2019, das letzte Jahr einer Dekade der Umverteilungskämpfe zwischen Mann und Frau, Kino und VoD, dem vermeintlichen Gestern und dem vermeintlichen Morgen, ist vorbeigegangen. Es war kein besonders herausragendes Jahr für den Film. Es haben sich wenig große neue Regie-Stimmen bemerkbar gemacht. Als neue filmhistorische Entwicklung kann man vielleicht höchstens noch den südkoreanischen Genre-Film nennen, der sich mit der völlig verdienten Goldenen Palme in Cannes endlich seine kanonische Krone geholt hat.
Das bestkuratierteste Festival fand dieses Jahr jedoch am Lido von Venedig statt. Trotz oder (dieses Jahr) gerade weil, der Wettbewerb mal wieder einen schweren Fokus auf angelsächsische Produktionen hatte. Es war ein fantastisches Jahr für englischsprachige Filme und mit „Joker“ hat man dort den Hauptpreis ein Film gegeben, der zwar von zweifelhafter Qualität ist, aber irgendwie ist eben auch einfach alles zweifelhaft an diesem Film. Und das macht diese Entscheidung zu einem Ausrufezeichen, einem Politikum und einer Kontroverse zwischen Produktion und Publikum. Während man in Berlin einen auf fast schon perverse, feuilletonlobbyistische Weise autorenfilmartigen Autorenfilm ausgezeichnet hat — „Synonymes“, der nur mit Bezug auf seinen Regisseur funktioniert — ist „Joker“ ein Monstrosität. Und wäre eigentlich eine Gelegenheit gewesen vom Superheldenkonsumkinogänger bis zum cinehipsterigen Soziologiestudenten jeden Zuschauer zu einer Diskussion einzuladen, die mit neunmalklugen Verweisen auf seine Scorsese-Anleihen noch längst nicht ausgeschöpft gewesen wäre. Dass es diese ganzgesellschaftliche Debatte nicht gegeben hat, sagt viel über unsere Gesellschaft aus.
Apropos Scorsese. Der hatte dieses Jahr einen Kleinkrieg mit Marvel angefangen, weil Marvel ihm nach kein Kino sei. Stattdessen kooperierte der Altmeister mit Netflix, das wiederum für die Oscars und Cannes nicht zum Kino dazugehört. Tatsächlich ist die Frage, wer oder was eigentlich Kino ist in Zeiten der Erosion des Kinos als Ort, eine relevante und unerschöpfliche. Dabei ist die Antwort zumindest bezogen auf Netfflix ganz einfach: Solang Netflix Filme wie „The Irishman“ produziert und ihnen auch die Gelegenheit bietet, diese vorab im Kino zu sehen, solange muss man Netflix für ihre Verdienste am Kino würdigen. Denn mit „The Irishman“ zeichne ich auf diesem Blog schon das zweite Jahr in Folge eine Netflix-Produktion als beste des Jahres aus — dabei habe ich nicht einmal einen Netflix-Account. Solang Prestigeprojekte wie „Irishman“ und „Roma“ nur als Oscar-Vehikel und Arthouse-Feigenblatt fungieren, muss die Debatte über Netflix‘ zerstörerische Rolle in dieser Kunst weitergehen, sollte sich Netflix aber darüberhinaus mit einer glaubwürdigen Dauerhaftigkeit als Mäzen großer Auteur-Filme etablieren, müssen wir dieses vermeintlich trojanische Pferd, das dort wiehend vor den Toren von Cannes steht, mit wehenden weißen Fahnen hineinwinken.
Eine Auffälligkeit von 2019 war zudem die Dominanz von Genre-Filmen. Genre-Filme sind mit ihrem Bedachtsein auf schematische(re) Dramaturgien selten ästhetische Neuerfindungen des Rades oder ideale Träger relevanter Themen. Dieses Jahr war das anders. Das hängt viel damit zusammen, dass einige kommende Auteurs dem Genre-Kino verhaftet sind und mit ihrer Neuinterpretation tradierter Formen unserer Gegenwart gerechter werden als so mancher Auteur des kargen Realismus. Bong Jon-Hoo ist so ein Fall: In einem klassischen Sozialdrama hätte man wohl keineswegs so effektiv-allegorisch den Neoliberalismus kritisieren können wie in dieser meisterhaft symbolischen Überzeichnung. Aber auch ein Jordan Peele, Robert Eggers oder (und vor allem) Ari Aster, die sich anschicken das Horrorkino neu zu erfinden. Auf ästhetischer Ebene, durch starke Anleihen des Epischen und Lyrischen wie im Falle von Eggers und Aster oder inhaltlich mit einer besonderen Affinitität zur allegorischen Lesbarkeit der Körperverhältnisse einer Gesellschaft, wie bei Peele.
