Das Ich gewinnt. Holocaust im Tunnelblick.
Originaltitel: Saul fia
Produktionsland: Ungarn
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: László Nemes
Drehbuch: László Nemes, Clara Royer
Produktion: Gábor Rajna, Gábor Sipos
Kamera: Mátyás Erdély
Montage: Matthieu Taponier
Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Sándor Zsótér, Todd Charmont, Uwe Lauer, Christian Harting, Kamil Dobrowolski, Jerzy Walczak, Marcin Czarnik, Márton Ágh, Levente Orbán, Attila Fritz, Amitai Kedar, Juli Jakab, Tom Pilath, Mihály Kormos, Mendy Cahan
Laufzeit: 107 Minuten
Son of Saul spielt in Auschwitz im Jahr 1944: Saul (Géza Röhrig) muss dort einer furchtbaren Arbeit nachgehen: Ihm ist die Aufgabe übertragen worden, die Leichen seiner getöteten Mithäftlinge zu verbrennen. Als er unter den Toten eines Tages glaubt, den Körper seines Sohnes zu entdecken, versucht er ihn vor dem Verbrennen zu bewahren und ihm die letzte Ehre durch eine traditionell jüdische Bestattung zu erweisen. Damit bringt er aber nicht nur sich selbst, sondern das ganze Sonderkommando in Gefahr.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Der Auslandsoscar 2016 für den ungarischen Auschwitz-Film „Saul fia“ ist deswegen so interessant, weil der Film eine vollständige Antithese zum Auslandsoscar-Gewinner von 1999 „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni darstellt. Darin ging es um einen jüdischen Vater, der zusammen mit seinem Sohn in die Vernichtungslager gerät, die SS überlisten kann und seinen Sohn retten kann. Das Ganze ist in einem sehr schrillen, bunten Komödienstil gehalten, er setzt auf Identifikation mit den charismatischen Figuren und macht den Holocaust damit zu einem kollektiven Erlebnis für die ganze Familie. Dieser ziemlich idiotische Film gilt bis heute in Zuschauer-Algorithmen ausgedrückt als einer der besten Filme aller Zeiten. Trotz desselben Oscars wird dieses illustre Schicksal der Massen-Popularität dem Film „Saul fia“ nicht widerfahren. Einzig weil dieser filmästhetisch wesentlich anspruchsvollere Film sich zum Ziel gesetzt hat, den Holocaust zu zeigen, wie er wirklich gewesen ist. Dreckig, brutal und vor allem von einem Überlebens-Egoismus eines jeden Opfers gezeichnet. Und auch hier gibt es einen Vater und einen Sohn, allerdings ist der Sohn, vermutlich gar nicht sein echter Sohn, bereits gestorben und es geht nur noch um ein äußerst egoistisches und angesichts des kollektiven Leidens auch reichlich sinnloses Motiv, dem toten Kind eine angemessene, jüdische Erdbestattung zu ermöglichen. Diese Ich-Bezogenheit im Gegensatz zu den meisten anderen KZ-Filmen, die meistens von einer Gemeinschaft erzählen, ist das zentrale Anliegen des Films von László Nemes. Dieser aus Zuschauersicht interessante Egozentrismus des Films gibt der Faschismusaufarbeitung eine spannende neue Stimme, obwohl dem Film leider eine eher unproduktive Künstlichkeit anhaftet.
Berechnetes Nicht-Zeigen
Um diesen erzählerischen Modus zu betonen, hat sich der ungarische Regisseur, der hier seinen Debütfilm vorlegt, ein kinematografisches Gimmick ausgedacht. Der Film ist beinahe vollständig auf den Protagonisten in einem Close-Up gerichtet. Nur das Gesicht des KZ-Häftlings Saul Ausländer (möglicherweise ist die Namenswahl sogar eine Anspielung auf den aufkommenden Rechtspopulismus im gegenwärtigen Deutschland) ist scharf gestellt, alles was im Hintergrund geschieht, ist verschwommen. Und jenes Verschwommene ist die meiste Zeit der Vergasungs- und darauffolgende Verbrennungsprozess der Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. So nah dran war zuvor kaum ein KZ-Film und dann interessiert sich László Nemes nur für seinen Protagonisten Saul. Das ist natürlich eine provokative Berechnung. Das Grauen soll nicht gezeigt, nur angedeutet werden. Kein neuer, aber immer noch ein effektiver Trick. Saul ist ein Mitglied des sogenannten Sonderkommandos. Eine dem Kapo unterstellte Gruppe von Häftlingen, die bei der industriellen Ermordung der Juden mithelfen musste bzw. durfte, für diesen Dienst minimal privilegiert waren und nach einer Zeit dann selbst als komplette Gruppe ermordert wurden, damit es keine Zeugen vom Genozid geben konnte.
