Zwei Protagonisten in gespaltenem filmischen Subjekt.
Originaltitel: Possessor
Produktionsland: USA, Großbritannien, Kanada
Veröffentlichungsjahr: 2020
Regie: Brandon Cronenberg
Drehbuch: Brandon Cronenberg
Bildgestaltung: Karim Hussain
Produktion: Fraser Ash, Niv Fichman, Kevin Krikst, Andrew Starke
Montage: Matthew Hannam
Darsteller: Andrea Riseborough, Christopher Abbott, Rossif Sutherland, Tuppence Middleton, Sean Bean, Jennifer Jason Leigh, Kaniehtiio Horn, Raoul Bhaneja, Gage Graham-Arbuthnot, Gabrielle Graham
Laufzeit: 104 Minuten
Tasya Vos (Andrea Riseborough) ist eine Agentin der besonderen Art: Die Geheimorganisation, für die sie arbeitet, nutzt Gehirn-Implantate, um mit ihrem Bewusstsein die Körper anderer Personen zu übernehmen. Mit der neuen Identität begeht die Assassine anschließend Morde, die den reichen Kunden des Unternehmens zugute kommen. Die Folgen für die Tötungen hat im Anschluss aber nicht sie, sondern der besessene „Täter“ zu tragen, der aber nach einem erfolgreichen Hit durch einen „Selbstmord“ entsorgt wird.
Tasya hat eine besondere Begabung für ihren Job, doch ihre blutige Arbeit ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Die mentale Belastung ist groß, wenn sie gewaltsame Erinnerungen unterdrücken muss, ohne die Kontrolle zu verlieren.
Für ihren neusten Auftrag soll Tasya sich das Leben und den Körper von Colin Tate (Christopher Abbott) aneignen, der mit Ava (Tuppence Middleton), der Tochter des mächtigen Firmenchefs John Parse (Sean Bean), verlobt ist. Über die Familienverbindung sollte es leicht sein, an ihr Ziel heranzukommen, doch schon bald findet sie sich gefangen im Kopf eines Mannes wieder, der droht, ihre eigene Identität zu zerstören.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Traditionell eignet sich der Horrorfilm gut, um eine intellektuelle Problemstellung durchzuspielen, indem durch Übertreibung und -höhung außerhalb realistischer Rechtfertigungszwänge ein Thema plastisch und geradezu körperlich erlebbar durchexerziert werden kann. Bandon Cronenbergs bringt mit „Possessor“ das Thema Mindcontrol auf den Tisch eines massenpublikumwirksamen Horrorfilms. Wenn die Protagonistin in „Possessor“ Tasya Vos als Auftragsmörderin einer Halbweltsorganisation, dank einer speziellen telekinetischen Technologie in fremde Körper eindringen und somit etwa Morde und andere Verbrechen begeht, kann jede Zuschauerin für sich selbst entscheiden, inwiefern das ein abstraktes Gedankenspiel oder schon konkrete Allegorie auf moderne Machttechniken darstellt. In jedem Fall gehört das motivisch und ästhetisch reiche Horror-Vehikel „Possessor“ zu den beeindruckendsten Filmen des Kinojahres.
Ein wissenschaftlicherer Nolan
Vieles am Film des Cronenberg-Sprösslings Brandon ist bemerkenswert. Am Rande sei die handwerkliche Makellosigkeit bemerkt, die mir zudem auch ästhetisch eigenständig und mir am ehesten vielleicht noch mit einer Mischung aus Nicolas Winding-Refn und dem jungen Christopher Nolan vergleichbar scheint. Vom späten Nolan unterscheidet er sich aber insofern, dass er den Zugang zu seinem „Forschungsobjekt“ (Telekinesis), kühl und sachlich einführt, den Zuschauerinnen weder empathischen Anker, noch verständliches Textbuch zur Hand gibt, obwohl man dies ebensogut in einer unbeschwert-naiven Vereinfachung der Fiktion zeigen könnte, wie sie keiner Wissenschaft schuldig wäre. Aber Cronenberg organisiert seine Spielregeln so, als seien sie das; behandelt wissenschaftliche Risiken der Telekinesis und verhält sich auch empathisch der eigenen Hauptfigur so neutral bis sachlich gegenüber, als wäre „Possessor“ ein politisches Drama über einen Soldaten mit PTSD. Vielleicht ist er das sogar irgendwo, seine allegorische Lesbarkeit scheint unbegrenzt. „Possessor“ kann u.A. als Film über das Wesen des Schauspiels, als offenes Nachdenken über die Essenz menschlichen Bewusstseins, sowie als Fragestellung von Subjektkonstitution in Zeiten transhumanistischer Körpermodifikationstechnologie und ideologischer Intoxikation gelesen werden. Als Intertext bleibt dieses kompromisslos-kühle Werk sicher noch lange aktuell.
