Ein Cassavetes-Einstieg aus Filmschaffendensicht.
Alternativtitel: Schatten
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 1959
Regie: John Cassavetes
Drehbuch: John Cassavetes
Produktion: Seymour Cassel, Maurice McEndree
Kamera: Erich Kollmar
Montage: John Cassavetes, Maurice McEndree
Musik: Shafi Hadi, Charles Mingus
Darsteller: Ben Carruthers, Lelia Goldoni, Hugh Hurd, Anthony Ray, Dennis Sallas, Tom Reese, David Pokitillow, Rupert Crosse
Laufzeit: 87 Minuten
„Schatten“, das größtenteils improvisierte Regiedebüt von Cassavetes, porträtiert das Leben von drei schwarzen Beatniks in einer weißen Gesellschaft.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
John Cassavetes gehört zu jenen Filmschaffenden, die auf den Filmhochschulen rauf- und runtergelehrt werden. Und ich muss gestehen, dass ich bis jetzt sehr wenig Berührungspunkte mit diesem Großen der Filmgeschichte hatte. Eine kurze Begegnung mit „Love Streams“ hat mich zunächst eher verwirrt, emotional kaum erreicht und vielleicht auch ein bisschen frustriert. Ich weiß natürlich trotzdem, dass seine Kunst wichtige Pionierarbeit war und ich früher oder später alle seine Filme gesehen haben werde und selbstredend weiß ich auch jetzt schon im Groben wofür der Name John Cassavetes steht: Es ist vor allen Dingen ein revolutionärer Umgang mit Schauspiel, den man mit seinem Namen verbindet. Aber ohne, dass ich mich jetzt großartig in seine Philosophie eingelesen hätte oder besonders viele Filme von ihm gesehen habe (und somit durchaus auch anders als bei anderen Filmemachern) möchte ich mich ganz unverfangen seinem Werk „Schatten“ nähern und mit besonderem Hinblick darauf, was dieser Debütfilm einem Filmschaffenden bringt.
Das Politische: Pionier des Migrationskinos
In „Schatten“ erleben wir das Schicksal einer Gruppe von New Yorkern der Beatnik-Generation. Ohne im Besonderen hervorgehoben zu werden, fällt dennoch die Rolle der Afroamerikanern innerhalb dieser Sozietät auf. Man kann nicht unbedingt von einem dezidierten filmischen Fokus auf das Schicksal der schwarzen Bevölkerung von New York sprechen und trotzdem oder gerade wegen der sehr selbstverständlichen Einführung in das Leben von Afroamerikanern und ihrer teilweise nahtlosen Übergänge in weiße Communitys, aber auch dem Zeigen rassistischer Ressentiments, muss man „Schatten“ auch als einen sozialpolitischen Film verstehen. Aber das Anliegen des Autoren John Cassavetes selbst dürfte meiner Annahme nach eher ein persönlich-autobiografisch, denn ein entschieden politisches gewesen sein. „Schatten“ ist primär vor allen Dingen eine Milieu-Beschreibung, der man einen direkten persönlichen Bezug zum skizzierten Milieu positiv anmerkt. Heute ist eine solche Milieu-Einführung als Debütfilm ein recht häufig zu beobachtender Move, vor allem für Filmemacher mit einem speziellen sozialen Background. Während man den New Hollywood um Martin Scorsese und Francis Ford Coppola immer als Geburtsstunde des Migrationshintergrund-Kinos hält, steckt das doch eigentlich schon alles in „Schatten“ vom griechischstämmigen John Cassavetes. Die politische Positionierung, die der Film natürlich implizit zwangsläufig mit sich bringt (und für die ein Filmemacher immer auch verantwortlich ist, selbst wenn es nicht sein vordergründiges Interesse ist!), scheint mir also nicht das zentrale Anliegen des Films zu sein, sondern lediglich ein kleiner Teil des Milieu-Selbstverständnisses, welches dieser Film hier porträtiert. Hier geht es aber eben auch um Mentalität, um Arbeitertum, um Musik; gleichermaßen universelle, wie höchstpersönliche Dinge.
