Ein (wegfallender) gemeinsamer Feind.
Originaltitel: Picco
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2010
Regie: Philip Koch
Drehbuch: Philip Koch
Produktion: Philipp Worm, Tobias Walker
Kamera: Markus Eckert
Montage: Andre Bendocchi-Alves
Darsteller: Constantin von Jascheroff, Frederick Lau, Joel Basman, Martin Kiefer, Jule Gartzke, Willi Gerk
Laufzeit: 105 Minuten
Picco, so bezeichnet man im Jugendknast die Neuankömmlinge, die Opfer. Kevin ist genau dies. Aufgrund von Überbelegung wird er als vierter Häftling in eine Zelle verlegt, die eigentlich für zwei gedacht ist. Seine Zellengenossen sind Tommy, Andy und Marc. Eine Zweckgemeinschaft in einem rauen System, in dem das Recht des Stärkeren zählt. In dieser für Kevin neuen, fremden Welt liegt Gewaltbereitschaft und latente Aggression über jeder Situation. Immer wieder kommt es zu Unterdrückung, Schlägereien oder Ausrastern. Es fällt dem zurückhaltenden Kevin schwer, sich in dieser Situation zu behaupten. Er wird gemobbt und gehänselt. Besonders seine Zellengenossen Marc und Andy haben es auf ihn abgesehen. Kevin hat Angst, dass er das nicht durchsteht. Nur mit Tommy, der auch eher schmächtig ist, aber es versteht, sich durch zu schlagen, kann er ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen: Er gibt ihm zu verstehen, dass man hier drin Täter oder Opfer ist – wenn er aufhören will, ein Loser zu sein, muss er anfangen sich zu wehren.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 25.08.2013)
Der Name „Picco“ evoziert doch ein eher niedliches Filmvergnügen, wenn man nicht mit dem Knastjargon vertraut ist. In diesem ist der Picco der „Kleine“, der Neue. Eben der, der nichts zu sagen hat. Anschaulich zeigt das der Film von Philip Koch, der den Siegburg-Skandal eines von seinen Zimmergenossen zum Selbstmord getriebenen Insassen wieder aufrollt. Authentisch, raubeinig und mit wenig Kompromissen.
Wer wird Täter sein?
– Schon klar, ich bin ja auch hier der Neue.
– Schon klar, du bist hier auch der Spast.
In einem bestimmten Rhythmus nähert sich Koch seinen Figuren, im gräulichen Takt des JVA-Alltages. Neben obligatorischen Gefängnis-Ritualen wie das Tabak-Schmuggeln oder der Dienst im Waschsalon werden auch Einzelgespräche der Häftlinge mit Angehörigen oder der JVA-Psychaterin als direktes charakterisierendes Element angewandt. Die vier Häftlinge Kevin, Marc, Andreas und Tommy werden so gleichberechtigt in ihrer Screentime herangeführt, dass allen Figuren eine profunde Profilierung erfahren, ohne sich lediglich auf den Protagonisten Kevin zu fokussieren. Daraus ergeben sich Gedankenspielereien, wer am Ende Täter und Opfer sein könnte und damit einhergehend eine unaufdringliche Spannungsentwicklung.
Häftlinge sind ihre eigenen Peiniger
Nicht die Wärter sind den Häftlingen die Peiniger in den Gefängnissen der Gegenwart, es sind die Häftlinge selbst. Diese Entwicklung lässt sich vor gesellschaftspolitischem Hintergrund lesen, eine Gefängnis-Ethik mit psychologischen Einzelgesprächen und Austausch mit Schulklassen entfernt möglicherweise den gemeinsamen Feind des Gefängniswärters und richtet dieses Feindbild auf sich selbst. Eine weitere Ursache ist, dass früher möglicherweise ein Leben nach dem Gefängnis erstrebenswerter erschien, während heutzutage vor allem der Jugendknast für eine Unmöglichkeit ein normales Leben nach der Haft fortzusetzen steht — in Beruf wie in Gesellschaft — nie wieder mit denselben Chancen wie ein Nicht-Verurteilter. Täter entstehen in „Picco“, weil sich Jugendliche mit ihrem Leben im Gefängnis abfinden. Das Gefängnis ist zu menschlich, die Welt dort draußen zu unmenschlich für Kriminelle geworden und so wird das Gefängnisleben akzeptiert und zum eigenen Territorium, in dem man nichts zu verlieren hat.
Links und rechts gemeinsam
Die beiden Meinungswölfe Andreas und Marc könnten unterschiedlicher kaum sein. Ersterer ist ein raffinierter, gebildeter Linker, während Marc ein ungebildeter, primitiver Proll aus scheinbar rechtem White-Trash-Millieu zu sein scheint. Sie eint jedoch ihr Alphatier-Verhalten, das die kleinen „Piccos“ als Opfer auserkiesen. Solang es einen Schwächeren gibt, wird keine Gewalt auf einen selbst zurückfallen. Nach diesem Survival-of-the-fittest-Prinzip funktioniert die Gruppen-Dynamik im Gefängnis. „Picco“ zeigt eindrucksvoll, dass es die Aufgabe der Gefängnisverwaltung sein muss, diese Dynamik aufzubrechen, wenn Gewalt, Selbstmord und sexuelle Übergriffe verhindert werden sollen. Der psychische Gewaltgrad des Films erinnert an „Das Experiment“ und liegt deutlich über den Sehgewohnheiten eines ARD/ZDF-Fernsehabends.
Verlust der Geduld
Auch wenn die depressive Farbärme im Knastfilm ein ziemliches Standard-Gadget ist, hat der Film mit talentierten Jungschauspielern und dem dokumentarreifen Blick auf deutsche Jugendgefängnisse, ihr Jargon und ihre Gruppendynamik, eine Vielzahl eindrucksvoller Stärken vorzuweisen. Das einzige wirkliche Manko erlaubt sich „Picco“ darin, dass das letzte Drittel des Films an Geduld verliert und die Entwicklung des zum Selbstmord getriebenen Häftlings nicht mehr durchgängig die Glaubwürdigkeit seiner Exposition erreicht. Verglichen mit der wahren Begebenheit als Vorlage erscheint die Entwicklung in der Todeszelle im letzten Drittel einen Hauch zu hektisch. Nichtsdestotrotz gelingt es „Picco“ aus der Siegburg-Geschichte eine ernst zu nehmende Stellungsnahme zur aktuellen Gefängnis-Situation, vor allem im Hinblick auf JVAs, zu gewährleisten. Ein packend inszenierter, beeindruckender Debütfilm.
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