Sturzrevue & Kurzreplik — Juli/August ’23
G E S E H E N :
„Scherzo“ (Takayoshi Shiokawa & Kanta Tomatsu, 2021): Japanischer Indie-Film, dem man leider negativ anmerkt, dass er ein selbstaffirmativer Pärchenurlaubsfilm der beiden Filmschaffenden ist. Mit Versatzstücken von „Memento“ und medienreflexiven Videocam-Inserts vermittelt „Scherzo“ eine Form von romantischer Poesie, die nie sehr weit weg vom Kitsch ist.
„The Happiest Man In The World“ (Teona Strugar Mitevska, 2022): Bei einem Dating-Event für Personen mittleren Alters in Sarajevo trifft eine bosnische Frau auf den Mann, der als junger Mann im Bürgerkrieg auf Seiten der Serben gekämpft und sie darin körperlich wie seelisch versehrt hat. Insofern eine interessante Prämisse, da der Mann über seine Schuld bewusst ist und sich nach Versöhnung sehnt. Leider geht von diesem spannenden Ansatz ausgehend so ziemlich alles schief, was filmisch schiefgehen kann. Mitevska geht sehr laut und ungestüm mit dem Thema kollektiver Traumatisierung und Opfer/Täter um. Die Backstorys werden unsubtil über das Publikum ergossen, das Kathartische wird im großen Gefühlsausbruch gesucht. Anfangs ist der verknappte Raum des Dating-Events noch eine schöne Metapher (gesellschaftliche Neusortierung ist ja in gewisser Weise auch ein Partner-Markt mit „Regeln und Tabus“), wirkt im Laufe seiner Spielfilmlänge dann aber zunehmend wie ein low-budget Theaterstück.
„Safe Place“ (Juraj Lerotić, 2022): Zwei Brüder, einer davon in ständiger Bedrohung eines Selbstmordversuches, dessen Ursache nie vollständig ausbuchstabiert wird. Man bemerkt die persönliche Verbindung des Regisseurs Juraj Lerotić, der auch die Hauptrolle im Film spielt, zum Thema, allerdings hat sich die Wucht einer familiären Tragödie, die hier in der Tiefe der stark komponierten Bilder und sprachlosen Gesten der Figuren schlummert, leider nie vollständig auf mich übertragen. Etwas fehlt. Das Subtile spielt sich nicht vollständig aus, tänzelt ein bisschen zu sehr herum und macht seinen eigenen Subtilitätsanspruch zu offensichtlich.
„Barbie“ (Greta Gerwig, 2023): Dass „Barbie“ der erfolgreichste Film einer Frau aller Zeiten und allgemein ein absoluter Welterfolg ist, überrascht insofern nicht, dass „Barbie“ ein regelrechtes Meisterwerk der Mehrfachadressierung ist. Gerwig holt mit ihrer poppigen Oberfläche das Mainstreampublikum, mit den Trashfaktoren und Feminismusreferenzen das Arthouse-Publikum, bedient einerseits die Mattel-Spielzeugmarke affirmativ und unterzieht sie gleichermaßen einer kulturwissenschaftlichen Kritik, ist anzüglich und kinky, aber augenzwinkernd und so subtil, dass der Film sogar noch für die „ganze Familie“ funktioniert. Nostalgien werden bedient und in moderne Diskurse gehievt. Gerwigs feministischer Ansatz ist zwar klipp und klar im Second Wave verhaftet, in jedem Fall aber klug und beachtlich überschaubar darin, sich in diskursivem Erklärbärinnenjargon zu ergehen. „Barbie“ ist ein hochintelligentes Diskursvehikel, das präzise darüber philosophiert, wie sich gesellschaftliche Ideale/Fantasien und Realitäten gegenseitig beeinflussen. Einige Momente sind von großer Virtuosität, auch wenn der Film etwas zu quietschbunt ist, um ihn sich sofort noch einmal ansehen zu wollen. Für den Spielzeughersteller Mattel ist „Barbie“ ein absoluter Glücksgriff. Nicht nur, weil hier unverhältnismäßig große Box-Office-Anteile zu erwarten sind; nein, im Grunde hat Greta Gerwig deren veraltete Marke komplett grundsaniert, weil „Barbie“ jetzt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht mehr eine merkwürdige, bestenfalls nostalgische Puppe aus der Vergangenheit ist, sondern eine Ikone, zwischen Selbstironie und Selbstbestimmung.