Not und Luxus
Form und Inhalt verhalten sich in einem Film idealerweise in einem reziproken Verhältnis, in dem Form den Inhalt stützt und umgekehrt. Wenigen Filmen gelingt das auf brillante und gleichzeitig auch noch revolutionäre Art und Weise. Man kann und sollte aber „Schatten“ zu diesen Filmen unbedingt dazu zählen, wenn auch hier mangels komplexer Handlung mehr die Form das Entscheidende und Brillante ist. Ähnlich wie bei Godards Debüt „Außer Atem“, der etwa zeitgleich in Frankreich entstand, ist auch die Form von „Schatten“ gleichermaßen aus einer Not als auch aus einem Luxus seiner Zeit entstanden. Die 16mm-Optik und die Laiendarsteller entspringen einer Not, der schlichten Tatsache, dass Cassavetes nicht viel Geld hatte; eine solch dynamische Handkamera war aber auch erst seit nicht allzu vielen Jahren überhaupt erst technisch möglich und somit ein Luxus seiner Zeit.
Cinematography: Ein fiebriges New York
Das Anliegen Cassavetes‘ einer authentische Bestandaufnahme der ihn umgebenden Sozietät, findet in der filmischen Form ein in jeder Hinsicht geeignetes Ausdrucksmittel. Die fiebrige, für die Entstehungszeit ungewöhnlich bewegte und close-up-affine Kamera erzeugt einen atmosphärischen Zeitkolorit. Cassavetes hat die semidokumentarisch anmutende Mittendrin-Optik, die die Kamera selbst zu einem aktiven Mitspieler werden lässt, natürlich nicht erfunden. Und trotzdem sieht „Schatten“ wie eine Ausnahmeerscheinung im Kino der 1950er und frühen 1960er aus, das noch sehr von Studioaufnahmen und statischen, durchorganisierten Bildern dominiert war.
Eine Szene hat mich aufgrund ihrer optischen Mehrdeutigkeit am meisten beschäftigt: Eine der afroamerikanischen Männer steht darin vor dem Spiegel und redet mit seinem Bruder, den er scheinbar über den Spiegel beobachtet. Allerdings schaut er durch den Spiegel direkt in die Kamera. Dieser Kamerablick durchbricht die vierte Wand, die Illusion, dass wir es hier mit einer echten Geschichte zu tun haben. Ein solcher Blick in die Kamera wirft den Zuschauer selbst auf das filmische Medium zurück, da der Zuschauer selbst angeschaut wird, was innerhalb der Narration ja keinen Sinn ergibt. Es muss nun Spekulation bleiben, ob Cassavetes damit wirlich ähnlich dokumentarfilmischer Konzepte wie dem Cinéma Vérité das Medium selbst reflektieren wollte (womöglich als eine Vorwärtsverteidigung angesichts dem weniger hochglanzpolierten Kamera-Handwerk gegenüber dem Illusionskinos seiner Zeit). Oder aber — und das erscheint mir wahrscheinlicher — ob der schwarze Schauspieler in diesem Moment tatsächlich mit dem anderen Schauspieler sprach und dieser rein zufällig in derselben Luftlinie mit der Kamera stand. In dieser Hinsicht wäre das Verhalten des Schauspielers eigentlich sogar noch authentischer, obwohl wir es aufgrund der zerbrochenen vierten Wand als weniger authentisch empfinden, da unsere Illusion aufgehoben wird. Als Filmschaffender muss man sich in meinen Augen auch immer die Frage stellen, wie wichtig einem totale Authentizität noch ist, in den seltenen Momenten, in denen sie unauthentischer als die Illusion zu sein scheint.
Ton: Jazz als soziales Moment
Der Jazz ist hier nicht nur musikalische Untermalung, sondern Teil der erzählten Welt. Es ist kein Zufall, dass der Film „Schatten“ inmitten einer Jazz-Tanzszene beginnt. Cassavetes wirft uns in seine Welt hinein und die Musik, die auch immer wieder nondiegetisch über den Bildern liegt (in meinen Augen eine kleine Unnötigkeit und Schwäche), ist das Tor zu dieser Welt. Die Musik ist der Kern eines Lebensgefühls, das dieser Film ausdrücken möchte, sowohl als rein akustische Beschallung als auch dramaturgisch durch die Subplots der Jazz-Musiker bzw. -Musiker-Aspiranten. Musik als unterstützendes Mittel, eine bestimmte Stimmung und/oder Mentalität auszudrücken (wie es meines Erachtens das Hauptanliegen Cassavetes‘ war), ist zwar so alt wie der Ton-Film selbst, aber in „Schatten“ immerhin in schöner Konsequenz gewährleistet. Durch die dramaturgische Thematisierung der Musik als gesellschaftliche Stellung, als sozialer Status Quo, wie auch als versuchter sozialer Aufstieg, bekommt Musik im Film darüberhinaus noch so etwas wie eine politische Implikation.