Noch einmal zurück zu Scorsese: Der hat in diesem Jahr seinen eigens gegründeten Genre-Film des romanhaften Gangsterfilms genommen und ihn dank Netflix-Budget weiter romanhaft zerdehnt. Einigen war das zu langweilig, aber von denen hat den Film vermutlich auch niemand im Kino gesehen. Für jene, die die Gelegenheit hatten, in dem Film zu versinken, erweist sich diese Strategie als letzte Konsequenz zur Übertreffung einer eigenen Form, statt nur ihrer ewigen Wiederaufnahme. Da passt es auch, dass ich dieses Jahr mit S. Craig Zahler einen weiteren Regisseur entdeckt habe, der mit „Dragged Across Concrete“ etwas ganz ähnliches voranbringt. Die epischen Inseln des In-einem-Auto-wartens erzeugen hier „Haptik“ und damit Spannung. Auch das ist ein Genre-Filmemacher. Und auch das ist eines der vielversprechendsten neuen Stimmen im Filmdiskurs.
10-29% Zustimmung 139. „Ready Player One“ (Steven Spielberg, 2018) 138. „Inferno By Dante“ (Boris Acosta, 2018) 137. „Erik & Erika“ (Reinhold Bilgeri, 2018) 136. „Recreational Activities“ (Pawel Wendorff, 2018) 135. „Flawless“ (Sharon Maymon & Tal Granit, 2018) 134. „Bohemian Rhapsody“ (Bryan Singer, 2018) 133. „Three Little Dreams“ (Chapour Haghigat, 2018) 132. „Douche“ (Erik Kammerland, 2018) 131 „Actors Of God“ (Arsalan Baraheni, 2018) 130. „The Man Who Bought The Moon“ (Paolo Zucca, 2018) 129. „Cargo“ (Bruno Gascon, 2018) 128. „A Good Woman Is Hard To Find“ (Abner Pastoll, 2018) 127. „Animal World (Lam Can-Zhao, 2018) 126. „Das melancholische Mädchen“ (Susanne Heinrich, 2019) 125. „Hidden Treasures In The Mountain“ (Dao Nan Wang, 2018) 124. „52 Words for Love“ (James Blokland & Andrea Moodie, 2018) 123. „Die letzte Party deine Lebens“ (Dominik Hartl, 2018) 122. „Hotel Auschwitz“ (Cornelius Schwalm, 2018) 121. „When I Am A Moth“ (Zachary Cotler & Magdalena Zyzak, 2018) 120. „Softness Of Bodies“ (Jordan Blady, 2018)
Mit der Diginatives-Jugendbuchverfilmung „Ready Player One“ hat Steven Spielberg ironischerweise einen geradezu typischen Film für sein Schaffen gedreht. Ein Film voller hurra-kapitalistischer Naivität, in dem es nicht darum geht, aus der Platonschen Hölle auszubrechen, sondern lediglich eine bequeme neoliberale Hierarchie darin zu errichten.
30-39% Zustimmung 119. „Es war einmal Indianerland“ (Ilker Catak, 2017) 118. „Chippa“ (Sadar Raman, 2018) 117. „Rafael“ (Ben Sombogaart, 2018) 116. „Signal Rock“ (Chito S. Roño, 2018) 115. „Avengers 3: Infinity War“ (Anthony Russo & Joe Russo) 114. „Permanent Green Light“ (Dennis Cooper & Zac Farley) 113. „A Tale Of Three Sisters“ (Emin Alper, 2019) 112. „Anthem Of A Teenage Prophet“ (Robin Hays, 2018) 111. „Fight Girl“ (Johan Timmers, 2018) 110. „Synonymes“ (Nadav Lapid, 2019) 109. „Savage Youth“ (Michael Curtis Johnson, 2018) 108. „Acid“ (Aleksandr Gorchilin, 2019) 107. „Nevrland“ (Gregor Schmidinger, 2018)
Mit „Synonymes“ wurde in Berlin ein Film ausgezeichnet, der sichtbar bemüht darin ist, intellektualisierendes Herumdenken über Identität in betont unkonventionelle Bilder zu übersetzen. Dabei bleibt der Film aber kühl, unnahbar und zu deutlich in seinen Anstrengungen clever und „anders“ zu sein. Trotz Nudeln mit Tomatensoße für 1,28€ ironischerweise ein geradezu aristokratischer Film.
