Thriller-Selbstreflexion und ästhetischer Nihilismus.
Originaltitel: Spoorloos
Alternativtitel: The Vanishing, Spurlos verschwunden
Produktionsland: Niederlande, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 1988
Regie: George Sluizer
Drehbuch: George Sluizer (nach einem Roman von Tim Krabbé)
Produktion: Anne Lordon, George Sluizer
Kamera: Toni Kuhn
Montage: Lin Friedman, George Sluizer
Musik: Henny Vrienten
Darsteller: Gene Bervoets, Johanna ter Steege, Bernard-Pierre Donnadieu, Gwen Eckhaus
Laufzeit: 103 Minuten
Saskia und Rex, ein junges Paar aus Amsterdam, befinden sich auf Urlaubsreise durch Frankreich. An einer Tankstelle ist Saskia plötzlich verschwunden. Für immer. Niemand hat etwas gesehen. Rex kann es nicht fassen und ist auch noch drei Jahre später mit der Suche nach seiner wie vom Erdboden verschluckten Freundin beschäftigt. Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen, Suchaktionen. Nichts. Bis sich eines Tages ein verdächtig harmloser Chemielehrer meldet. Der Mann weiß alles, doch er gibt seine Informationen nur bruchstückartig weiter.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Genre-Filme: das sichere Fahren in vorgegebenen Bahnen. Mal eine Kurve etwas schneller nehmen als andere, meinetwegen einen Drift mit der Handbremse hinlegen. Aber ansonsten bleibt einem als Genre-Filmemacher metaphorisch gesprochen wohl nicht viel mehr als das „Gasgeben“, also das auf die Spitze treiben von Dagewesenem. Höher, schneller, weiter. Daher finde ich Genre-Filme zwar oft „gut“, aber selten grandios. „Spoorloos“ vom Weltenbummlerfilmemacher George Sluizer ist eine der seltenen Ausnahmen. Dem Niederländer gelingt es, das gesamte Thrillergenre auf links zu drehen, völlig neue Genreregeln aufzustellen und funktional zu machen, das gesamte Genre metareflexiv zu kommentieren und nebenbei noch einen handwerklich perfekten, zermürbend spannenden und bitterbösen Film daraus zu machen, auf den selbst ein Alfred Hitchcock — hätte er ihn miterlebt — nur neidisch hätte sein können.
Zeitgefühl: Alltäglichkeit
Dabei fängt alles so friedlich und liebenswert niederländisch an. Ein junges Paar, Rex und Saskia, fahren mit dem Auto nach Südfrankreich, man späßelt und lacht. Dann: Das Benzin geht aus, das Auto bleibt in der Dunkelheit eines Tunnels stehen, Rex geht allein los, kommt mit dem Kanister zurück, Saskia ist auf einmal weg. Schreck lass nach. Aber nur wenige Meter weiter steht dort Saskia bereits wieder. Diese etwa zehnminütige Eingangssequenz ist eine kleine motivische Vignette, auf das, was später folgen wird. An einer belebten Tankstelle, am helllicht-sonnigen Tag, wird Saskia wenig später wirklich spurlos und für alle mal verschwinden. Mit diesem „doppelten“ Verschwinden, bei dem das wirkliche Verschwinden weitaus unspektakulärer und beiläufiger daherkommt als das erste symbolische, pflanzt Sluizer bereits ein starkes, naturalistisches Gefühl für Raum und Zeit in den Zuschauer ein. Auch wenn „Spoorloos“ ebenso hin und wieder treibende Musik einsetzt, ist Sluizer brillant darin, ein authentisches Gefühl von alltäglicher Situation zu etablieren, in denen schlimmste Dinge passieren können. An der Autobahnraststätte wartet das unvorhergesehene Grauen.
Raymond vs. The World
Dieses Grauen trägt den Namen Raymond Lemorne. Wir lernen ihn nach ca. einer halben Stunde unverblümt und direkt, ebenso wie sein diabolisches Vorhaben, eine Frau zu entführen, in einem separat erzählten Täter-Plot kennen. Was wir zunächst nicht erfahren ist, warum Raymond das tut. Ein Chemielehrer, geliebter Ehemann und Vater von zwei Töchtern, ein bisschen verschroben vielleicht, aber scheinbar alles andere als ein Unmensch. Wir beobachten Raymond beim minutiösen Planen seiner Tat, ebenso wie beim Spielen mit der geliebten Familie. Chloroform wird genauestens auf Wirkungslänge/ml sowie in geringeren Mengen als Beruhigungsmittel eingesetzt. Generalproben werden veranstaltet, dabei der Puls gemessen. Es ist genial, wie ernst und haptisch Sluizer das Tätersein nimmt, dass wir in der Regel nur als verschleiertes, mystifiziertes Böses aus der Protagonistenseite kennen. Es ist auch genial, wie sich hier ein völlig neues psychologisches Motiv herausschält: das des nihilistischen Spielers. Raymond weiß um die moralische Unrichtigkeit seiner Tat, sein Handeln ist ein reines selbstgerechtes Spiel mit dem Nervenkitzel. Das Annehmen einer Herausforderung. Ein einziger Mann, mit dem Vorsprung der perfekten Planung und Vorbereitung, gegen Polizei, Forensik, Imponderabilien, den rachsüchtigen Ehemann, ja, buchstäblich die Welt.