Dramaturgie: Orientierungslosigkeit als Konzept
Auch die Dramaturgie selbst mit seiner willkürlich anmutenden Unstruktur trägt dazu bei, dass man sich in Cassavetes‘ Welt verliert. Durchaus im wahrsten Sinne des Wortes aufgrund einer gewissen (positiven) Orientierungslosigkeit.
Lelia, die einzige nennenswerte Frauenfigur in dieser von Männerfiguren dominierten Film-Gesellschaft ist aber so etwas wie ein ständiger Bezugspunkt. Eine zentrale Position, um die alle zusammenhangsschwachen Subplots herumgelagert sind. Sie stellt nicht nur das erotische Zentrum des Films dar, sondern sie figuriert vor allen Dingen die komplexe, multikulturalistische bzw. mit Hinblick auf die Afroamerikaner eher multiethnische Sozietät, die dieser Film mit dem New York der späten 1950er-Jahre abbilden möchte. Sie ist selbst weiß, aber hat mehrere schwarze Stief- oder Halbbrüder. So genau wissen wir das eigentlich nicht und es ist auch unwichtig. Der Film behandelt diese ungewöhnliche Familie äußerst selbstverständlich, wie es für einen Film aus dieser Zeit doch sehr ungewöhnlich ist. Der Film nennt Dinge in einem positiven Sinne nicht beim Namen. Er kommuniziert das „Sagbare“ seiner Zeit (frei nach Foucaults Diskursanalyse) sehr stark zwischen den Zeilen.
Eine Szene: Rassismus als passiver Akt
Ein Beispiel hierfür ist die großartige Rassismus-Szene, die vielleicht auch die zentrale Szene darstellt, solang man bei einem umherassoziierenden Film wie „Schatten“ überhaupt von einem dramatischen Zentrum sprechen kann. In dieser Szene bemerkt der Liebhaber von Lelia, dass ihre Brüder schwarz sind. Er reagiert darauf sehr eigen, nämlich in einer Mischung aus Enttäuschung und Angewidertheit, die ihm selbst aber sichtlich unangenehm ist, ihn gar mit Scham erfüllt. Hier wird Rassismus nicht wie so oft als aktiver und aggressiver, bewusst verletzender Akt gezeigt, sondern als ein passiver, ja unfreiwilliger Affekt, der dem Rassisten selbst unangenehm ist (wenn auch in diesem Fall eher als Blöße gegenüber der Geliebten). Und trotz relativer Unfreiwilligkeit bleibt dieses Verhalten der verweigerten Handreichung und nachfolgender Flucht natürlich immer noch ein rassistisches und damit ein genuin verletzendes und nicht entschuldbares Verhalten. Cassavetes braucht hier keine moralischen Storywendungen, die den Rassismus verurteilen oder Ähnliches. Ihm reicht stattdessen, dass wir einen detaillierten und empathischen Blick auf die afroamerikanische Bevölkerung haben, um auszudrücken, dass dieses rassistische Verhalten falsch ist. Aber in der Szene selbst kommt das Wort „Rassismus“ gar nicht vor, obwohl es doch subtextuell permanent zwischen den Zeilen schwebt. Man hätte diese Szene nicht besser schreiben können.
„Just smile. Be yourself. You know?„
Ich möchte in diesem Nachdenken über „Schatten“ von John Cassavetes aber von nun an einen Fokus setzen und mich hauptsächlich mit der Schauspielführung in dem Film beschäftigen. Wobei das Wort -führung hier meines Erachtens schon unzureichend ist, es ist eher eine Schauspielrahmung. Die Kunst in Cassavetes‘ Arbeiten lag ja darin, die Schauspieler größenteils improvisieren zu lassen und damit eine Autoren-Autonomie an die Schauspieler abzutreten, ebenso wie an andere Faktoren, die man „Zufall“ oder „Begleitumstände“ nennen könnte. Den Autonomieverlust betrifft die Drehbuch-Position, also die primäre Vision des Filmschaffenden, da das geschriebene Wort niemals durch Improvisation genau so umgesetzt wird, wie es niedergeschrieben wurde. Und gleichermaßen die Regie-Position, also die konkrete Umsetzungsarbeit der Drehbuch-Vision, die sekundäre Vision. Es entsteht aber nun keine tertiäre Vision, sondern etwas völlig Neues. Ein kollektiv geschaffenes Erlebnis, das nicht durch intellektuelles Nachdenken entstanden ist, sondern durch Spontaneität und affektive Handlung. Vorausgesetzt die Schauspieler reflektieren nicht selbst ihr Schauspiel, sondern schaffen es, die Produktionsumstände völlig aus ihrem Handeln auszuschalten. Zu handeln, statt zu spielen. Zu sein, statt Schauspieler-zu-sein. Und genau das ist ja die Kernessenz des Improvisierens und sollte für einen jeden Regisseur, der auf diese Spielweise der Schauspielführung zurückgreift, das Ideal sein, das es zu erreichen oder dem es zumindest möglichst stark anzunähern gilt.
