Ein letzter Glaube, kein wertloser Dreck zu sein.
Originaltitel: Rosetta
Produktionsland: Belgien / Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 1999
Regie: Jean Pierre & Luc Dardenne
Drehbuch: Jean Pierre & Luc Dardenne
Produktion: Jean Pierre & Luc Dardenne
Kamera: Alain Marcoen
Montage: Marie-Hélène Dozo
Musik: Thomas Gauder
Darsteller: Èmilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Olivier Gourmet, Anne Yernaux
Laufzeit: 95 Minuten
Ein Vorort einer kleinen belgischen Stadt. Rosetta lebt mit ihrer alkoholabhängigen Mutter in einer Wohnwagensiedlung. Nichts will sie mehr, als einer geregelten Arbeit nachzugehen, sei es als Fabrikarbeiterin, als Verkäuferin, egal was. Aber nichts ist schwerer als das. Atemlos, gleich einem gehetzten Tier, stürzt Rosetta voran, fällt hin, rappelt sich mit endloser Energie wieder auf, sieht die Hand nicht, die ihr entgegengestreckt wird. Rosetta ist besessen von der Furcht, unterzugehen, besessen von der Schmach, eine Aussenseiterin zu werden. Sie sehnt sich nach einem normalen Leben. Auch sie will ihre Chance haben.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 24.05.2012)
„Rosetta“ ist ganz nah dran. Mit der Kamera an der gleichnamigen Protagonistin Rosetta – und diese ganz nah am Existenzminimum. Am Rande unserer europäischen Wohlstandsgesellschaft herrscht existenzbedrohende Armut, das zeigten die Gebrüder Dardenne mit ihrem fünftem Spielfilm und lösten in ihrer belgischen Heimat eine Mindestlohndebatte aus. Die Cannes-Jury entlohnte das mutige Projekt 1999 mit der Goldenen Palme, was dem Regie-Duo sechs Jahre später mit „L’Enfant – Das Kind“ ein zweites Mal gelingen sollte.
Keine großen Worte
„Rosetta“ ist kein Film der großen Worte – vielleicht ist die Wortkargheit der Protagonistin auch Zeichen ihres sozialen Status. Es ist nicht viel, was sie sagt, aber was sie sagt, hat es in sich „Du kannst nur trinken und ficken“ begegnet sie ihrer immer betrunkenen Mutter. Sie prügelt sich mit jeder ihr begegnenden Person, sie schreit und flucht. Sie ist hilflos, sie hat nie gelernt, sich anders zu verhalten. Und doch will sie ganz anders sein, sie will raus, aus dem Trailerpark, der ihre Heimat ist, sie will einen Job und einen Freund, was sie in einer der stärksten Szenen des Films in einem Selbstgespräch kundtut:
„Dein Name ist Rosetta, mein Name ist Rosetta.
Du hast einen Job gefunden, ich habe einen Job gefunden.
Du hast einen Freund, ich habe einen Freund.
Du hast ein normales Leben, ich habe ein normales Leben.
Du wirst nicht wieder abstürzen, ich werde nicht wieder abstürzen.„
Ein kranker Mensch
Rosettas einziges Ziel ist es, ein normales Leben zu führen, was sie mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit verfolgt. Rosetta will einen Job, Rosetta arbeitet in ihrer Probezeit gut und zuverlässig, Rosetta will aus dem Elend heraus. Eine deutliche politische Message, die die Meinung der Politik man könne innerhalb unser Gesellschaft immer Arbeit finden, wenn man sich dafür anstrengt, sehr stark attackiert. Glücklicherweise verzichten die Dardennes darauf Rosetta zu einer überoffensichtlichen tragischen Heldin zu verklären, um Empathie für sie gegenüber dem achsobösen System auszulösen. Ganz so einfach machen sie es sich nicht. Rosetta ist ein kranker, sozial unfähiger Mensch, der auf seiner Suche nach Arbeit selbst vor Verrat und Mordgedanken nicht zurückschreckt, was natürlich auch ein Zeichen der aussichtslosen sozialen Lage Rosettas aber eben keinen plakativen Mitleidseffekt darstellt.
Schnellstraßenästhetik
Ein besonderes stilistisches Element des Films ist die Kamera, die in intimster Nähe zur Protagonistin agiert und ein ungemeines Mittendrin-Gefühl generiert. Die Dardenne-Brüder erreichen damit eine ungemeine physische Greifbarkeit, ein einfaches Davonlaufen Rosettas wird durch die Handkamera im Zusammenspiel mit profanster Soundkulisse wie etwa dem Aufheulen eines Mofa-Motors zu einer Verfolgungsjagd mit jeder Menge Suspense — Handwerklich kreierte das belgische Regieduo einen unverkennbaren Stil, der zudem von der bloßen Kulisse getragen wird: Dunkle Industriegebiete, Schmuddelwetter, ungepflegte Innenstädte und verdreckte Natur sind genau so typische Dardenne-Stilmittel, wie die häufiger in ihren Filmen vorkommenen Schnellstraßen, die keine Rücksicht auf Fußgänger nehmen – eine Anspielung auf den nach vorne preschenden Kapitalismus, der keine Rücksicht auf Soziales zu nehmen scheint.
Sehnsucht nach Erfolgen
Rosetta, in ihrer kleinen Welt (Viel mehr als der Trailerpark und eine kleine Waffelbude erblickt der Zuschauer auch gar nicht innerhalb der Laufzeit des Filmes) scheint selbst keine Kindheit gehabt zu haben, sie reagiert auf zwischenmenschliche Annäherungsversuche, genau wie auch auf Musik und Tanz seltsam apathisch, vielmehr verhält sich das Mädchen gegenüber ihrer Mutter selbst viel erwachsener, will ihre Mutter zum Arbeiten bringen, sie von der Alkoholsucht abhalten und ist im Gegensatz zu ihrer Mutter bewilligt einen Job zu suchen. Offensichtlich sehnt sich die Protagonist nach Erfolgen, nach Gründen etwas Schönes in ihrem Dasein zu finden. In mehreren Szenen gräbt sie nach Würmern, bastelt daraus eine Angel und fängt einen Fisch, nur um ihn anschließend wieder ins Wasser zu werfen — Ein letzter Glaube, kein wertloser Dreck zu sein, ein letzter Glaube, sich von der gescheiterten Mutter zu unterscheiden?
Radikale Bitterkeit
„Rosetta“ ist ein stilistisch gekonntes, emotional unterkühltes und daher auch unerträgliches Drama. Eine Gesellschaftskritik erreichen die Dardenne-Brüder mühelos mit ihrer elegischen Bildsprache, doch aber fehlen kleine Hoffnungsschimmer als Kontrast zu Rosettas Alltag, die ihr gesellschaftliches Scheitern zu der benötigten Tragödie avancieren ließe. So sieht man nach 95 Minuten ein Mädchen, das ihrer gescheiterten Existenz wegen bitterlich weint. Aber die beinahe wendungslose Trostlosigkeit erzeugt auch Ratlosigkeit und fehlendes Teilnahmepotenzial. „Rosetta“ ist gut, aber nicht grandios, erreicht er seine pessimistische Message doch nur aus der Aussichtslosigkeit einer Welt am Rande unserer Wohlstandgesellschaft und ihrer Unfähigkeit seiner Figuren darin glücklich zu sein.
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