Ein erzieherischer Super-GAU und Koreedas eigenwilliger Optimismus.
Originaltitel: 誰も知らない (Dare mo shiranai)
Produktionsland: Japan
Veröffentlichungsjahr: 2004
Regie: Hirokazu Koreeda
Drehbuch: Hirokazu Koreeda
Kamera: Yutaka Yamazaki
Montage: Hirokazu Koreeda
Musik: Gontiti
Darsteller: Yūya Yagira, Aya Kitaura, Hiei Kimura, Momoko Shimizu, Hanae Kan, YOU
Laufzeit: 141 Minuten
Beruhend auf einer wahren Begebenheit erzählt Nobody Knows die Geschichte von vier Kindern, die mit ihrer Mutter in einem kleinen Apartment in Tokio leben. Sie sind von der Außenwelt komplett abgeschnitten, dürfen nicht vor die Tür und waren noch nie in der Schule. Eines Tages ist die Mutter verschwunden und für die Kinder beginnt ein Überlebenskampf in einer für sie völlig fremden Welt.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 03.09.2014)
Zuletzt hat sich Edward Bergers „Jack“ ganz eindeutig an Koreedas Durchbruch-Film „Nobody Knows“ bedient. Ein Film über verwahrloste, alleingelassene Kinder, mitten in unserer Wohlstandsgesellschaft, die auf eigene Faust zurecht kommen müssen. Koreedas Film geht mit diesem Thema — vor allem im Hinblick auf die „wahre Begebenheit“ — aber eigenwillig-optimistisch um, was den Film zu einem einmaligen Erlebnis, aber einer fragwürdigen Umsetzung des Themas macht.
Verwahrlosung in Tokio
1988 gab es in Tokio ein Ereignis, das großes Interesse in den Medien erzeugte. Eine alleinerziehende Mutter hatte fünf Kinder von fünf verschiedenen Vätern und zog diese auf, ohne sie zu einer Schule zu schicken. Eines der Kinder starb aus ungeklärten Gründen kurz nach der Geburt. Seine Leiche wurde in der Wohnung aufgehoben. Die restlichen vier Kinder mussten oft alleine auskommen, da die Mutter selten Zeit für die Kinder hatte bis die Mutter eines Tages gar nicht mehr nach Hause kam und die Kinder vollkommen vernachlässigte. Die Kinder litten zunehmend unter Verwahrlosung und Unterernährung, zudem wurde das jüngste der Kinder von Freunden des ältesten Kindes getötet und später von seinen Geschwistern auf einem Flughafen begraben.
Das Schöne im Schrecklichen
Koreeda verfolgte diese Geschichte mit großem Interesse und formte daraus seine Fiktionalisierung „Nobody Knows“, er wollte herausstellen, dass die Situation der Kinder auch etwas „Schönes“ an sich gehabt haben müsse. Das ist zunächst einmal eine sehr mutige Prämisse, die nicht unangreifbar ist. Aber als Film, der diese positive Seite des Erziehungs-SuperGAU, wie ihn die True Story bereithält, ausformuliert, funktioniert „Nobody Knows“ zumindest im Großen und Ganzen eindrucksvoll. Nur kommt man eben auch nicht darum herum, Fragen zu stellen, warum Koreeda das Elend hier so fahrlässig ausblendet. Yuki, die Jüngste aus der Schicksalsfamilie wird hier nicht getötet, sondern sie stirbt bei einem höchst unspektakulären Stuhl-Unfall. Auch das Kind, das kurz nach der Geburt stirbt und in der Wohnung verscharrt wird, kürzte Koreeda radikal aus dem Skript (man muss sich die psychische Belastung mal vorstellen, mit einer Leiche in der Wohnung aufzuwachsen). Themen wie Verwahrlosung oder Mangelernährung verfolgt Koreeda nicht mit Nachdruck, lässt sie nur in Kleinstdetails durchscheinen. Das Leben ohne Eltern hat hier tatsächlich etwas Freies und Wildes an sich.
Über zwei Stunden losgelöstes Treiben
Man muss diese Umdichtung der True Story akzeptieren, um sich auf die Stärken von „Nobody Knows“ einzulassen. Über zwei Stunden lang betrachtet man die Kinder bei ihrem losgelösten Treiben, wie manche Verhaltensweisen aus der Zeit der Mutteranwesenheit wie eine Tradition weitergeführt werden und wie in anderen Bereichen eigene Wege gefunden werden und die Verbote der Mutter-Zeit triumphal überwunden werden. Der Film verfügt über feine Details, die den Film für weitere Sichtungen interessant macht und schafft es auch, trotz überdurchschnittlicher Länge, nicht zu langweilen.
Nicht immer verständliches Figurendesign
Die Schauspieler der Kinder sind positiv hervorzuheben (nicht ohne Grund wurde der Kinderschauspieler des Protagonisten Akira sogar als jüngster Schauspieler in der Geschichte in Cannes mit dem besten Darstellerpreis geadelt). Leider ist „Nobody Knows“ aber in der Charakteranlegung weniger durchdacht ausgefallen als andere Filme Koreedas. Die hilflose Mutter wird anfangs als eine sehr gute, fürsorgliche und liebende Mutter eingeführt, die nur aufgrund ihres Berufes wenig Zeit für ihre Kinder hat. Hier erscheint diese fragwürdige Erziehung sogar Früchte zu tragen, da die Kinder allein prima zurecht kommen und sich sogar lesen, schreiben und rechnen beibringen. Dann verschwindet die Mutter aber spurlos, ohne dass Koreeda eine Idee davon angedeutet hat, warum sie so handelt. Ist es Hilflosigkeit oder purer Egoismus? Möglicherweise hält sich Koreeda aber mit dem Aufdecken der Mutter-Motivik so bedeckt, weil er den Film aus verwirrten Kindesaugen heraus erzählen will. Warum er aber die Freunde vom ältesten Kind einbaut, sie aber nur kurz auftreten lässt und eben nicht Akiras kleine Schwester töten lassen, bleibt ungewiss.
Koreedas vielleicht berühmtester Film ist zumindest mal von nicht unstreitbarer Qualität. Mit seiner geduldigen, dokumentarisch anmaßenden Regie-Arbeit sorgt Koreeda für Staunen und ein memorables Filmerlebnis, inhaltlich ist „Nobody Knows“ aber von fragwürdigem Optimismus geprägt. Wenn die Kinder zusammen durch die Tokioer Innenstadt flanieren und den Abspann einleiten, scheint ein „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ über den Bildern zu liegen.
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