40-49% Zustimmung 106. „Garten“ (Peter Schreiner, 2018) 105. „Ich war zuhause, aber …“ (Angela Schanelec, 2019) 104. „The Wife“ (Björn Runge, 2017) 103. „Die Rüden“ (Connie Walter, 2019) 102. „Portuguese Woman“ (Rita Azevedo Gomes, 2018) 101. „Diamantino“ (Gabriel Abrantes & Daniel Schmidt, 2018) 100. „A Quiet Place“ (John Krasinski, 2018) 099. „Sowas von da“ (Jakob Lass, 2018) 098. „The Whistlers“ (Corneliu Porumboiu, 2019) 097. „Two For Joy“ (Tom Beard, 2018) 096. „Rosalie“ (Moussa Djigo, 2018) 095. „Two For Joy“ (Tom Beard, 2018) 094. „A Colony“ (Geneviève Dulude-De Celles, 2018) 093. „The Third Wife“ (Ashleigh Mayfair , 2018)
Man hat das Gefühl: umso erfolgreicher Corneliu Porumboius Filme bei Festivals laufen, desto schwächer sind sie. Sein erster Eintrag im Wettbewerb von Cannes „The Whistlers“ ist nicht viel mehr als ein ständiger Klamauk, wohingegen seine früheren Arbeiten noch auf eine geradezu philosophische Weise humorvoll waren.
„Vox Lux“ von Brady Corbet oder wie man auch sagen könnte: in Schönheit gestorben. Keineswegs hatte ich ein Problem per se mit der sehr aufgeblasen erscheinenden Selbstbetitelung als „Portrait Of The 21st Century“, nur verliert der Film ab der zweiten Hälfte dann einfach seine Qualität. Natalie Portman spielt ihre Idee von Britney Spears und macht den gewaltigen Zeitsprung nicht wirklich plausibel, währenddessen auch zweifelhafte Castingentscheidungen und deutlich spürbare Buch-Kürzungen den gewaltigen Anspruch des Films torpedieren. Ich möchte trotzdem sagen: Chapeau für diesen Versuch.
60-69% Zustimmung 059. „The Red Phallus“ (Tashi Gyeltshen, 2019) 058. „Sibel“ (Guillaume Giovanetti & Çagla Zencirci, 2018) 057. „Black Panther“ (Ryan Coogler, 2018) 056. „The Wild Goose Lake“ (Diao Yinan, 2019) 055. „The Shadow Play“ (Lou Ye, 2019) 054. „Can You Ever Forgive Me?“ (Marielle Heller, 2018) 053. „To The Night“ (Peter Brunner, 2018) 052. „Yara“ (Abbas Fahdel, 2018) 051. „Joy“ (Sudabeh Mortezai, 2018) 050. „A Bread Factory“ (Patrick Wang, 2018) 049. „The Farewell“ (Lulu Wang, 2019) 048. „Double Vies“ / „Non-Fiction“ (Olivier Assayas, 2018) 047. „Es gilt das gesprochene Wort“ (Ilker Catak, 2019) 046. „Us“ (Jordan Peele, 2019) 045. „The Traitor“ (Marco Bellocchio, 2019) 044. „The Halt“ (Lav Diaz, 2019) 043. „The Hungry Lion“ (Takaomi Ogata, 2017) 042. „Capernaum“ (Nadine Labaki, 2018) 041. „Mid 90s“ (Jonah Hill, 2018) 040. „A Russian Youth“ (Alexander Zolotukhin, 2019) 039. „Skate Kitchen“ (Crystal Moselle, 2018) 038. „A Star Is Born“ (Bradley Cooper, 2018) 037.“Border“ (Ali Abbasi, 2018)
„Skate Kitchen“ von Crystal Moselle besteht zu zwei Hälften aus einer immens authentischen Beobachtung der New Yorker Jugend in Zeiten von „The Gram“ und andererseits einer etwas giftschrankbelasteten Zeichnung eines Mutter-Tochter-Subplots. Nichtsdestotrotz ein absolut sehenswerter Coming-of-Age-Film.
