Ein Wintergedicht in romanhafter Breite .
Originaltitel: Kış Uykusu
Alternativtitel: Winterschlaf
Produktionsland: Türkei
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Nuri Bilge Ceylan
Drehbuch: Nuri Bilge Ceylan, Ebru Ceylan
Produktion: Zeynep Özbatur
Kamera: Gökhan Tiryaki
Montage: Nuri Bilge Ceylan, Bora Göksingöl
Darsteller: Aluk Bilginer, Demet Akbağ, Melisa Sözen, Ayberk Pekcan, Nejat İşler, Serhat Kılıç, Tamer Levent
Laufzeit: 196 Minuten
Aydin (Haluk Bilginer), ein ehemaliger Schauspieler, leitet gemeinsam mit seiner deutlich jüngeren Ehefrau Nihal (Melisa Sozen) und seiner Schwester Necla (Demet Akbag) ein kleines Hotel in Zentralanatolien. Aufgrund seines Vermögens gilt Aydin in der Bergregion als einflussreicher Mann. Dieser unbequemen Verantwortung entzieht er sich allerdings, indem er zurückgezogen an einem Buch über das türkische Theater arbeitet. Zudem ist die Beziehung zwischen Aydin und Nihal problematisch, was nicht zuletzt an seinem eigenwilligen, egoistischen Charakter liegt. Die lethargische Necla leidet unter ihrer frischen Scheidung. Als der Winter hereinbricht, und der erste Schnee zu fallen beginnt, bietet ihnen das Hotel eine willkommene Zuflucht. Es ist jedoch ebenso ein Ort, dessen räumliche Enge zwangsläufig Zündstoff für die sowieso angespannten, von Machtspielen gekennzeichneten Beziehungen der drei Menschen untereinander bietet.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
Egal, ob man die Goldene Palme für Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“ als Manifestation filmwissenschaftlicher Relevanz der neuen Welle türkischer Filmemacher in den letzten 15 Jahren (Reha Erdem, Semih Kaplanoğlu, Pelin Esmer, Yeşim Ustaoğlu usw.) oder als individuellen Sieg eines der gefeiertesten Auteurs unserer Zeit versteht, die Preisvergabe ist in beiden Fällen eine logische Konsequenz und notwendige Würdigung. Dabei ist „Winterschlaf“ vielleicht nicht einmal der beste Film, den das aktuelle türkische Kino hervorgebracht hat, aber er er wird die Aufmerksamkeit auf ebenjenes lenken und vereint in seinen über 3 Stunden eine Vielzahl seiner Stärken: Fotografische Brillanz, politische Relevanz, wunderbares Schauspiel, sowie Dialoge, die das Poetische im Profanen betonen. „Winterschlaf“ ist ein Wintergedicht von romanhafter Breite.
Inszenatorische Framung erzeugt Natürlichkeit
Nuri Bilge Ceylans Wurzeln liegen in der Fotografie. Man merkt das sofort an seinen durchdacht kinematografierten Landschaftspanoramen, die er mit sehr viel Mut zur Digitaltechnik erzeugt (wer es wissen will: Der Film ist mit der Sony F65 gedreht worden). Seine Filme sind aber nicht nur optische Genüsse: von Film zu Film hat sich Ceylan als talentierter Schauspielführer (in seinen ersten Filmen drehte er noch mit Laiendarstellern, Familienmitgliedern und war sogar selbst als Hauptdarsteller zu sehen) und Drehbuchautor bewiesen. Sein Durchbruchsfilm „Uzak – Weit“ kam noch stark über bildliche Symbole, in „Drei Affen“ oder „İklimler – Jahreszeiten“ schien die Bebilderung schon eher einem Drehbuch untergeordnet zu sein. In „Winterschlaf“ ist Ceylan nun womöglich am Ende seiner Entwicklung als Drehbuchautor angekommen: Seine Dialoge sind trotz überschwänglicher Ausführlichkeit präzise geschrieben, arbeiten bewusst die Charakter-Attitüden seiner Figuren heraus, sind aber trotzdem von einer Natürlichkeit, wie man sie eigentlich nur durch völlige Improvisation erreichen kann. Es ist auch die inszenatorische Framung, die einen einzigartigen Realismus im Ceylanschen Gesprächs-Kino erzeugt. Manchmal bringt Ceylan die Geduld auf, seine Figuren vor sich hin schweigen oder vor einander zu weinen zu lassen.