Cassavetes und das kontemporäre Kino
Wenn man sich den Film „Schatten“ ansieht, merkt man, dass dieses Vorhaben vordergründiger Teil des Produktionsdispositivs war und eine brillante Umsetzung gefunden hat. Wenn auch die aktuellen Spielfilme „Victoria“ von Sebastian Schipper und „Ilegitim“ von Adrian Sitaru noch radikalere Vertreter dieser Strategie einfach aufgrund ihrer größeren narrativeren Dimension sind. Auch in „Schatten“ geht es Cassavetes darum, durch improvisiertes und damit autonomisiertes Handeln der Schauspieler eine mehr oder weniger vorgebene Handlung authentisch zu transportieren. Diese vorgegebene Handlung, so darf man mutmaßen, unterscheidet sich aber nur minimal von den Konflikte, die auch die realen Personen hinter den Filmfiguren in ihrem Alltagsleben betreffen, was ein klassisches Vorgehen beim Arbeiten mit Laiendarstellern ist. „Victoria“ und „Ilegitim“ hingegen geben nun eine unwahrscheinliche und unalltägliche Handlung vor (Bankraub und Inzest-Schwangerschaft), die mit dem echten Background des Schauspielers nichts oder wenig gemein haben, sorgen aber letztlich mit denselben Mitteln wie Cassavetes, den Mitteln der Improvisation dafür, dass die Schauspieler diese Handlung, diese Nicht-Realität, glauben und als Realität wahrnehmen, sodass sie handeln, statt zu spielen.
Cassavetes und Laotse
Für mich ist, die Frage nach der Autonomie die entscheidende Frage als Filmschaffender, wenn man sich mit dem Werk Cassavetes beschäftigt. Diese Bereitschaft, die Autonomie an das Unbekannte abzutreten, was Cassavetes hier filmhistorisch exemplarisch und für sich stehend in einer gewissen Radikalität tut, hat etwas Edelmütiges, etwas Lebensbejahendes und Selbstloses gegenüber dem autorenhaften wortgetreuen Inszenieren, das etwas von diktierender Herrschaft hat. Dieser Dualismus zwischen dem einen und dem anderen, ich würde es das intuitive vs. das intellektuelle Kunstschaffen nennen, ist keine neue Beobachtung und eines der ältesten Topoi der Geschichte menschlichen Nachdenkens. Wir finden bereits im Daodejing nach Laotse im allerersten Kapitel diese Unterteilung, wenn auch die Bevorzugung hier eindeutig auf dem intuitiven, in diesem Sinne cassaveteschen Schaffen liegt:
Wer wunschlos ist,
kann das Wunder des Weges erkennen;
Wer Wünsche hat,
wird nur Scheinbares entdecken.
Diese beiden entspringen der gleichen Quelle [der Lust des Kunstschaffens!]
Aber sie tragen verschiedene Namen.
In ihrer Einheit sind sie ein Geheimnis,
ein unendliches Geheimnis —
das Tor aller Wunder.
Einerseits wird der Wunschlose im Daodejing als positiver Pol hervorgehoben, andererseits wird auch die Existenz des negativen Pols als Voraussetzung für das Positive akzeptiert („In ihrer Einheit sind sie (…) das Tor aller Wunder“. Was hier natürlich einen stark mythisch-religiösen Anklang an hat, lässt sich aber auch auf die (Film)kunst beziehen. Erst die Existenz des gegensätzlichen Extrems macht den positiven Pol erst positiv. Oder wie es weiter bei Laotse heißt:
Der Weise tritt zurück,
und gerade deshalb ist er so weit voraus,
Er gibt sein Selbst auf,
und gerade deshalb bleibt es erhalten.
Weil er sein Selbst vergisst,
kann er sein Selbst finden.
Cassavetes wäre nach Laotse also geradezu ein weiser Künstler.