Honorable Mentions 036. „One Cut Of The Dead“ (Shin’ichirô Ueda, 2017) 035. „The Beach Bum“ (Harmony Korine, 2019) 034. „Systemsprenger“ (Nora Fingscheidt, 2019) 033. „Isle Of Dogs“ (Wes Anderson, 2018) 032. „Noah Land“ (Cenk Ertürk, 2019) 031 „Fisch lernt fliegen“ (Deniz Cooper, 2019) 030. „The Souvenir“ (Joanna Hogg, 2019) 029. „The Plagiarists“ (Peter Parlow, 2019) 028. „Welcome To Sodom“ (Christian Krönes & Florian Weigensamer, 2018 027. „Ayka“ (Sergey Dvortsevoy, 2018) 026. „What You Gonna Do When The World’s On Fire?“ (Roberto Minervini, 2018)
Die Top 25 der besten Filme 2018
025. „Vice“ (Adam McKay, 2018)
Eine sehr amerikanische Weise der eigenen Geschichtsbewältigung. Es hat etwas mit Humor, mit Freiheit des Denkens, aber auch mit dem Status einer ungebrochenen globalen Super-Power zu tun, auf welch zynische Weise hier mit den eigenen Kriegsverbrechen umgegangen wird, dabei aber immer die Komödie aufrecht erhalten bleibt. Ein wichtiger, in seiner Form auch adäquater Film, aber als Psychologisierung Dick Cheneys doch unzureichend.
024. „Der goldene Handschuh“ (Fatih Akin, 2019)
Manchmal muss man zwei Schritte zurück, um einen nach vorne zu machen. „Der goldene Handschuh“ von Fatih Akin ist nach „Aus dem Nichts“ und „Tschick“ ein betont rotziger Film. Er ist auch eine betont selektive Buchverfilmung. Nur genau damit sitzt Akin einen gelungen Fokus, der für sich gehend Sinn macht. Eigentlich ist „Der Goldene Handschuh“ nämlich kein Film über Serienmord oder die Fatalität der BRD-Gesellschaft, sondern über Alkoholismus bzw. die Funktionsweise von Sucht in einer Welt, in der es nur Falsches zu geben scheint.
023. „Portrait Of A Lady On Fire“ (Céline Sciamma, 2019)
„Portrait Of A Lady On Fire“ ist ein betont literarisiertes Kammerspiel. Ein Film der in seiner Akzentuierung von Blicken und Gesten nicht immer so subtil ist wie er gern wäre und durch einen völlig unnötigen Schwangerschaftssubplot versucht noch ein paar feministische To-Do’s abzuhaken, nichtdestotrotz ist die Regieleistung hier kaum hoch genug einschätzbar und das Ende des Films schreibt Filmgeschichte: ändert sich ihr Blick, so ändert sich eine Welt.
022. „Holiday“ (Isabella Eklöf, 2018)
In „Holiday“ sehen wir Frauen am Rande mafiöser Strukturen. Es geht eben genau darum. Um die Struktur der (ausgebeuteten) Weiblichkeit, die sich nur am Rande einer unnahbaren Machtzentrale bewegt. Eine Macht, die zerstörerisch um sich greift, wenn sie das eben will. Ganz uneitel ist „Holiday“ befreit von jeglichem naiven Heroismus einer Hauptfigur und zeigt wie Ohnmacht und Mittäterschaft auf paradoxe Weise zusammenfallen können.
021. „Once Upon A Time … In Hollywood“ (Quentin Tarantino, 2019)
Fast wäre „Once Upon A Time … In Hollywood“ Quentin Tarantinos großes Meisterwerk geworden. Dann nämlich, wenn der Film gänzlich gewaltfrei geblieben wäre und sich somit über die Zuschauererwartungen lustig gemacht hätte und Meta-Kommentar auf Tarantinos Werk gewesen wäre. Stattdessen ist der Film genau das Gegenteil, darin aber auch nicht unintelligent, wenn auch kontrovers: ein Statement für den ästhetischen (und manchmal auch gesellschaftlichen) Wert der Gewalt.
