Griff nach gesellschaftlicher Geltung.
Originaltitel: Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija
Alternativtitel: God Exists, Her Name Is Petrunija; Gott existiert, ihr Name ist Petrunija
Produktionsland: Mazedonien, Belgien, Slowenien, Kroatien, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2019
Regie: Teona Strugar Mitevska
Drehbuch: Teona Strugar Mitevska, Elma Tataragic
Produktion: Labina Mitevska
Kamera: Virginie Saint Martin
Montage: Marie-Hélène Dozo
Musik: Olivier Samouillan
Darsteller: Zorica Nusheva, Labina Mitevska, Simeon Moni Damevski, Suad Begovski, Violeta Shapkovska, Stefan Vujisic, Xhevdet Jasari, Andrijana Kolevska u.A.
Laufzeit: 100 Minuten
Quelle: de.wikipedia.org
Die mazedonische Stadt Štip, in der Gegenwart: Die übergewichtige Petrunija ist 32 Jahre alt und lebt noch immer bei ihren Eltern Vaska und Stojan. Sie hat erfolgreich ein Geschichtsstudium absolviert, findet aber damit keine Arbeit. Nach einem herabwürdigenden und nicht erfolgreichen Vorstellungsgespräch in einer Textilfabrik, trifft Petrunija durch Zufall auf eine heilige Prozession – die Männer der Stadt sind unterwegs zum Fluss, wo ein Priester wie jedes Jahr am Dreikönigstag ein heiliges Kreuz von einer Brücke wirft. Derjenige, der das Kreuz zuerst findet, soll Glück haben. Aus einem animalischen Instinkt heraus springt Petrunija angezogen ins kalte Wasser und gelangt als erste an das kleine Holzkreuz. Die Männer entwenden ihr aber den Glücksbringer, entgegen der Proteste des Priesters Kosta, der auf die Rückgabe an Petrunija besteht. Petrunija gelingt es aber, das Kreuz zurückzuerlangen und nach Hause zu flüchten. (…)
Replik:
Manche Prämissen sind schon fast eine Garantie für einen gelungenen Film. Petrunija, die 32-jährige, unattraktive, arbeitslose Antiheldin par excellence springt aus dem Affekt heraus ins Wasser und fängt ein Kreuz. In einem Wettkampf, wie er in vielen christlich-orthodoxen Gegenden Tradition ist und dem Fänger des Kreuzes ein ganzes Jahr Glück bescheren soll. Problem nur: In vielen Gegenden, wie auch hier, in Mazedonien, ist diese Tradition ausschließlich Männern vorenthalten. Da dieser Tabubruch aber nicht nach geltendem Recht, sondern nur auf Basis religiöser Tradition zu verurteilen ist, liegt hier ein Präzedenzfall vor, den Regisseurin Teona Strugar Mitevska nutzt, um unsichtbare patriarchale Barrieren aufzuzeigen und diese gleichzeitig mit voller Breitseite zu beschießen. Denn was Petrunija hier wirklich ergreift, ist nicht nur ein Holzkreuz, sondern nichts Geringeres als gesellschaftliche Geltung. Ein Holzkreuz als ideale Metapher für symbolisches Kapital.
Eine Prämisse als Selbstläufer
Die Inspiration für Mitevskas Film kommt aus einem lokalen Zeitungsartikel. 2014 ereignete es sich tatsächlich, dass eine Frau diese orthodoxe Tradition provozierte, indem sie das Kreuz fing und nicht mehr hergeben wollte. Geschichten wie hier vorliegend sind für Drehbuchautoren sicher absolute Idealfälle, da sie für sich stehend schon brillant allegorisch und dabei gleichermaßen visualisierbar bleiben, sowie auf eine für das internationale Publikum weitestgehend unbekannte und daher exotische Praxis rekurrieren, die aber dennoch selbsterklärend ist. Man muss kein Kenner der orthodoxen Kirche zu sein, um diese Tradition bereits beim Zuschauen zu begreifen und gleichzeitig versteht man sofort die empörten Reaktionen der Männer, ohne dass man mit ihnen den Kulturraum teilen muss.
