Nicht einfach nur ein Trip.
Originaltitel: Enter The Void
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2009
Regie: Gaspar Noé
Drehbuch: Gaspar Noé
Produktion: Brahim Chioua, Vincent Maraval, Olivier Delbosc, Marc Missonnier
Kamera: Benoît Debie
Montage: Gaspar Noé, Marc Boucrot, Jérôme Pesnel
Musik: Thomas Bangalter
Darsteller: Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Emily Alyn Lind, Jesse Kuhn, Olly Alexander, Masato Tanno, Ed Spear, Sara Stockbridge
Laufzeit: 162 Minuten
[…] Oscar verbindet eine besonders intensive Beziehung mit seiner Schwester Linda, seitdem sie als Kinder miterleben mussten, wie ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Gemeinsam schlagen sie sich durch die Halbwelt von Tokio. Er hält sich mit kleinen Drogendeals über Wasser, sie tritt als Stripperin auf und lässt sich mit zweifelhaften Typen ein. Bei einer Razzia gerät Oscar ins Visier der Polizei. Bei der Flucht wird er niedergeschossen. […]
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 27.08.2011)
Bei Noès misanthropischen Filmen von persönlichen oder gar biografischen Filmen zu sprechen, ist immer sehr gewagt. „Enter the Void“ ist allerdings schon als Zugeständnis zu Noès Jugend verstehbar, der in jungen Jahren mit Drogen experimentierte und sich unter Rausch seiner Liebe, den Filmen hingab. Zu dieser Zeit sinnierte der Regisseur auch über Leben und Tod und die Existenz einer möglichen Nachwelt, studierte dazu Raymond Moodys „Life After Death“. Dieser Film ist nun ein visionärer Versuch Noés Erfahrungen in Filmform zu pressen, ein Versuch Drogenerfahrungen durch FilmKunst erfahrbar zu machen und gleichzeitig existenzphilosophische Gedanken zu visualisieren. Der Film ist ein Trip – Aber, und da widerspreche ich der DVD, noch sehr viel mehr …
Tokio, Stadt der Heimatlosen
Zunächst ist „Enter the Void“ bereits aus handwerklicher Sicht ein Meilenstein, schon aus dieser Hinsicht ein mehr als außergewöhnlicher Film und darüberhinaus noch ein nicht für möglich gehaltenes Toppen, der Kameraleistung aus „Irreversibel„. Wie auch in seinem 2002-Meisterwerk, stellen die bloßen Bilder, Farben und Kamerafahrten die Paraphrase zu den improvisierten Wortfetzen seiner Figuren dar. „Enter the Void“ ist nicht zu lang, sondern zeitlos. Wer sich wirklich auf den Film einlässt vergisst Raum- und Zeitgefühl. Farbrausch, Kamerafahrten, Synthetische Hallozinogeneffekte alles verwischt zu einem einzigartigen Flow, der so in der Filmgeschichte unerreicht ist. Tokio als Handlungsort ist ein genialer Hutzauber Noés — Zu sagen, „Enter the Void“ funktioniere in jeder anderen Großstadt ist schlichtweg falsch. Sie ist nicht nur eine der buntesten und lichterfrohsten Metropolen der Welt, sie ist auch eine Stadt der Heimatlosen (Europäer), nur in der Stadt um sich dem Rausch der Stadt hinzugeben, weil sie keinen Halt haben.
Kein Inzest
— Genau wie Oscar und Linda keinen Halt haben. Sie treiben umher, haben nur obskure Gestalten als Freunde und sind psychisch noch die Kinder, die sie in den Rückblenden sind. Kinder, die durch den Verlust der Eltern in die Leere getrieben worden sind. Es ist übrigens kein inzestuöses Verhältnis, was beide pflegen – Das beteuert Noè persönlich. Es sind trotzdem Menschen, die in einem infantilen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, welches durch Kontakt mit fremden Personen immer wieder in Hass umschlägt, jedoch kein sexueller Eifersuchtshass, eher einer aus Verlustangst resultierender. Aber „Enter the Void“ ist keine psychoanalytische Studie seiner Figuren. Die Wortfetzen aus dem Munde dieser sind gewollt symbolisch gesprochen, dienen als gewollte Interpretationsansätze und werden vom „Flow“ des Films immer wieder aufgegriffen. Das macht „Enter the Void“ zu einem unfassbar ambivalenten Filmerlebnis. Nicht nur ein Trip, sondern auch Reflexion über Leben und Tod und vielleicht über noch mehr?
Interpretation des Films (SPOILER)
Oscar erhält von Alex das tibetanische Totenbuch. Das ist eine der Schlüsselszenen des Films. Ich habe mir die Mühe gemacht, die komplette Szene herauszuschreiben, dass ich sie nicht bei google zitiert gefunden habe, verstärkt mein Eindruck, dass ich mit diesem Interpretationsansatz tatsächlich ziemlich alleine darstehe.
