Der vielleicht bessere „Leopard“.
Originaltitel: Senso
Alternativtitel: Sehnsucht
Produktionsland: Italien
Veröffentlichungsjahr: 1954
Regie: Luchino Visconti
Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi D’Amico, Carlo Alianello, Giorgio Bassani, Giorgio Prosperi
Produktion: Domenico Forges Davanzati
Kamera: Aldo Graziati, Robert Krasker
Montage: Mario Serandrei
Musik: Anton Bruckner aus 7. Sinfonie bearbeitet von Nino Rota
Darsteller: Alida Valli, Farley Granger, Heinz Moog, Rina Morelli, Christian Marquand, Sergio Fantoni, Tino Bianchi, Ernst Nadherny, Tonio Selwart, Marcella Mariani, Massimo Girotti
Laufzeit: 117 Minuten
1866, Venedig während der österreichischen Besatzung: Die Gräfin Livia Serpiera, eine glühende Patriotin, verliebt sich leidenschaftlich in den charmanten österreichischen Offizier Franz Mahler. Um seinetwillen verrät Livia ihre politische Überzeugung. Als sie entdeckt, dass Franz sie nur benutzt hat, denunziert sie ihren Geliebten als Deserteur.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 21.08.2013)
Viscontis Filme sind für jeden selbsternannten Filmhistoriker natürlich ein Muss. Seine Filme sind große Epen, selbst die neorealistischen „Ossessione“ und „Rocco und seine Brüder“ sind breit ausgeführte Geschichten, für die man sich mindestens einen Abend bereithalten sollte. In der Rezeption Viscontis ist man in der schwierigen Diskrepanz gefangen, dass seine Filme ellenlang und nicht selten äußerst trocken erzählt, andererseits aber auch voller Interpretationsmöglichkeiten sind, die sich vor allem durch Recherche über historische Zusammenhänge und der Person Luchino Visconti ergeben. Mehrfachsichtungen sind also ein Muss, auch wenn es bei den ausufernden Playtimes manchmal etwas Selbstüberwindung kostet. „Senso“ ist ein gerne unterschätztes Werk im Visconti-Universum und der vielleicht bessere „Leopard“.
Das Volk als heimlicher Held
Die Suche nach dem sozialistischen Moment wird im Werk des eingefleischten Linken Viscontis immer Ergebnisse liefern. In „Senso“ ist es das solche, das Kokettieren ein großspuriges Melodram vor historischer Kulisse zu entfachen, letztlich in eine höllische Tragödie gipfeln zu lassen, die die beide Hauptfiguren als Selbstsüchtige und moralisch Verkommene entlarvt. Der heimliche, leidende Held in „Senso“ ist das Volk, das vom egoistischen Handeln der blaublütigen Hauptfiguren, ihrer unnötigen Liebelei wegen, ausgenutzt und teilweise in den Tod getrieben wird. An den Werkzeugen, die beide nutzen, um ihre Liebschaft aufrecht zu erhalten (sei es Fahnenflucht oder das Aufbringen von Finanzmitteln, die der heimischen Miliz zustehen), klebt das Blut eines Volkes, das eine Vision einer vereinigten Nation hat, das zu diesem Zeitpunkt im 19. Jahrhundert durchaus Vordenker eines sozialen Italiens nach Viscontis Ideal bereithielt (Figur des Roberto Ussonis).
Grenzverschiebungen der adligen Selbstsüchte
Beide Hauptfiguren, die des österreichischen Offiziers Franz Mahler und die der venezianischen Gräfin Livia Serpieri sind letztlich aus sehr ähnlichem Holz geschnitzt. Der dekadente Hedonismus des Offiziers, der das Ende sowohl seiner Klasse als auch seiner Nation ahnt und einzig dem Genuss folgt, nimmt sich letztlich wenig mit der naiven Sehnsucht nach sexueller Erfüllung, die die Gräfin antreibt. Beide Figuren haben von Politik keine Ahnung und auch keine Motivation darin, befinden sich jedoch an mächtigen Hebeln und symbolisieren so, dass europäische Grenzen in der Geschichte oftmals durch ahnungsloses, selbstsüchtiges Handeln einer dünnen Schicht der Reichen und Mächtigen verschoben wurden. Schon die Sympathie zum italienischen Freiheitskampf hatte die Gräfin einzig durch die Avance zu ihrem Vetter Roberto. In ihrem späteren Handeln zeigt sich, dass sie den Freiheitskampf Italiens nicht verinnerlicht und rein egoistisch handelt.
Serviervorschlag: Rotwein und Geschichtsbuch
Das theatralische Schauspiel mit seinen rührseligen Momenten ist natürlich einerseits Mittel zum Zweck, aber trotzdem für Längen verantwortlich und die Zutat, die Viscontis Filme gerne den Ruf von zäher Erzählkunst einbringt. „Senso“ ist also noch deutlich weniger unterhaltend als es schon andere Visconti-Filme sind, in seiner Intention und Aufmachung jedoch nicht selten genial. Ein Film, dessen Genuss also möglicherweise eher mit Rotwein und Geschichtsbuch in der Hand sich vollends entfalten kann.
„Senso“ eignet sich eher als Abschluss denn als Einstiegsfilm in Viscontis Filmografie. Der konsequente Abgesang auf zu Tode geweihte Gesellschaftssysteme — Viscontis Lieblingsbeschäftigung — ist in „Senso“ aber kaum weniger niederschmetternd gelungen als etwa in „Die Verdammten“ und deutlich besser als in „Der Leopard“. Kein Meisterwerk, aber trotz Längen doch für weitere Sichtungen prädestiniert. Ein typischer Visconti eben.
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