Feminismus ohne Freilufthaltung.
Originaltitel: Utopia
Alternativtitel: Das ferne Land Utopia
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 1983
Regie: Sohrab Shahid Saless
Drehbuch: Manfred Grunert, Sohrab Shahid Saless
Bildgestaltung: Ramin Reza Molai
Produktion: Renée Gundelach, Willi Segler
Montage: Christel Orthmann
Darsteller: Manfred Zapatka, Imke Barnstedt, Gundula Petrovska, Gabriele Fischer, Johanna Sophia, Birgit Anders
Laufzeit: 187 Minuten
A treatise on love and desire tainted by harsh reality of capitalism, in which submission to the laws of lust-as-commerce is played out by five prostitutes and their pimp, who pits them against one another so that they are incapable of standing up to him collectively.
Quelle: imdb.com
Replik:
In den 1980er Jahren darf neben dem wunderbaren „Taxi zum Klo“, der als einer der ersten deutschen Filme homosexuelle Partnerschaft thematisierte, vor allem „Utopia“ als ein (häufig übersehenes) Kernwerk einer Geschichte pionier-progressiver Gehversuche gelten. Für die Geschichte des feministischen BRD-Films ist ausgerechnet dieses Opus Magnum des Exil-Iraners Sohrab Shahid Saless bedeutsam. Das Kammerspiel verfolgt drei Stunden lang fünf Berliner Prostituierten, die in ihrem sklavischen Verhältnis zu ihrem Zuhälter Heinz genauso zum paralysierten Zusehen und Mitmachen animiert sind, wie es Shahid Saless gewissermaßen auch seinem Publikum aufzwingt. Es ist bei all seiner Staubtrockenheit, zermürbender Sperrigkeit und nicht immer freiwilliger Hölzernheit letztlich gerade wegen dieser radikalen, an Fassbinder erinnernden Formstrenge sehenswert.
Frauen als Mastvieh
Man kann, vielleicht muss man auch „Utopia“ einiges vorwerfen, das sich nicht nur mit Verweis auf die Entstehungszeit entschuldigen lässt. Die Figuren sind alles andere als psychologisch gehalten und im Falle der Frauen von teilweise schlicht hilfloser Dummheit oder aber frustrierend einseitiger Bösartigkeit (Zuhälter Heinz). Die Dialoge schießen sich Subtexte hin und her oder liefern halbgare Vorgeschichten (z.B. der gewalttätige Vater von Heinz). Nach einer Weile kommt man aber unweigerlich dahinter, dass Shahid Saless seine Figuren völlig absichtlich als holzschnittartige Modelle anlegt, um damit eine inszenatorische Idee zu verfolgen, die aus „Utopia“ einen konkreten Schaukasten eines Miniaturspiels macht. Besonders auffällig — und ein zeitgenössischer Feminismus würde hier wohl kritisch andocken — ist die Inszenierung der Frau als Mastvieh bzw. Geflügel. Tatsächlich agieren die Prostituierte in „Utopia“ bereits rein körperlich ganz ähnlich eines hilflosen Tieres (besonders deutlich wird das in der finalen Szene, siehe unten). In überzogener Drastik nimmt Saless damit in gewisser Weise vorweg, was Pierre Bourdieu 1998 in seinem feministischen Spätwerk „Die männliche Herrschaft“ untersuchte: Die Inkorporation der patriarchalen Machteffekte in den (weiblichen) Körper. Man könnte dieselbe Geschichte wie „Utopia“ natürlich auch prinzipiell mit rebellischeren und selbstbewussteren Körpersprachen inszenieren, zweifellos.
Eine Etagenwohnung als Gefängnis
Damit wäre „Utopia“, dann aber „nur“ eine halbwegs gewöhnliche Lehrstunde feministischen Befreiungskampfes. Was diesen Film so bemerkenswert macht, ist die Kompromisslosigkeit seines Ansatzes, der sich primär durch die schiere Länge von über drei Stunden ergibt. „Utopia“ ist quälend. Die Gewalt ist quälend, die Wehrlosigkeit ist quälend. Der Ort, der immer gleich bleibt und nur durch ein folterndes Klingelgeräusch zeitlich strukturiert zu sein scheint, ist quälend. „Utopia“ ist in seiner Raum- und Zeitform erbarmungslos, das setzt der Film als konkrete Medium-Publikums-Geste, als Erfahrung ein. Dadurch entsteht tatsächlich ein Gefühl von Lähmung und angestauter Wut. Wo ein anderer (gängiger) Feminismus eher auf Heldinnen setzen würde, die aus intrinsischer Motivation heraus, das Gefängnis sprengen wollen, ist es in „Utopia“ ein langsamer Prozess der Befreiung, der sich viel mehr für die konkrete Lähmungsweisen der gefangenen Körper zu interessieren scheint. Aber das ist interessant, denn obwohl „Utopia“ formell immer einen theatralen Modellcharakter beibehalten wird, erhält man tatsächlich einen körperlichen Eindruck, auf welche Weise das Wegschauen, Bagatellisieren und passive Unterstützen der eigenen Unmündigkeit im patriarchalen System der porträtierten Zeit strukturiert wohl gewesen sein mag.
Direkt ins Herz
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf das wunderbare Ende von „Utopia“ zu sprechen kommen. Inhaltlich ist dieses so wenig überraschend, dass man es hier ohne große Spoilerwarnung ansprechen kann: Die Frauen ermorden nach drei Stunden der eigenen Peinigung endlich ihren Zuhälter. Es ist aber ein ganz famoser Mord, einer der ungewöhnlichsten und gewissermaßen schönsten der Filmgeschichte. Renate, die Frau des Zuhälters, sticht dem Zuhälter Heinz ins Herz. Durchaus realistisch dauert sein Ableben eine Weile, er verblutet. Bis er stirbt (bzw. so schwach ist, dass die Hühner über ihn herfallen), hat er seine Frau noch herrlich schockiert gefragt, was sie da getan hat und sie tausendmal sexistisch beleidigt. Eine schöne Pointe, irgendwie, dass dahinter natürlich auch die Metapher eines gebrochenen Herzen, eines unverstandenen und nicht-verstehenden Menschen steht, der sich bis zum Ende nie richtig gelernt hat, zu artikulieren.
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