„Bis ans Ende der Nacht“ (Christoph Hochhäusler, 2023): Ich habe beim Schauen mehr über den deutschen Autorenfilm als über die Handlung nachgedacht. Sollten wir auf einen Film wie „Bis ans Ende der Nacht“ glücklich sein in Deutschland oder nicht? Zweifellos ist Christoph Hochhäusler ein spannender filmischer Denker und legt seine Filme in einer Form an, die das Deck etablierter filmischer Gesten neu mischen will. Jede Szene zeigt mir den Autorenwillen, gegen das allzu oft Gesehene aufzubegehren. Und trotzdem: Die Handlung an sich ist verhältnismäßig brav und uninteressant; die Dialoge wirken in ihrer literarischen Geschriebenheit nicht unbedingt so beabsichtigt, sondern oft schlichtweg holprig. Mich erinnert der Ansatz Hochhäuslers manchmal an den frühen Godard, der im Grunde auch nichts anderes machen wollte, als Vorbildern im amerikanischen Unterhaltungsfilm nachzuschaffen. Aber das hatte in „À bout de suffle“ und Konsorten damals eben eine bestimmte Energie voller Chuzpe und Spontaneität, die dessen gelegentliche Holprigkeit vergessen gemacht hat. Mir scheint aber, man kann die Nouvelle Vague nicht einfach wiederholen. Der Autorenfilm muss andere Dinge oder dieselben Dinge besser machen. So sehr ich Hochhäusler mag, vielleicht wäre ein anderer Film im Berlinale-Wettbewerb seiner statt, für die Zukunft des deutschen Autorenkinos die bessere Wahl gewesen. Zugegeben: So viele Kandidatinnen gibt es da aber leider auch nicht, die sich aufdrängen würden.
„Metronom“ (Alexandru Belc, 2022): Mit großem handwerklichen Können umgesetzter Historienfilm, der mit einem historischen Spezifikum (eine rumänische Jugend, die sich ganz der westlichen Rockmusik verschrieben hat und den verbotenen amerikanischen Sender Radio Free Europe hört) auf das historische Ganze der rumänischen Ceausescu-Gesellschaft verweist. Manchmal dramaturgisch etwas unübersichtlich, bleibt der Film vor allem durch gutes Schauspiel, stark nachempfundene psychologische Situationen und atmosphärische Momentaufnahmen in Erinnerung.
„A Higher Law“ (Octav Chelaru, 2021): Eine religiöse Lehrerin und Ehefrau eines orthodoxen Geistlichen lässt sich hier in eine erotische Liaison mit einem Schüler ein. Fragen nach sexueller Freiheit in konservativer Gesellschaft werden gestellt, ohne sie wirklich zu Ende zu denken. Das größte Problem stellen aber schlecht geschriebene Storywendungen dar, die zum Ende hin sogar abstrus werden und erzähllogisch nach unten eskalieren. Das Love-Interest des jungen Schülers ist eine schräge Fantasie eines sadistischen Psychopathen, in der die notwendige Unsicherheit eines Jugendlichen nie spürbar wird. Die Gesamthandlung bleibt eine ärgerlich motivgetriebene Lächerlichkeit.
„Time To Love“ (Metin Erksan, 1965): Ein türkischer Kultfilm und Kernwerk einer der bekanntesten Größen der türkischen Filmgeschichte, der neben den u.A. mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten „Dry Summer“ und eben „Time To Love“ nicht nur gefeierte Kunstfilme, sondern auch die grottenschlechte Exzorzist-Kopie „Satan“ zu verantworten hat. Allgemein findet sich in „Time To Love“ auch erheblich mehr Trash-Faktor als das zu erwarten gewesen ist. Die Handlung ist auf einer allegorischen Ebene interessant, auf einer Bildebene sogar sehr hübsch, auf einer rein dramatischen Ebene aber an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Die Liebe eines Mannes aus der Unterschicht für das Foto (und nur das Foto!) einer bürgerlichen Frau hat sogar in seiner theatralen Performance großes Meme-Potenzial. War Metin Erksan am Ende einfach vielleicht doch „nur“ ein großer Trash-Regisseur?