020. „The Lighthouse“ (Robert Eggers, 2019)
Am besten vergleicht man „The Lighthouse“ mit einem Gedicht, Das man noch nicht ganz versteht beim ersten Lesen, Und doch lachen muss.
019. „The Favourite“ (Yorgos Lanthimos, 2018)
Ein Film über die Liebe. Natürlich mit einem Fokus auf eine Eigenheit der Liebe, wie bei jedem guten Film über die Liebe. Hier geht es um Aufmerksamkeit. Figuriert anhand einer damit verbundenen Machtposition. In seiner Anwendung filmischer Mittel eigen, nicht immer on point darin — manchmal auch der Künstelung wegen, so scheint mir — nichtsdestotrotz memorabel und auf hauchzarte Weise lustig.
018. „Those Who Work“ (Antoine Russbach, 2018)
„Those Who Work“ inszeniert Arbeit in einer globalkapitalistischen Welt als skrupellos und Quell unmenschlicher Entscheidungen, die keine wirkliche Alernative bietet. In diesem sehr Dardenneschen Film bringt sich ein sehr talentierter Schweizer Filmemacher in Stellung für noch größere Aufgaben, bei denen er dann hoffentlich einen kühleren Kopf bewahrt als seine Hauptfigur in „Those Who Work“.
017. „The Invisible Life of Eurídice Gusmão“ (Karim Aïnouz, 2019)
Ein Film mit dem Mut zur großen Emotion. Themen wie weibliche Selbstverwirklichung, patriarchaler Katholizismus oder schlichtweg Geschwisterliebe werden von Aïnouz zu einem herrlich altmodischen Melodram verbunden, das großes schauspielführerisches Taktgefühl erkennen lässt. Ein Regie-Film.
016 „At Eternity’s Gate“ (Julian Schnabel, 2018)
Vincent van Goghs Kunst ist eine mit einem seltenen Wiedererkennungswert. Der Versuch liegt nahe sich bei einem Filmporträt seiner Kunst und seiner Person auf zu eindeutige Weise zu nähern. Komischerweise macht Julian Schnabel aber eigentlich genau das und damit einen guten Film. Die Filmsprache macht spürbar wie Vincent van Gogh die Welt wahrgenommen haben könnte, ebenso wie eine Psychose aussieht und all das transitive Dazwischen.
015. „First Man“ (Damien Chazelle, 2018)
Auch Damien Chazelle hat das Porträt eines Großen der Geschichte angefertigt. Neben der beeindruckenden Konsequenz, wie sehr „First Man“ schlichtweg über das Sound-Mixing Spannung erzeugt, sei hier der erzählerische Fokus hervorgehoben, wie Neil Armstrong hier nicht als Held, sondern als (autistisch?) Getriebener charakterisiert wird. Chazelle und Ryan Gosling legen hier eine durch und durch erwachsene Charakterstudie, ohne falscher Nebenschauplätze vor.
014. „So Long, My Son“ (Wang Xiaoshuai, 2019)
Ein großes transgenerationelles Familienporträt Chinas. Wäre bei diesem dreistündigem Werk in Regie und Buch immer so viel Präzision wie am nahezu makellosen Ende des Films, würden wir von einem Meisterwerk sprechen. Ich will auf jeden Fall mehr sehen von Wang Xiaoshuai.
013. „Hereditary“ (Ari Aster, 2018)
Bei vielen Filmen hat man in diesem Jahrzehnt schon von einer Pionierleistung für das Genre gesprochen. Dabei waren dann Filme wie „The Babadook“ oder „Conjuring“ lediglich klischeehafte Nostalgie-Horrorfilme und „It Follows“ oder „A Quiet Place“ lediglich um ein bestimmtes Gadget herumgesponnene Verkaufsagenten. „Hereditary“ hingegen ist deswegen ein innovativer Horror, weil er eine innovative Ästhetik/Autorenhandschraft mitbringt, die Horror wieder zu etwas Rätselhaftem und Unverstehbaren macht. Zu Recht kann man Ari Aster was das angeh bereits jetzt als einen legitimen Erben Stanley Kubricks ansehen.