Allegorie für das Feministisch-Ganze
Das Holzkreuz ist eine symbolische Reliquie der gesellschaftlichen Geltung. Männern ist es in dieser skizzierten mazedonischen Gesellschaft erlaubt, Glück zu haben. Erlaubt, mit Gottes Segen, Wettkämpfe zu gewinnen und sich dafür rühmen zu lassen. Frauen ist es rechtlich nicht verboten, aber diffuse Barrieren halten sie davon ab. Blicke, Selbstverständlichkeiten, Bezüge auf Schon-Immer-Dagewesenes und Sakrales (selbst wenn man nicht wirklich gläubig ist). Alles, was sich hier in der Allegorie der religiösen Tradition vollzieht, lässt sich auch 1zu1 auf den feministischen Gesamtdiskurs beziehen. Inkorporierte Weiblichkeit (vgl. Bourdieu), die nicht einmal auf die Idee kommt, diese unsichtbaren, aber genauso wenig objektivierbaren Gesetzmäßigkeiten zu durchbrechen. Und so ist es bei Petrunija auch gar nicht so sehr ein feministischer Gedanke, der sie zum Fangen des Kreuzes bewog, sondern ein Affekt. In dem Moment sei sie „ganz Tier gewesen“. Ganz Mensch gewesen könnte man auch sagen. Oder auch vollkommen andersherum, aber trotzdem auf dasselbe hinauslaufend: gottgelenkt. In einer epiphanischen Geste für einen Moment von ihrer körperlichen und geistigen Determination des Frauseins, des Nichtspringenwollens, entkoppelt.
Ideologisches Koordinatensystem
Mitevska baut um ihre Hauptfigur herum ein recht deutlich als solches erkennbares Koordinatensystem der Ideologien auf. Wir haben die extrem-misogynen jungen Männer der Kleinstadt, die ihr das Kreuz wieder entreißen wollen, wir haben Kirche und Staat, die im Rahmen ihrer Regularien zwischen Bewunderung und Feindschaft für Petrunija oszillieren. Und wir haben Petrunijas Verbündete, davon am äußersten Pol des Diskurses sicher die stolz-feministische Reporterin, die Petrunijas Kampf zu ihrem eigenen macht und dem Publikum betont unsubtil das passende Vokabular zum Geschlechterkampf oktroyiert. Das große Kunststück des Drehbuchs ist es, trotz der großen Offensichtlichkeit einer gewissen feministischen Programmatik des Filmes und der Figuration der jeweiligen Diskurspositionen anhand der verschiedenen Figuren, dennoch alles so lustvoll-spielerisch miteinander und gegeneinander schwingen zu lassen, dass „God Exists, Her Name Is Petrunya“ zu keinem Moment langweilt oder frustriert. In seinen besten Momenten schafft es Mitevska aus ihrem permanenten Konfliktherd gleichzeitig absurde Komik, als auch große, gefühlvolle Tragik schöpfen zu lassen und sie gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen.
Eine (zu) seltene Heldin
Und mitten in diesem Koordinatensystem ist eben diese Petrunija. Es ist eine faszinierende Frauenfigur und das nicht nur, weil sie mit Alter und Leibesfülle weit aus dem klassischen Besetzungsmuster von Schauspielerinnen herausfällt. Petrunija ist keine Außenseiterfigur, die der aggressiven Außenwelt stoisch standhält, sondern dieser sogar trotzig und gewitzt etwas entgegenhält. Gar nicht so wenig, eigentlich. Petrunija ist gleichermaßen gebildet wie bauernschlau und hat auch so etwas wie einen charmanten Zynismus. Sie weiß, wie sie ihr Spiel zu spielen hat. Sie hat zwar ihre tief verankerten backstory wounds, ist davon aber nicht gebrochen. Sie braucht diese ganzen Verbündeten eigentlich gar nicht. Es ist erfrischend, dass wir einer Außenseiterfigur nicht nur beim reinen Leiden und Fehlermachen zuschauen müssen, sondern wirklich jede ihrer Entscheidungen mittragen können und wollen und dabei eine diebische Freude spüren, weil mit jedem ihrer Provokationen, das ganze System um sie herum, an ihr mehr und mehr verzweifelt. Bis der Film dann am Ende leider auch ein bisschen selbst in Verzweiflung gerät. Denn der großen Komplexität ihrer genialen Prämisse wird „God Exists, Her Name Is Petrunya“ am Ende nicht mehr ganz gerecht, wenn Petrunija das Kreuz in einer gönnerhaften Geste einfach wieder zurückgibt, obwohl der Film gerade zu diesem Zeitpunkt noch voller lodernder Konfliktherde ist, die noch Potenzial für zwei oder drei grandiose Plotpoints gehabt hätten.
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Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © Sister and Brother Mitevski / Virginie Saint Martin / trigon film
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