf der Kriegsfotografin wirklich in einen tagespolitischen Diskurs eingebunden ist, sie ist im Film aber eben auch Französin und wäre somit ja auch durchaus als Ehefrau einer britischen oder norwegischen Figur denkbar gewesen. Über Amerika will Joachim Trier denn dann kaum sprechen, allgemein wirkt sein Film wie eine sehr europäische und optimistische Vorstellung von den USA mit spritsparenden japanischen PKWs und kritischen Haltungen gegenüber Kriegseinsätzen im Nahen Osten in petto. Das ist nicht schlecht und auch nicht unrealistisch, aber der Wohnort der Familie Reed erscheint doch austauschbar. Woran Trier aber viel mehr interessiert ist — und hier schlägt er sich wie gewohnt gut — ist es, mit einer gewissen allgemeinverständlichen, poetischen Ader über Familie, Freunde, Trauer, Selbstmord und vor allem wieder mal über die Jugend zu reflektieren.
Komplexe Verstrickungen
Nachdem „Reprise“ und „Oslo, 31. August“ thematisch ähnliche, aber dramaturgisch komplementäre Filme waren, erfindet Trier in „Louder Than Bombs“ nicht noch ein neues Rad, sondern setzt auf eine Dramaturgie, die im Großen und Ganzen an sein Erstlingswerk „Reprise“ erinnert. Sprich: Es gibt ein größeres Aufgebot an Figuren mit komplexeren Verstrickungen, bei denen ein klarer Protagonist eigentlich nicht auszumachen ist. Außerdem arbeitet der Film mit Vergangenheitsepisoden und wieder mit einem Autoren (Conrad) als Teil der diegetischen Welt, der diese aber wiederum kommentiert und somit auch teilweise mitgestaltet (das Prinzip der etwaigen Optionalität des Warheitsgehaltes habe ich im Falle „Reprise“ ausführlich erörtert). Trier zahlt hier erstmals Lehrgeld, denn obwohl er sich Mühe gibt, alle Kausalitäten seiner Figurenbeziehungen auszugestalten, funktioniert nicht alles mit der Intensität, die sich der Film erhofft. Das Bombardement (Wortspiel) an dramatischen Kausalketten wirkt nicht immer souverän, manches, wie z.B. die Beziehung des Vaters zur Lehrerin des Sohnes, belastet die Gesamtkomposition zwar nur geringfügig, aber — bei einem Filmemacher, der so viel auf das Bauchgefühl setzt wie Joachim Trier — doch eben spürbar.
Kriegsfotografie als Leitmetapher
Die Leitmetaphorik einer Kriegsfotografin ist konsequent und originell. Hier muss auch wieder der Film (frei) zitiert werden: „Was soll getan werden? Das Leid der Menschen so darzustellen, wie es tatsächlich ist und ihre Geschichte zu dokumentieren oder diese als Veranschaulichung eines viel größeren Konflikts zu nehmen, und die Menschen damit zu Beispielen und somit auch zu Opfern werden zu lassen?“ Es ist klar, dass Krieg hier nicht nur im Nahen Osten ganz real stattfindet, sondern auch auf einer symbolischen Ebene in der Familie. Die Familie als Kriegsschauplatz ist in der Filmgeschichte keine gänzlich neue Idee, sie profitiert im Falle von „Louder Than Bombs“ aber von der metaphorischen Medien-Ebene der Fotografie, welche die handlungsimmenante Äquivalenz zum Film „Louder Than Bombs“ an sich darstellt, der hier auch eine Familie ausstellt und sie möglicherweise auch für eine höhere Lesart ausschlachten lässt. Gewiss lässt sich dieser Film sowohl als Einzelschicksal einer Familie als auch als ein generalisiertes Modell anschauen, denn es geht ja vielleicht nur vordergründig um einen Todesfall, also einem individualisierten Moment, innerhalb einer Familie und ihrem Umgang damit, sondern ebenso um ganz elementare Fragen und Empfindungen. Die männliche Bereitschaft für eine Familie beispielsweise, die hier stufenartig dramatisch organisiert ist. Vater Geene hat seine Frau bereits verloren, ist mit ihr gescheitert. Der ältere Sohn Jonah gründet eine Familie, aber fürchtet sich vor Verantwortung (was der Film wunderbar subtil durch die Zeilen gleiten lässt). Und der jüngste Sohn Conrad schließlich wünscht sich ganz im Stile eines Coming-of-Age-Films nur endlich ein Mädchen überhaupt abbekommen zu können.
Offensives Filmemachen
Obwohl „Louder Than Bombs“ sicher kein Meisterwerk ist, beweist er Joachim Triers eigenen spannenden und offensiven Stil des Filmemachens. Offensiv deshalb, weil seine Filme viel wollen, große Themen anreißen und sich aus der Deckung trauen. Statt Kritiker-Liebling-Kino (Weerasethakul, Diaz, Tarr etc.) zu machen, das sich in der Sicherheit seiner eigenen einmal gefundenen Stilinvarianz, samt ihrer etwaigen Undurchschaubarkeit, versteckt, versucht Joachim Trier Neues und Aufregendes zu machen und geht damit das Risiko ein, zu scheitern. Es sind nicht nur jugendliche Themen, sondern eben auch jugendliche Filme, die der Norweger dreht.
Originalität unökonomischen Erzählens
Die Schönheit und Originalität in der Arbeit Triers zeigt sich hier weniger in den lauten Momenten, z.B. den Autounfall-Fantasien Conrads mit CGI in Zeitlupe. Das sind tatsächlich die schwächeren Momente des Films, bei dem ihm die Subtilität abgeht, von denen sich Triers Kunst schon immer genährt hat. Aber diese speziellen Trier-Momente gibt es immer noch. Momente, in denen Trier Dinge einfach anders dramatisch aufbereitet als es ein durchschnittlicher Regisseur angehen würde. Den Brief, den Conrad seinem Schwarm schreibt, findet sein Bruder Jonah nicht hinterrücks, er wird ihm auch nicht in einem großen Outing von Conrad präsentiert, nein, Conrad lässt ihn von Jonah aus einer Word-Datei (!) auf seinem PC-Bildschirm in seiner nervösen Anwesenheit lesen. Sowas ist dramatisch eigentlich unheimlich unökonomisch und wird deshalb im kommerziellen Kino möglichst vermieden. Trier macht es und erzeugt damit Wirklichkeit. Noch besser natürlich die Szene, in der der junge Conrad in der Zeitung von der Todesursache seiner Mutter erfährt (ein MacGuffin! Der Zuschauer erfährt es nämlich nie!). Stattdessen, dass der Junge nun einen Gefühlsausbruch durchleidet, seine Familie und Freunde zusammenbrüllt oder ähnliches, frisst er dieses Erlebnis einfach in sich hinein und geht erst recht auf die Party seiner heimlichen Liebe, auf der er als Außenseiter kaum willkommen sein dürfte. Eine wortlose Darstellung erwachsenen Umgangs mit Rückschlägen. Das erste Mal verhält sich Conrad in dieser Szene wirklich gereift. Das ist einer der schönsten Momente des Erwachsenwerdens der mir bekannten jüngeren Filmgeschichte. Conrad wird danach mit seinem Schwarm zusammen betrunken nach Hause gehen. Sie werden sich nicht küssen und schon gar nicht miteinander schlafen, aber er wird ihr beim Pissen zuschauen und ihr Urin wird seinen Schuh streifen. Ein Moment der Intimität, den Conrad nie vergessen wird. Ein Moment der Wahrheit, den der Zuschauer ebensowenig vergessen wird.
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