„The Adults“ (Dustin Guy Defa, 2023): Gegen betont kleine, niedliche Indie-Filme kann man gemeinhin wenig sagen. Bei „The Adults“ habe ich aber das Bedürfnis danach. Dustin Guy Defa lässt hier drei unterschiedliche Geschwister aufeinandertreiben, die einen Todesfall und gegenseitige Enttäuschungen miteinander verarbeiten müssen. Alle drei eint, dass sie eine komische Ader haben, gerne die Stimme verstellen, kleine Rollenspiele ausführen, singen und/oder tanzen. Und genau dieses Gleichzeitigkeit von Komik und Tragik, dass unter dem gemeinsamen Herumspäßeln immer auch Vorwürfe etc. liegen können, ist Dustin Guy Defas zentrales Anliegen. Zu offensichtlich ist das aber alles meistens und der Indiezuckerguss von ach-so-skurrillen Figuren und Situationen nervt dann sehr schnell. Die Figuren selbst sind nicht ausgearbeitet genug, insbesondere die ältere Schwester des von Michael Cera gespielten Protagonisten.
„Love According To Dalva“ (Emmanuelle Nicot, 2022): Wirklich harte Kost über ein Mädchen, das vom Vater missbraucht wurde und anschließend in einem Kinder- und Jugendheim, die Narrative des Vaters weiterlebt. Die junge Dalva hält sich für eine erwachsene Frau und fordert mit Selbstverständlichkeit eine vermeintliche sexuelle Selbstbestimmtheit für sich ein. Auch ein gewisses Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Haltung scheint im Kind vorzuherrschen. Psychologisch scheint mir das alles von großer Akkuratheit zu sein und schauspielerisch wirklich großes Kino der jungen Zelda Samson (aber auch allen anderen Beteiligen!) Sensationell, wie die junge Französin bereits in ihrer Körpersprache das „andere Aufwachsen“ ihrer Figur spürbar macht, ohne dass das der Film zu plakativ auserzählen würde. Das Drehbuch entblättert langsam das Geschehene, bleibt aber bis zum Ende hin um die komplex gebrochene Kindheit und die anbrechende Frauwerdung der Dalva-Figur, statt sich in große emotionale Ausbrüche oder Diabolisierungen von Männlichkeit zu verrennen. Großes Kino, das thematische Sensibilität mit handwerklicher Finesse verbindet.
„Autobiography“ (Makbul Mubarak, 2022): Ein sensationeller Geheimtipp aus Indonesien. Zwar ist der Titel ein bisschen eine leere Provokation, denn es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Film tatsächlich eine Autobiografie der Regieperson wäre, auch kommt der Film dem Wesen des Autobiografischen1 formalästhetisch nicht wirklich nach, und trotzdem! „Autobiography“ ist ein Film über die Frage: Was macht Menschen zu Machtmenschen? Wir verfolgen Rakib, einen Bediensteten des ehemaligen Militärs General Purnawinata, der jetzt versucht, als Politiker zu reüssieren und eine Wahl zu gewinnen. Der Film spürt der Machthierarchie der beiden Männer nach, die ein komplexes Verhältnis zwischen familiär-generationeller Verbundenheit, Kalkül, Klassenunterschieden, aber auch manchmal dem Anschein wahrer Zwischenmenschlichkeit bildet. Der General Purnawinata ist zwar zweifellos ein Narzisst und Verächter der einfachen Leute und trotzdem blitzt immer wieder die Einsamkeit der Spitzenposition auf. Also, gewissermaßen die Abhängigkeit die der Herr, frei nach Hegel, ja immer auch vom affirmativen Blick des Beherrschten hat. In einem brillanten, reduzierten Drehbuch werden die trügerischen, teils heuchlerischen, teils willkürlichen Machtmechanismen aufgedeckt, in einer Gesellschaft, die nur seiner reinen Rechtsform nach demokratisch ist.