012. „Chernobyl“ (V.A., 2019)
„Chernobyl“ war eines der Serienereignisse des Jahres. Dabei ist es eigentlich ein Katastrophenfilm unter Idealvoraussetzungen. Jedenfalls die erste Hälfte ist in seiner Geduld und physischen Erfahrbarkeit, aber auch der wirklich brillant in Dialoge verwobene Wissenschaftshintergründe wirklich sehenswert. Das Abdriften in einen sowjetkritischen Politthriller macht das Werk zwar als geistiges Kind des Westens allzusehr durchschaubar, bleibt im Writing aber immer noch auf beachtlich hohem Niveau.
011. „Marriage Story“ (Noah Baumbach, 2019)
Eigentlich geht’s hier ja gar nicht um Ehe, sondern um Sorgerecht. Und auch darum nur vordergründig. Es geht um Los Angeles und New York. Und vor allem um ein amerikanisches Scheidungsrechtssystem, das Scheidung zu einem lustvollen Hobby überbezahlter Anwälte macht. Ein bisschen geht es auch um Stolz. Um Schachzüge. Um den unveränderlichen Charakter der Menschen. Um Liebe.
Die dicke, sture, leider auch noch intelligente Petrunya ist eine einzige Provokation im mazedonischen Patriarchat. Ihr beim wissenden und klugen Spiel zuzusehen ist ein Genuss. Ein dramatisches Perpetuum Mobile und eine der intelligentesten feministischen Prämisse der letzten Zeit, samt silberner-bär-würdiger Regieführung.
009. „Martin Eden“ (Pietro Marcello, 2019)
Das moderne italienische Kino hat ein gewisses, unbestreitbares Faible für altmodisches, vielleicht auch nostalgisches Filmemachen. Man denke an Sorrentinos Fellini-Gedächtnis-Filme, man denke auch an „The Traitor“, der dieses Jahr im Wettbewerb in Cannes lief. Ein bisschen so ist auch der analog gefilmte „Martin Eden“, der in der Vergangenheit spielt, obwohl er ohnehin schon eine freie Interpretation eines englischen Romans ist. Der sich in fast in Vergessenheit geratenem Kino-Pathos suhlt, ohne kitschig zu werden, vermutlich auch deswegen, weil er (vom aus dem Dokumentarfilm kommenden) Pietro Marcello verdammt gut inszeniert wurde.
008. „Beanpole“ (Kantemir Balagov, 2019)
„Beanpole“ ist ein bisschen der Schwesternfilm zu „Portrait Of A Lady On Fire“. Beides sind sehr literarisierte und nicht wenig prätentionsarme Filme mit betont starken Frauenfiguren und feministischen Ideen. „Beanpole“ ist noch ein bisschen radikaler und, obwohl ebenso in einer konkreten historischen Vergangenheit verortert, noch fiktionalisierter und symbolisierter. Die feministische Agenda speist sich mehr über wirklicb originäre Figuren als über (behauptete) Beziehungen. Unklar jedoch, inwiefern sich diese funktionslose Rotgrün-Ästhetik über die Zeiten als Filmsprache des großen Kantemir Balagovs oder als Manierismus erweisen wird. Positives Urteil auf Bewährung ausgesetzt.
007. „Dragged Across Concrete“ (S. Craig Zahler, 2018)
Ein Männerfilm. Ein altmodischer, betont politisch inkorrekter Film. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass S. Craig Zahler hier mehrere Storystränge so virtuos verknüpft und vor allem mit der Wucht der Geduld zerdehnt, dass es wirklich ungemein spannend und echt wird, mit zwei Cops minutenlang in einem stehenden Auto zu warten bis etwas „passiert“. Wenn man S. Craig Zahler als Genre-Filmer oder „alten weißen Mann“ abkanzelt, so verzichtet man im gleichen Moment auch auf einen der spannendsten und talentiersten Autorenfilmer der Gegenwart.
006. „Monos“ (Alejandro Landes, 2019)
Eigentlich versteht man nicht so ganz, wem oder was man da gerade folgt. Eine Gruppe militarisierter Jugendlicher, aha? Guerilla-Kämpfer, Kartell-Paramilitärs? Egal. Denn es geht bei Monos vielmehr um die Bewegung der Gewalt, die Bewegung der Hierarchie, die Bewegung der Flucht usw. Einfacher gesagt als getan, denn diese Erfahrung stellt sich erst durch die Virtuosität seiner Machart ein. Ein wahnsinniges filmisches Erleben in Schnitt, Kamera, Schauspiel und und und.