Komplexe Figuren
„Winterschlaf“ ist aber nicht nur Konversations-, sondern auch Figurendrama. Seine Figuren sind das Komplexeste an diesem Film. Im Zentrum steht ein greiser, ehemaliger Theaterschauspieler, der nach Anatolien gezogen ist, um zusammen mit seiner Schwester ein Hotel zu führen. Sowohl der Schauspiel- als auch der Hotelierberuf scheinen auf dem ersten Blick keine Garantie für großen Wohlstand zu sein, Aydın, so der Name des Protagonisten, ist aber wohlhabend. Er besitzt sogar mehrere Häuser in dem Dorf, in dem er zwar aufwuchs, aber lange Zeit nicht mehr lebte. Seine Frau scheint er aus Istanbul mitgebracht zu haben. Nihal ist eine etwa halb so alte, junge Frau mit Idealen, die ihren Mann vermutlich durch die Kunst kennengelernt hat. Die Dritte im Bunde ist die bereits erwähnte Schwester Necla, die sich interessanterweise wie die Ehefrau Aydıns verhält: zynisch, launisch und im Grunde auch in viel physischerem Kontakt zu Aydın als seine Frau Nihal, gegenüber der sich Aydın eher wie ein Vater verhält.
Alle drei Figuren stoßen auf das namenlose, wunderschöne anatolische Bergdorf, in dem „Winterschlaf“ seine Handlung ansiedelt. Dabei sind die weiblichen Figuren recht ähnlich in ihrer Haltung gegenüber ihrer neuen Heimat. Für beide ist die Ruhe und Ereignisarmut Anatoliens eine schwierige Herausforderung. Necla muss eine Scheidung verkraften und kanalisiert ihren Frust auf Aydın und ihr Heimatdorf, für Nihal ist das Dorf gar eine völlig neue Welt, die ihren vitalen Aktionismus zu ersticken scheint. Wie verzweifelt versucht sich ein neues Spendenprojekt auf die Beine zu stellen. Es scheint gar nicht der politische Sinn hinter dem Spendenaufruf im Mittelpunkt zu stehen. Mehr ein Entgegenwirken gegen die Lethargie, ein Wachruf an sie selbst.
Ein Fünkchen Alter Ego, ein weltoffenes Väterchen
Einzig Aydın scheint in seinem verschneitem Dorf aufzugehen. Er schreibt an kulturellen und politischen Artikeln für eine Lokalzeitung und ein Buch über die Geschichte des türkischen Theaters. Die Ruhe des neuen Habitats ermöglicht ihm die ersehnte intellektuelle Auseinandersetzung mit sich und seinem Leben. An Aydın, dem Protagonisten, zeigt sich Ceylans ambivalente Figurenzeichnung am besten. Aydın ist ein altkluger, mit sich selbst nicht nur im Reinen, sondern auch zufrieden seiender Mann. Gegenüber Nihal beansprucht er eine Art Vaterfigur zu sein, gegenüber seinen Mitmenschen ein intellektueller, gebildeter Primus inter Pares zu sein. Er ist ein Patriarch, auch wenn er religiöse Rechtfertigungen dafür als archaisch und proletarisch strikt ablehnt. Aydın ist ein klarer Vertreter eines gebildeten, kemalistischen Bürgertums. Natürlich liegt es in der Natur der Sache, dass ein bürgerlich-intellektueller Filmemacher wie Ceylan dieser Figur auch Sympathien zugesteht. Wenn Aydın von seiner (vermutlich älteren) Schwester als kitschig und prätentiös kritisiert wird, erscheint die Figur auf einmal fast hilflos und kann dem Zuschauer leidtun. Aydın kann sich zudem durchaus reflexiv einer selbstkritischen Analyse unterziehen, Nihal begegnet er zwar wie ein Vater, aber wie ein liebender und verständnisvoller. Und auch im Umgang mit den asiatischen Touristen in seinem Hotel präsentiert sich Aydın in köstlichen englischen Dialogen als weltoffenes Väterchen.