Alex: Lies lieber das Totenbuch zuende – Das wär echt besser. Oder wart‘ ab bis du stirbst, das ist der allergrößte Trip überhaupt.
Oscar: Ich finde das Buch immernoch verwirrend. Hast du das alles verstanden?
Alex: Es ist ein bisschen schwer zu erklären. Also im Prinzip – Also, wenn du stirbst, verlässt dein Geist deinen Körper, und dann, kannst du erst dein ganzes Leben sehen, so ’ne Art magischer Spiegel und dann fängst du an zu schweben wie ein Geist, und du kannst alles sehen was um dich herum vorgeht, du kannst alles hören, aber du kannst nicht mit der Welt reden und kommunizieren und dann siehst du dieser Lichter, lauter verschiedene Lichter, in allen möglichen Farben. Diese Lichter sind die Tür, die dich in eine höhere Daseinsebene ziehen. Aber die meisten Menschen, also die mögen diese Welt so sehr, dass sie gar nicht weg wollen. Und dann wird das ganze ein Horrortrip. Der einzige Ausweg ist wiedergeboren zu werden. Klingt das irgendwie sinnvoll?
Oscar: Ja, ich glaub schon … Ich weiß nicht, was ist jetzt der Horrortrip daran?
Alex: Naja, der Horrortrip ist: Du kriegst lauter Alpträume, drehst total ab. Alles wovor du Angst hast, wird real. Und du kriegst total die Scheißangst, weil was von dir übrig ist, muss ja die Kontrolle über dich haben oder so. An dem Punkt wünscht du dir dann, du wärst nie gestorben …
Und dann erscheinen so dunklere gelbe Lichter, diese Lichter stehen für alle Paare, die gerade Liebe machen, und dann kommt das Licht aus ihren Bäuchen und wenn du näher rankommst, kriegst du eine Vision deines nächsten möglichen Lebens. Und du suchst dir das Leben aus, das dir am besten passt. Verstehst du? Du landest in einem Bauch und du wirst wiedergeboren. Ende der Geschichte. Und das machst du im Prinzip für alle Ewigkeit bis du aus dem Teufelskreis ausbrechen kannst. Kannst du mir folgen?
Was ein Drogenjunkiegespräch auf dem Weg in den nächsten Nachtklub darstellt, ist gleichzeitig das Silbertablette zur Interpretation des Filmes. Was der Zuschauer nach Ableben Oscars erlebt und bestaunt, ist nichts anderes als ein ständiger Rückbezug auf diesen Dialog. Oscars Geist schwebt durch die Welt, sieht alles, aber kann nicht damit interagieren sieht sein Leben in der Rückblende sieht die Lichter und wird am Ende des Filmes auch wiedergeboren. Was man durchaus als ausnahmsweise optimistische Intention des Films feststellen könnte, wenn der Film nicht „Enter the Void“ hieße. Das Leben ist die Leere. Oscar stirbt und wird wiedergeboren, ist einem Kreislauf der Leere gefangen, der im Oscar-Alex-Dialog passend als „Teufelskreis“ tituliert wird – Der Rückblick aufs Leben und die irdische Ängste (z.B. der Umgang von Lindas Freund mit Linda) gar als Horrortrip. Auch die Lichter sind nicht nur Stilmittel des Films, sondern wer aufpasst, entdeckt auch, dass die Kamera immer wieder eine Fahrt mitten in einem Licht beendet – Ein weiterer Verweis auf den Dialog zwischen Alex und Oscar.
Das Paradoxe ist, dass Oscar das Totenbuch weder verstanden noch zu Ende gelesen hat, er bekommt die Interpretation des Buches nur wirr von einem Junkiefreund aufgetischt, der selbst das Buch nicht verstanden haben muss. Eleganter kann man sich nicht einer Wahrheitsgehaltdiskussion um tibetanische Lehren entziehen. Grazie Gaspar Noé.
„Enter the Void“ Inhaltslosigkeit vorzuwerfen, kommt einem Nicht-Verstehen des Films gleich. Deutlichere Verweise auf Interpretationsmöglichkeiten als in den wenigen Dialogen, die der Film zu bieten hat, bekommt man selten geboten. Dazu unterstützt der Film auch handwerklich (mit bereits erwähnter, zeitloser Brillanz) diese Ansätze. Der Film ist inhaltlich stark, handwerklich eine Meisterleistung und als waschechter Drogentripsimulator eine unvergessliche Filmerfahrung. Man kann nicht nur, man muss bei diesem Film vom zweiten großen Meisterwerk Noès nach „Irreversibel“ sprechen.
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