Krieg als Ton-Collage.
Originaltitel: Malchik Russkiy (Мальчик русский)
Produktionsland: Russland
Veröffentlichungsjahr: 2019
Regie: Alexandr Zolotukhin
Drehbuch: Alexandr Zolotukhin
Produktion: Eduard Pichugin, Andrey Lebedev
Kamera: Ayrat Yamilov
Montage: Tatyana Kuzmicheva
Darsteller: Andrey Pavlyutin, Sergey Dvoynikov, Danil Tyabin, Dmitry Belov, Igor Shlykov
Laufzeit: 72 Minuten
Quelle: letterbox.com
In a First World War trench, a uniformed Russian boy with freckles loses his sight during a German gas attack. Due to his keen sense of hearing, he is kept at the front and deployed to listen out for enemy planes at the giant metal pipes that form a kind of early-warning system.
Replik:
Der Krieg hat viele Gesichter. Im Film davon repräsentiert werden meistens seine Fratzen, also seine besonders lauten, brutalen und zerstörerischen Ausdrücke. „A Russian Youth“, der auf der Berlinale in der Forum-Sektion lief, opponiert mit dieser Vorstellung von dem was (Anti-)Kriegsfilme sind oder sein sollten. Es ist ein (manchmal zu) betonter Film der Sinne, vor allem des Gehörsinns, aber auch des Tastsinns, so wie des Sinns für Humor. Der Schrecken des Krieges verliert hier nicht seine Wirkung, sondern transformiert sich in und innerhalb einer verschobenen Perspektive. Denn unser Protagonist, ein etwa sechzehnjähriger Dorfjunge, verliert schon in der ersten Schlacht sein Augenlicht. Es ist immer eine spannende ästhetische Frage, wie ein Film mit Blindheit umgehen soll. Ganz besonders, wenn es eine Blindheit im Krieg ist. „A Russian Youth“ bietet uns hierzu eine unorthodoxe audiovisuelle Ebene. Das ausgewaschene Bild ist mit seinen Anleihen an alte Farbfotografien bereits deutlich einem realistischen Medium enthoben, dazu gesellt sich eine ausgefeilte Ton-Montage, die sich vollständig nachsynchronisiert aus Sprachfetzen der Soldaten, Kriegsgeräuschen (hauptsächlich das Summen nahender Flieger), aber auch eines parallel-montierter Rachmaninov-Orchesters und deren Dirigent-Anweisungen zusammensetzt.
Audiovisualisierung von Blindheit
Während die Ton-Montage fein austariert ist und jede Menge Entdeckungsspielraum bietet, funktioniert der Bildschnitt zwischen stilisierten Kriegsbildern und (schlichtweg hässlich-kontrastreich fotografierten und unvorteilhaft kadrierten) Orchester-Bildern weniger gut. Zumal der Zusammenhang zwischen Krieg und Rachmaninov ein behaupteter bleibt. Die Erwartung, der kleine Junge im Krieg könne womöglich die Jugendgeschichte eines alten Rachmaninov-Dirigenten sein, der im Krieg sein Augenlicht verlor und in der „Sinn-fonik“ des Kriegstreibens sein Gehörsinn schärfte? — Dieser Verdacht drängt sich über den gesamten Film auf, zumal schon in den ersten Minuten durch ein Akkordeon geforeshadowt, tatsächlich löst sich dieses Versprechen aber nicht ein und die Gegenüberstellung reduziert sich stattdessen lediglich auf Zolotukhins im Q&A geäußerte Auffassung, sowohl der Erste Weltkrieg als auch die Musik Rachmaninovs seien historische Ereignisse, vor denen die Welt nichts Vergleichbares kannte. Das kann man aber eben auch über eine Vielzahl anderer künstlerischer wie technologischer Zäsuren des eingehenden 20. Jahrhunderts sagen und rechtfertigt nicht ausreichend diesen Form-Inhalt-Gedanken, der damit wieder in Verdacht gerät, dass seine Pauken und Trompeten in der Untermalung von Schlachtmusik doch mehr mit Christopher Nolan zu tun haben könnten, als Zolotukhin das selbst wohl für sich beansprucht.
Aber an „A Russian Youth“ gefällt durchaus auch eine andere Ebene des „Krieg-Erlebens“. Es ist die, dass der Film dann großartig ist, wenn er das Kleine im Krieg sucht. Das Essen mit den Offizieren, das Mannschaftsfoto-Schießen, das Schlafen im Heu, das Herumtollen mit älteren Soldaten als seien es ältere Brüder, das Tragen der Munitionskisten, das Justieren der Gerätschaft. In diesen Momenten — die nebenbei mit einem ganz feinen Gefühl für Situationskomik inszeniert sind — bekommt der Film auch eine haptische Ebene. Obwohl audiovisuell alles am Film völlig außerhalb realistischer Filmgrammatik stattfindet, ist gerade dieser Fokus auf das Unscheinbare, aber immer noch zum Krieg-dazugehörende (!) viel erfolgreicher darin, einen Eindruck zu vermitteln, wie es ist blind durch einen Krieg zu stolpern. Oder auch einfach nur schlicht und ergreifend Soldat zu sein.
68%
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