„Scarlet“ (Pietro Marcello, 2023): Weiterhin ist Pietro Marcello unbedingt zu den wichtigsten Autorenfilmern der italienischen Gegenwart zu zählen. Wie schon bei „Martin Eden“ nimmt er sich auch hier einer Literaturvorlage (das russische Kindermärchen „Die Purpursegel“ von Alexander Grin) an, die er sehr frei adaptiert. Frei nicht nur im Sinne des erzählerischen Gehalts, sondern auch frei in der Beseeltheit des Filmemachens. Die Welten, die der (ehemalige?) Dokumentarfilmer schafft, sind solche, in denen das Magische und Realistische, das Historische und Märchenhafte, das Filmische und Literarische usw. in organischer Beschaffenheit koexistieren. Eine eigene nostalgine Form, die Marcello mit seiner Handschrift auf gerade einmal zwei Spielfilmen begründet.
„Majority“ (Seren Yüce, 2010): Bartu Küçükçağlayan, Frontmann der Band Büyük Ev Ablukada, spielt hier einen dicken Taugenichts und dem Selbstverstädnis des Filmes nach Abbild des Mannes in türkischer Mehrheitsgesellschaft. Dass „Majority“ ein soziologischer Film, ein Gesellschafts- und Generationsporträt sein möchte, ist ein Wagnis, das in Seren Yüces Film voll aufgeht. Tatsächlich ist „Majority“ ein schonungsloser Einblick in die Vererbungsmechanismen eines Patriarchats und gleichzeitig eine Allegorie auf die türkische Republik, verpackt in eine Art soziologischen Witz, den sich Yüce wohl von den Besten abgeschaut zu haben scheint: Nuri Bilge Ceylan, sowie dem rumänischen Kino der 2000er Jahre, an dessen gesellschaftskritischen Miserabilismus und trockenen Humor „Majority“ immer wieder erinnert. Ein kleines Meisterwerk.
„Infinity Pool“ (Brandon Cronenberg, 2023): Brandon Cronenbergs „Possessor“ war ein nahezu perfekter Genre-Film. Selten hat ein Drehbuch so brillant konventionelle Thriller-Spannung, unorthodoxe Erzählmechanik und philosophischen Meta-Gehalt in Einklang gebracht. Zwar ist auch „Infinity Pool“ erkennbar ein Brandon-Cronenberg-Film — derselbe kleine Look mit Headroom-Kadrage, dieselben Bildschnittgewitter und natürlich auf inhaltlicher Ebene die Vermählung blutiger Thrillerelemente mit gesellschaftskritischer, allegorischer Lesbarkeit — dennoch ist „Infinity Pool“ doch sehr weit entfernt von der Brillanz eines „Possessor“. Die Grundprämisse mag zunächst interessant sein: Was wäre, wenn in Zeiten von Leihmutterschaften, Haushälterinnen, Schlangenanstehern und anderen Formen moderner Leibeigenschaft, sogar der eigene Körper im Falle einer juristischen Belangung externalisierbar wäre? Als ein denkendes, fühlendes Duplikat der eigenen Person, das dann im Falle einer Todesstrafe statt einerselbst getötet wird. Die Absurdität dieses Gedankenexperiments mag man einmal zur Seite stellen, denn am Kern dessen schwelt schon etwas Wahres: Egal, wie falsch eine solche Substituierung des eigenen Körpers moralisch sein mag, die reine Möglichkeit durch Reichtum, würde zu einer Fetischisierung führen — eine Fetischisierung der eigenen Unmoral. So weit, so gut. Das Problem, das ich mit „Infinity Pool“ habe, ist, dass er seine Prämisse nur noch über das Genre einer Farce stabilisieren kann. Figurenemotionen und komplexe Psychen sind egal, wo sie bei „Possessor“ noch Teil der faszinierend genauen Erzählarchitektur waren. Es ist sowieso alles auch ein bisschen egal, weil am Ende alles ein bisschen verrückt ist. Der Film wirft jegliche Rückkopplung an einen Realismus von Bord und wir reine Manie. Darin verrät der Film aber in Wahrheit beides: Die Brillanz seiner Form und die Prägnanz seiner Allegorie.