RPG: Auschwitz
Die Kamera ist immer bei Saul und fokussiert nur etwas anderes als das apathische Gesicht des ungarischen Juden, wenn dieser mal in die Ferne blickt. Das passiert äußerst selten und hat dann immer eine explizit dramatische Funktion. Dadurch, dass die Kamera fast immer auf Saul gerichtet ist, simuliert Nemes einen Tunnelblick. Der Schrecken um ihn herum ist für Saul zu einem unwirklichen Rausch geworden, dessen Regeln er verinnerlicht und professionalisiert hat. Wenn ein SS-Mann ihn anrempelt, zieht er blitzschnell seine Mütze ab und steht still und respektvoll da, um keinen Ärger zu bekommen. Als er einen Rabbi rettet, weiß er genau, wie er vor dem Obersturmbandführer auftreten muss, um am Leben zu bleiben. Realistisch geschweige denn naturalistisch ist „Saul Fia“ aber gerade nicht, denn seine rauschhafte Bildsprache und sein strenger Rhythmus, in dem ständig etwas passiert und nie eine Sekunde der Ereignislosigkeit einbricht, hat etwas äußerst Künstliches. Hier tut auch das eher schlechte, weil grobschlächtige Sounddesign seinen Beitrag, welches dem Film mit besonders fies deutsch nachsynchronisierten SS-Schergen und lauten Sound-Effekten etwas von der Brachialität zurückgeben will, die der eingeschränkten Sicht der Kamera fehlt. Durch die Ich-Bezogenheit der Kinematografie und dem Umgang von Saul mit seinen Mitinsassen, mit denen er ab und wann konversieren muss, um bestimmte Ziele zu erreichen, hat der Film auch etwas von einem RPG, also einem Rollenspiel-Videogame. Dieser Modus macht den Faschismus gerade nicht anstrengend und unerträglich wie es Pier Paolo Pasolini beispielsweise in seinem letzten Film „Die 120 Tage von Sodom“ zu erreichen vermochte und brachte „Saul Fia“ die Kritik ein, den Holocaust zu einem Spektakel zu machen. Auschwitz ist eben nicht Berlin, Massenmord kein Bankraub und „Saul Fia“ nicht „Victoria„.
Ein letzter Triumph umgeben von Sinnlosigkeit
Alle Handlungen von Saul sind einem Überlebenstrieb untergeordnet und höchstfunktional. Bis auf eine. Dass Saul einem (sehr wahrscheinlich) völlig fremden Kind ein Begräbnis gewähren und ihm vor dem würdelosen Feuertod bewahren will, ist die große Pointe von „Saul fia“. Mehrfach im Film wird darauf hingedeutet, dass Saul keinen Sohn hat und er sich die Verwandtschaft mit dem toten Jungen nur einredet. Warum tut der funktionale Mensch Saul Ausländer hier etwas völlig Irsinniges, welches sein eigenes und das Leben seiner Mitinsassen aufs Spiel setzt? Warum nur? Meiner Ansicht nach ist es der Reiz nach einer wahren Aufgabe. Der Reiz, inmitten völlig demütigender Funktionalität, in der man selbst ein Zahnrad ist und im Angesicht des sicheren Todes, etwas zu tun, das für das Selbst einen Wert hat. Weil Saul in einem Mechanismus, der ihn selbst abschaffen wird, zur völligen fehlerfreien Produktivität verdammt ist, muss er eine externe Aufgabe finden als letzten Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit. Das ist die faschismuskritische Essenz in László Nemes‘ Film. Und dass diese externe Aufgabe ausgerechnet eine religiöse ist, sollte man weniger als ein letztes Aufbegehren jüdischer Kultur gegen den Nationalsozialismus lesen, sondern eher als eine ganz persönliche, egoistische Transzendenz. Und ja, Sauls Verhalten ist blanker Irrsinn, weil dieses Begräbnis rein gar nichts ändern würde, außer eben womöglich eine abschließende Zufriedenheit des Individuums Sauls im Moment seines Todes. Saul begreift nämlich, dass selbst wenn er sich den Regeln des Faschismus beugt, er immer ein Jude bleiben wird und sein Tod beschlossene Sache ist. Man könnte gar so weit gehen und sagen, dass Saul ein Realist ist, denn als einziger Mensch im Film betrachtet er die Möglichkeit des Überlebens als derart unwahrscheinlich, dass er im Gegensatz zu seinen Mitinsassen nur noch an den kleinen, symbolischen Erfolg der Beerdigung seines „Sohnes“ glaubt, welcher im Verhältnis seiner Umstände ein triumphaler und überirdisch schöner Abschluss eines ephemeren Lebens wäre.
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