Sichtbares Genre-Skelett
Nach dieser atemberaubend unorthodoxen doppelten Exposition kommentiert der Film weiterhin selbst seine Form. Das Motiv der Herausforderung wurde gesetzt und nun — ein Zeitsprung einiger Jahre später — auch direkt vom Protagonisten als solche verstanden und angenommen. Rex, mittlerweile mit einer anderen Frau zusammen, besucht wieder Südfrankreich und macht sich unter großem Medieninteresse auf die Suche nach dem vermeintlichen Mörder seiner Frau. Klar ist, wer Saskia entführte und warum. Unklar ist, wie und was schließlich mit ihr passierte. Diese beiden Informationen spart Sluizer gezielt und unbamherzig aus. Und tatsächlich geht es auch dem Protagonisten nur um das Erlangen dieser beiden Informationen. Im Fernseher spricht Rex zu Raymond, er würde ihn nicht hassen, er möchte nur wissen, wo Saskia ist und was aus ihr wurde. Es geht hier eigentlich nicht mehr um Rache, sondern um das Lösen eines intellektuellen Rätsels, das Duell zweier Spielernaturen, es geht hier eigentlich um das, worum es in jedem Thriller oder Kriminalfilm wirklich, nämlich filmmechanisch geht, nur dass es „Spoorloos“ schonungslos offengelegt. Struktur wird hier sichtbar und versteckt sich nicht mehr unter Alibi-Verschleierungen wie der Rache o.Ä.
Gegenspieler und Brieffreunde
Aber damit nicht genug legt Sluizer noch eine Schippe oben drauf. Der Film hat reflexiv auf sein eigenes Skelett verwiesen, aber könnte trotzdem weiter als klassischer Genre-Film lustvoll beim Duellieren der beiden zusehen. Dann besucht Raymond aber überraschenderweise Rex in den Niederlanden und legt alle Karten seiner Motivik offen. Er stellt sich als Täter der Entführung vor und lädt ihn sogar ein, ihm die gesamte Geschichte zu erzählen, wenn er ihm folgen sollte. Die beiden sitzen ruhig in Raymonds Auto, nicht wie zwei Gegenspieler eines Thrillers, eher wie Brieffreunde, die sich zum ersten Mal im realen Leben sehen. Zwischen ihnen ein Mythos, von dem der eine nichts und der andere alles weiß. Aber für beide ist er, dieser Mythos, ihr gesamtes Leben. Eine Ästhetisierung von Schicksalsschlägen, die beiden gemeinsam ist. Der eine ästhetisiert sein Leid, der andere seine Schuld. Zwei Seiten derselben Medaille.
Reine ästhetische Erfahrung des Lebens
Auf einer wieder einmal sehr naturalistisch inszenierten Autofahrt erzählt Raymond von seinem Leben. Als Kind habe er das Verlangen gespürt, aus dem Fenster zu springen. Obwohl offensichtlich keine Vorteile, sondern das reine Risiko von Tod oder körperlicher Behinderung damit verbunden, springt er. Und lernt ein Gefühl kennen: Das Gefühl, etwas Irrationales zu tun, nur um es zu tun. Um es zu erleben. Eine Grenze zu überschreiten, deren Übertritt genuin ästhetisch und damit befriedigend ist, weil er reines Erleben ist. Dieses psychologische Motiv ist also reiner Nihilismus. Das Austesten irdischer Erfahrung, selbst dort und gerade dort noch, wo sich kein einziger logischer Grund, und schon gar nicht dem der Moral, mehr finden lässt. Außer dem einfachen Grund, es zu tun. Und im Falle des Verbrechens, welches natürlich demselben Motiv zugrunde liegt, sogar noch eine Reihe von Folgeerfahrungen (Beweismittelvernichtung, Paranoia usw.) garantiert, die — so gesehen — ein Leben in permanenter Spannung und daraus resultierend eine dauerhafte ästhetische Erfahrung produziert, ohne Grenzen eines Kunstmediums (der hier reflektierte Thriller ist ebenso eine ästhetische Erfahrung durch Spannung, nur relativiert durch das Wissen über seine Fiktion).
Der Film stellt hier höllisch präzise und sogar poetisch eine psychologische Veranlagung dar, die hochgefährlich ist, da sie grundlegend in jedem von uns (sei sie noch so minimal) vorhanden ist und die bei ihrer Auslebung, wie hier exemplarisch an einer Entführung gezeigt, zur Ästhetisierung der Unmoral werden kann (ein anderes Exemplar wäre der Faschismus).
Der Wille zum Leben
An dieser Stelle, wo uns der Film noch seine eigene Mechanik der „Erwartung vor der ästhetischen Erfahrung“ poetisch und süß vorsingt, wird „Spoorloos“ endgültig zu einem Metafilm und einer Reflexion über sein eigenes Genre. Denn Rex könnte hier jederzeit Raymond der Polizei aussetzen oder aus Angst umkehren und davonrennen, aber dann – so verrät ihm Raymond – wird ihm das Geheimnis nicht verraten. Und damit auch dem Zuschauer nicht. Raymond wird hier zu einem Demiurg der Geschichte, in der er selbst mitspielt und Rex‘ Perspektive fällt mit der des Zuschauers vollkommen überein. Ebenso wie der Zuschauer hat auch Rex letztlich keine größere Sehnsucht, kein größeres Ziel im Leben mehr, als endlich der Wahrheit ausgesetzt zu sein. Was diesen bedingungslosen Willen im Prinzip demselben ästhetischen Prinzip unterordnet wie die amoralischen Handlungen Raymonds. „Der Wille zum Leben“ ist, wie Schopenhauer wusste, nicht sittlich, sondern rein nihilistisch zu begreifen.
Rex, der diese süße Lust spürt, endlich die Luft der Wahrheit zu atmen.
Und wir wissen alle, wie er sich entscheiden wird.
Aber was wussten wir schon wirklich.
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