„A Man“ (Kei Ishikawa, 2022): Im Stile Hirokazu Koreedas eine Mischung aus Kriminalthriller und progressivem Familienfilm. „A Man“ windet sich das eine oder andere Mal komplett über seine bisherige Erzählachse und wer das Glück gehabt hat, völlig naiv in den Film gegangen zu sein, wird von diesem narrativen Chamäleon mehrmals auf dem falschen Fuß erwischt werden. Problematisch ist aber — und das ist nicht untypisch für eine Literaturadaption — das die Eckpunkte der emotionalen Dramaturgie nicht sorgfältig genug nachgespürt sind. Ein tragischer Tod huscht mal eben so über die Leinwand, Gefühlsausbrüche sind immer mal wieder in zu offensichtlichen Dialogzeilen verpackt. Als Kriminalthriller funktioniert „A Man“ aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit prächtig, aber immer, wenn ich das Gefühl habe, eigentlich jetzt etwas fühlen zu wollen, fühle ich wenig, fast nichts. Das wäre Koreeda möglicherweise besser gelungen.
„The Plains“ (David Easteal, 2022): Drei Stunden lang sehen wir immer wieder in Echtzeiteinstellungen denselben 60-jährigen White Collar Andrew Rakowski von seiner Arbeit in Melbourne nach Hause fahren. Manchmal nimmt er seinen jüngeren Arbeitskollegen David mit, „gespielt“ vom Regisseur des Films David Easteal. Natürlich ist „The Plains“ als Filmprojekt eine radikale Geste, zu der sich verschiedene Zugänge legen lassen. Wie viel erfahren wir von einem Menschen, den wir immer wieder auf dem Heimweg begleiten? Wie viel erzählt er uns? Und wie viel erfahren wir über ihn, dass er es uns erzählt? Wir lernen Andrew als einen im Leben stehenden, zufriedenen Mann kennen, der mehrfach die Alzheimererkrankung in seiner Familie erleben musste, vor allem bei seiner 95-jährigen deutschen Mutter, die im Heim lebt und im Sterben liegt. Irgendwo ist „The Plains“ vielleicht sogar ein Film über Alzheimer, denn es sind ja gerade die immer wiederkehrenden Zeitstrukturen, in der die Zeit zerrinnt (ohne großartige Marker, wie viel Zeit denn nun gegenüber der letzten Einstellung vergangen ist) und am Ende wartet nicht einmal ein Kind auf Andrew, das sich seiner Krankheit annehmen wird, denn er hat entschieden, kinderlos zu leben. Ein Leben als Autofahrt. Man könnte in Anlehnung an diesen Film eine narrative Strategie, wie sie Kunstfilme wie dieser hier verfolgen, als eine „plain dramaturgy“ bezeichnen und doch ist es gerade die entscheidende Schwäche des Films, das Easteal dieses Vorhaben hier und wieder verwässert, indem er Drohnenaufnahmen vom Landgut der Rakowskis zeigt und auf einmal doch wichtig ist, wie Herr Rakowski überhaupt aussieht, ehe zuvor seine Augen so schön geheimnisvoll im Autospiegel aufschienen.