Ein magischer, zeitloser Ort
Die Rolle des anatolischen Bergdorfs breitet Ceylan vor allen als optischen Spielraum aus. Meistens spielt der Film in warm (teilweise sogar mit Kerzenlicht) beleuchteten Innenräumen des Hotels, aber wenn Aydın einen Fuß vor die Haustür setzt, domnieren kühle Weiß-Töne und die beeindruckenden Bilder, von in die Berglandschaft, in die Natur, hinein operierte Zivilisation. Es hat etwas von einem magischen, zeitlosem Ort, fernab der Welt und ihrer Gesetze, wie wir sie kennen.
Der neo-osmanische Proletarier auf verschiedene Figuren verteilt
Wie auch in anderen Filmen von Ceylan (und türkischen Autorenfilmen generell) bespielt auch „Winterschlaf“ die Spannungen zwischen neo-osmanischer Dorfbevölkerung und kemalistischem Bürgertum. In „Uzak“ erzählte Ceylan diese Konstellation sogar anhand von zwei Brüdern, in dem Film ist dieser Konflikt aber auch zentraler als in „Winterschlaf“, wo der Konflikt nur eine Episode ist, um den Protagonisten Aydın darzustellen. Dieser Ständekonflikt ist aber das spannendste Moment in „Winterschlaf“, weil es die unkontrollierbarsten und unvorhergesehensten Effekte auslöst. Die Proletarier sind zwar im Film schon deutlichere Repräsentanten ihres sozialen Kontextes als Aydın und seine Familie für das Bürgertum, sie sind aber auf drei Schultern verteilt und damit recht komplex angelegt. İsmail ist der rauhe, affektische Proletarier, für den nur ein alttestamentarliches Ehreverständnis zählt. Sein Bruder Hamdi ist Imam und somit immer an Ruhe und Ordnung interessiert. Er verhält sich gespielt freundlich und respektvoll, obwohl er Aydın und sein Bürgertum ebenso verachtet. Zuletzt gibt es noch İsmails Sohn Ilyas, der als Medium zwischen den beiden Polen agiert.
Eine freudianische Lesart
Auf dem ersten Blick recht abenteuerlich mutet Rüdiger Suchslands Lesart an, demnach man den Film freudianisch lesen kann und Necla das Über-Ich, Nihal das Es und Aydın das Ich darstellen würde. Mit Hinblick auf die animalische Leitmetapher des Pferdes, das Aydın zunächst bändigen und gefangen halten muss, um es später freizulassen (die Symbolik kann man etwas platt finden), macht diese Interpretation aber durchaus Sinn. Viel interessanter ist es jedoch, das Freud-Modell auf den Antagonisten der Proletarier zu übertragen, wonach İsmail das Es, Hamdi das Über-Ich und Ilyas das noch im Wachsen befindliche Ich präsentieren.
Ungelöste Konflikte, russische Literatur
Ceylan erzählt hier nicht so konzentriert wie Farhadi, sondern ordnet den Ständekonflikt gleichberechtigt in die verschiedenen Handlungsebenen des Films ein. Gerade in diesem Konflikt aber zeigt sich Ceylans Begeisterung für russische Literatur. Nicht nur, dass sich seine Film generell gerne wie Tschechow-Werke anfühlen, auch der Dostojewsi-Bezug wird in der Geld-Episode überdeutlich und nicht zuletzt hängt in Aydıns Wohnung eine Illustration von Dostojewskis Frühwerk-Novelle „Njetotschka Neswanowa“ (auch das internationale Cover des Films zitiert diese Illustration, siehe Bild), die unvollendet blieb. Wie auch in „Winterschlaf“ die Konflikte nie vollständig gelöst zu werden scheinen.
Letztlich bleibt trotz magischem Universalismus des Films eine obligatorische politische Lesart zwischen den Zeilen stehen. Ceylan prognostiziert hier den Aufstieg der Neo-Osmanen, wenn er die überhebliche monetäre Macht des Bürgertums am Stolz der einfachen Arbeiter abprallen lässt. Auf die Frage Nihals an den kleinen Ilyas, was er später werden möchte: „Polizist“. Die Neo-Osmanen sind die Exekutive der Zukunft. Vielleicht ist in dem Sinne auch der Name zu deuten. Die Osmanen schliefen nur. Bald werden sie erwachen.
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