Das filmische Gegenstück hierzu wäre wohl Bresson und sein radikales Modell-Konzept. Schauspieler sind bei Bresson vollständig heteronom, sie sind einzig Agenten des Drehbuchs; Figuren, die sich von A nach B bewegen und Satz X oder Y sprechen. Bresson wählte für diese Schauspieler-„Modelle“ zwar gezielt Laien aus, die die zu spielende Figuren mehr oder weniger bereits gewesen sind, aber in diesem Ansatz liegt meines Erachtens eher ein Hang zur ästhetischen Schlichtheit, eine völlige Reinigung von dem theatralischen Konzept des Schauspiels. Ein wirklich dezidierter Versuch, den Laiendarsteller als Authentizitätsplus einzusetzen, kann man hier nicht vorfinden — oder man müsste man ihn als gescheitert erklären. Aber Bresson ging es wohl wirklich eher um das Schaffen einer neuen Filmsprache, die dem Realismus bzw. Naturalismus gerade keine Rechnung schuldig ist. Des Weiteren steht Bresson wie kaum ein anderer für die totale Kontrolle über die filmische Narration. Jedes Bild und jeder Ton sind von Bresson präzise mit einer Funktion versehen, nichts dem Zufall überlassen. Cassavetes hingegen bewegt sich einerseits auf deutlichen Pfaden des Naturalismus und andererseits, so scheint mir, hat Cassavetes nicht versucht, eine vordefinierte Vision eins-zu-eins in die Tat umzusetzen, was natürlich als naturalistischer Künstler ebenso möglich wäre (Man denke nur daran, wie in diesem Sinne „diktatorisch“ Cristian Mungiu in „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ gearbeitet hat). Dass der Film „Schatten“ in zwei verschiedenen Schnittfassungen erschienen ist, die sich so stark von einander unterschieden zu haben scheinen, dass Publikum und Kritik komplett unterschiedlich auf beide Versionen reagierte, spricht in meinen Augen nämlich eine deutliche Sprache, dass „Schatten“ keine geradlinig verfilmte Autorenvision ist, sondern hier — ganz anders als bei Bresson — vieles dem Zufall überlassen wurde, viel Autorenverantwortung und -einfluss an andere Faktoren ausgelagert wurde.
Autorenautonomie und Autorenschaft
Und über das Autorensein anhand von Cassavetes‘ Schaffen lohnt es sich ebenso als Filmschaffender nachzudenken. Denn dass Cassavetes ein Autorenfilmer ist, würde wohl niemand bezweifeln wollen. Allerdings meine ich, läuft die Abgabe von Autorenautonomie an Schauspieler und andere Faktoren potenziell Gefahr, in Beliebigkeit abzudriften. Was würde passieren, wenn jeder Regisseur in diesem Ausmaß Kontrolle über die Geschichte und ihre Darstellungsweise abgeben würde? Natürlich ist auch die Rahmung, die Cassavetes hier vornimmt, eine Autorenleistung mit originärem Charakter. Jedoch lässt es sich auch auf eine geradezu quantitative Rechnung herunterbrechen, wenn man sich auf die Hypothese einer Welt einlässt, in der es nur Regisseure wie John Cassavetes gäbe. Es ist logisch, dass hier Formate des Autorenseins schlichtweg wegfallen würden (z.B. Drehbuch) oder zumindest stark relativiert werden würden. Einzig erübrigt sich noch die Frage, ob eine derart eingeschränkte Autorenschaft tatsächlich eine (quantitativ) geringere Autorenleistung darstellt oder aber, ob diese Autorenleistung schlichtweg schwieriger zu erkennen ist und damit in Wahrheit womöglich eine (qualitativ) höhere Leistung darstellt? Aber diese Frage möchte ich nicht beantworten. Man muss sich als Filmschaffender fragen, wie weit man sich in seiner eigenen Arbeit der Schaffensposition Cassavetes‘ annähern möchte. Man gewinnt damit in der Tendenz eine Freiheit des Sich-Fallen-Lassen-Könnens, die Laotse sogar weise nennen würde, oder auch ganz pragmatisch eine Authentizität, die mit strikter Eins-Eins-Übersetzung von Drehbüchern unmöglich scheint. Man verliert damit in der Tendenz aber die Kontrolle über die eigene Vision bzw. in völliger Extreme gedacht, sogar vollständig die künstlerische Vision als solche, als eine intellektuelle Leistung. Cassavetes ist in diesem Konflikt der bipolaren Extreme, intellektuellen und intuitiven Schaffens, gleichermaßen ein Pionier und großer Könner der improvisatorischen Schauspielführung, wie sie führ sich stehend in der Tendenz sich klar der Sicherheit einer textbasierten Filmvision entsagt und sich der Freiheit des Unbekannten öffnet.
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