„Oppenheimer“ (Christopher Nolan, 2023): 180 Minuten — und jede Sekunde davon so inszeniert, dass man daraus zur Not einen Trailer schneiden könnte. Das war jetzt aber kein Kompliment. Denn gegen die Dialoge, die scheinbar schon für Movie-Quote-Seiten geschrieben worden, der dramatische, tief-sonore Stimmeinsatz so gut wie aller Schauspieler, der immer schon den nahenden Schnitt mitzuwissen scheint und all das, was eh schon immer typisch Nolan war, hier aber nochmal einen Höhepunkt/Tiefpunkt erreicht, habe ich seit jeher eine mittelstarke Allergie. Allgemein scheint es mir, als würde Nolan ein bisschen zu viel Langeweile vor seiner eigenen Romanvorlage zu verspüren, weswegen er das immerzu mit einem effekthascherischen Sounddesign und dramatischen Hin- und Her der Storybögen kaschieren muss. Allgemein bin ich mir nicht sicher, ob Nolan hier wusste, was sein erzählerisches Zentrum ist. Viel steckt ja drin: Oppenheimer als historische Figur zwischen amerikanischem Patriot und Kommunismus-Sympathisanten. Die menschliche Technologiegeschichte, die sich in diesem Fall tatsächlich vorwärts verstehen lässt, aber erst rückwärts bereuen lässt. Die Frage nach der Ethik einer Idee, die ohnehin in die Welt käme, einer geschichtlichen Notwendigkeit folgt und die trotzdem aus der Geschichte verbannt gehört usw. Letztendlich jagt „Oppenheimer“ unruhig durch verschiedene Erzählzentren hindurch, hat immer auch mal wieder schlechte, kitschige Szenen im Köcher und nimmt sich ganz ganz selten mal Zeit, einer Situation präzise auf den Grund zu gehen oder ein Gedankenexperiment substanziell zu begleiten. 180 Minuten lang ziemlich heiße Luft. Vielleicht 170, denn in der Sequenz, in der tatsächlich Trinity, der erste Kernwaffentest der Geschichte, gezeigt wird, nimmt sich Nolan dann doch mal ein bisschen Zeit, zählt sogar die Sekunden herunter und erzeugt ironischerweise tatsächlich dort Spannung, wo wir das Ergebnis schon kennen. Ein kluger Dramaturg hätte die gesamte Adaption um diesen einen Moment herumorganisiert.
G E L E S E N
„Der junge Mann“ (Annie Ernaux, 2022): Auch eine Heldin wie Annie Ernaux ist nicht von den Mechanismen des Buchmarktes befreit, denen nach eine frische gebackene Nobelpreisträgerin natürlich irgendetwas releasen muss, um damit schnell einen Reibach zu machen. Die kurze Geschichte über eine Affäre mit einem jungen Studentin, die Ernaux als Professorin jenseits der Wechseljahre hatte, ist natürlich gelungene Literatur und ein neugierig-schlüpfriger Selbsteinblick in ihre Biografie. Jedoch: Mit 50 extrem groß geschriebenen Seiten (es hätten technisch gesehen sicher auch 10 gereicht), ist die Erzählung als Buch sehr nah an einer Mogelpackung. Eine Geschichte, die vielleicht eher gelebt als gedruckt werden musste.
„Kokain“ (Walter Rheiner, 1918): Gehört zu meiner persönlichen Kreuzlektüre mit „Kokain“ von Pitigrilli und „Roman mit Kokain“ von M. Agejew. Der jung verstorbene Rheiner (1895-1925) versammelt hier Lyrik und Prosa, die lose inhaltlich miteinander verbunden, um die Suchterlebnisse eines Tobias aus Berlin der 1910er-Jahre schwebt. Bildhaft, expressionistisch, aber im Schreibstil auch hin und wieder mit den „Krankheiten“ eines jungen Autoren behaftet. Zu oft wirkt das Erzählte stilistisch etwas überfrachtet, im Lyrischen wiederholen sich Bilder, die bereits einmal geschrieben nicht beeindrucken. Als Zeitbild über Kokainkonsum und Metropolleben an der Jahrhundertnaht eine Empfehlung wert. Meisterhaft indes nicht. Dafür hätten es vielleicht ein paar Lebensjahre mehr gebraucht (mit oder ohne Kokain).
Hinweis zu den Bildrechten: © unterliegt ihren jeweiligen Besitzern, Benutzung bezieht sich auf das Zitatrecht
- vgl. Roland Barthes‘ interessante Ausführungen über die Biografie in „Die Vorbereitung des Romans“, S. 319ff [↩]
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