005. „If Beale Street Could Talk“ (Barry Jenkins, 2018)
Während das alles andere als perfekte Triptychon „Moonlight“ mittlerweile durch etliche Dekadenbestenlisten gejazzt wird (dabei beachtlich viele #1-Platzierungen) ist „If Beale Street Could Talk“ paradoxerweise auf dieselbe Weise wirklich gut wie das bei „Moonlight“ immer so behauptet wird. In einer meisterhaften Filmsprache wird eine literarische Vorlage genau angemessen proportioniert und am Ende ist „If Beale Street Could Talk“ eine unheimlich ehrliche und emotionale Liebesgeschichte, in der Schwarzsein das einzige Hindernis ist, ohne dass man da aber laut mit dem Finger drauf zeigte. Denn es ist eben so wie es ist.
004. „Parasite“ (Bong Joon-Ho, 2019)
Die Funktionsweise einer neoliberalen Gesellschaft figuriert anhand eines Haus mit Keller. „Parasite“ (der eigentlich „Paraside“ heißen sollte) erzählt das Nacheifern der einen Klasse gegenüber der anderen, welche selbst keine eigene Distinktionsfähigkeit mehr hat. Aufstieg ist nur noch illegal und gegen Vertreter der eigenen Klasse möglich. Und nur ein unwahrscheinlicher Morsezeichencode ist noch sicher genug sichder Informationshoheit der Elite zu entziehen. Bong Joon-Hos Film ist eine hochintelleligente Gesellschaftssatire. Analyse und rasant getaktete Unterhaltung in einer seltenen Symbiose.
„Birds Of Passage“ ist ein Phänomen. Ein Film, der Elemente des Gangsterfilms, Ethnodramas und Westerns beinhaltet und in seiner Gesamtheit einer ethnographisch-historischen Analyse der Entstehung neuweltlicher Drogenmafiastrukturen funktioniert. Ein Film wie ein sechshundertseitges Sachbuch, das sich zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen bewegt und indem trotzdem zwischendurch immer mal wieder ganz schön viel herumgeballert wird.
002. „Midsommar“ (Ari Aster, 2019)
Ari Aster hat mit seinem erst zweiten Film ein zeitloses Monstrum voller kühner Entscheidungen und meisterhaften Inszenierungen geschaffen, über das man seitenlang schreiben könnte und ihm doch nie ganz gerecht würde. Man könnte es versuchen mit „eine Mischung aus Kubrick, Pasolini, Roeg und einem Pilztrip“ oder mit „die Arroganz und Blindheit westlicher Kulturwissenschaft gegenüber ihrem Forschungsobjekt“. Einem Forschungsobjekt, das Aster schelmenhaft nicht in Afrika oder Südamerika, sondern mitten in der Ersten Welt, in Schweden, verortet. Dabei fiktional überhöht, aber derart geschickt und detailverliebt, dass man denken könnte, die Midsommar-Kultur würde es wirklich genauso in Schweden geben. Vor allem der eine andere amerikanische Zuschauer dürfte sich das gedacht haben, womit sich irgendwie der Kreis westlicher Arroganz schon wieder schließt. Jedenfalls: Fuck, was für ein Film.
„The Irishman“ war in diesem Jahr eine Gretchenfrage: Für die einen eine todlangweilige Version von „Goodfellas“, für die anderen der furiose abschließende Kommentar eines großen Regisseurs auf sein eigenes Werk. Mit Blick auf die Endplatzierung dieses Werks in dieser Jahres-Bestenliste ist es kein großes Rätsel auf welcher Seite ich stehe. Aber ich habe „The Irisman“ natürlich auch im Kino gesehen und die meisten der Langweilig-Fraktion eben nicht. Damit stellt sich anhand dieses vielleicht letzten großen Kino-Epos noch einmal über den Film an sich hinaus die Frage nach dem richtigen Rezeptionsort des Mediums Film. „The Irishman“ ist womöglich nicht nur der krönende Abschluss des romanhaften Scorseschen Mafiakinos, sondern womöglich des Kinos an sich in der uns bekannten Form.
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