Im Gegensatz zu einem Christopher Nolan beherrscht Brandon Cronenberg die Kunst, uns nicht wie Seminarteilnehmerinnen erscheinen zu lassen, die erstmal in die hochkomplexe Forschungsmasse des Films eingeführt werden müssen. Stattdessen sind wir unmittelbar mit der Handlung konfrontiert. Dennoch lassen sich schnell und übersichtlich die Prämissen von „Possessor“ ableiten, welches Bild des menschlichen Bewusstseins hier vertreten wird. Da es im Film möglich ist, Körper zu kidnappen, dessen Bewusstsein auszuschalten und durch ein telekinetisches fremdes Bewusstsein zu ersetzen, bleiben die Eigenschaften des gekidnappten Körpers äußerliche. Der Eindringling, also der Possessor, hat keinerlei Zugriffe auf Erinnerungen des Possessums, weswegen er sogar einfache soziale Akte wie die Morgenroutine mit dem eigenen Girlfriend imitieren muss, um nicht aufzufallen.Hier liegt also das schon häufiger in der Filmgeschichte anvisierte Spiel mit vertauschten Rollen zugrunde und bleibt nicht ganz ohne Komik.
Ich-Konzeption und notwendige dramaturgische Orientierungslosigkeit (Spoiler)
Einen weiteren Boden gewinnt die Ich-Konzeption dann aber damit, dass die Simulation des fremden Ichs auch auf das eigene rückfärbt. Sowohl die professionelle „Rollen-Vorbereitung“ (die sich im Grunde nicht von der Arbeit eines Schauspielers unterscheidet), als auch der telekinetische Apparatus erzeugen Erinnerungsschwund und eine potenzielle Vermischung mit dem Fremd-Ich, deren genaue medizinische Überwachung der Film seriös mitbedenkt. Zudem bleibt auch die im fremden Körper erlebte Erfahrung im eigenen Bewusstsein manifest: in diesem Fall Gewalt als eine erotische Fantasie. Gegenüber dem eigenen, ahnungslosen und etwas treudoofen Ehemann kommen Tas plötzlich unerwartet brutale Mordfantasien — und das just in dem Augenblick, wenn sie miteinander schlafen. Nicht als erster Film koppelt „Possessor“ körperliches Begehren und Blutrausch als zwei Seiten einer animalischen Trieb-Medaille, die einmal ausgelebt, nach Wiederholung strebt.
Es lohnt sich, diesen Film in seiner dramatischen Zusammensetzung genauer anzusehen. Die ersten 30 Minuten funktionieren als eine klassische Exposition, die zunächst ein effektheischendes Intro (erster Mord), dann die intellektuelle Konzeption des Forschungsgegenstandes (siehe: oben), die Etablierung aller wesentlichen Figuren und schließlich die Vorstellung des zweiten Opfers, Colin Tate, bereitstellt. Soweit, so klassisch. Auf einmal sind wir aber als Zuschauer in Colin Tate und in seiner Welt und hatten zuvor nur ein rudimentäres Briefing in sein Leben bekommen. Hier schaltet der Film also dramatisch den Wissensstand der Auftragsmörderin Tas und dem Opfer Colin Tate zusammen. Dadurch macht „Possessor“ seine eigene Orientierungslosigkeit zum Programm. Ein anderer Film hätte womöglich Colin Tate schon vorher alibihaft eingeführt, in „Possessor“ taucht er und sein gesamter zwischenmenschlicher Kosmos (!) sehr abrupt auf und simuliert somit kongenial die Lage der Protagonistin, nämlich eines überforderten Possessors, die sich im neuen Körper erst einmal orientieren muss. Aber damit nicht genug: So sehr Colin Tate zunächst ein weiterer Mordauftrag, ein weiterer übernommener Körper bleibt, verschwimmt langsam die Unterscheidbarkeit des Possessors Tas und des Possessums Colin Tate. Ein Störfall — dessen Ursprung unklar, ob technologisch, psychologisch oder schlichtweg fatalistisch — macht es für Tas unmöglich, aus dem Körper Colin Tates wieder auszubrechen. Der zunächst austauschbar, etwas seelenlos erscheinende Barbie-Puppenmann Colin Tate wird zunehmend ein zweiter Protagonist (!), der selbst sein Recht einfordert primäres filmisches Subjekt sein zu wollen. Spätestens als das „Original-Bewusstsein“ Colin Tates zurück in den Körper drängt und sich in seinem eigenen Bewusstsein mit Tas duelliert, wird der Film zur grandios komplexen Psycho-Arena, bei der es herausfordernd schwierig bleibt, die Übersicht zu behalten, was eigentlich gerade in der Wirklichkeit passiert. Wo andere Genre-Filmemacher dieses introspektive Chaos aber womöglich für substanzloses Vexier-Geschwurbel genutzt hätten, bleibt Cronenberg immer messerscharf. Wer nur genau mitdenkt, versteht ganz genau, was in der außer-psychischen Wirklichkeit gerade wirklich passiert. Cronenberg bewahrt sich dafür eine besonders gnadenlose Schlusspointe auf, neben der Nolans Inception-Kreisel ein Kindergeburtstag ist.
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