Die Geschichte nach der Tragödie: Koreeda philosophiert über die Familie.
Originaltitel: そして父になる (Soshite chichi ni naru)
Alternativtitel: Gelbe Schmetterlinge
Produktionsland: Japan
Veröffentlichungsjahr: 2008
Regie: Hirokazu Koreeda
Drehbuch: Hirokazu Koreeda
Produktion: Yoshihiro Katō, Satoshi Kōno, Hijiri Taguchi, Masahiro Yasuda
Kamera: Yutaka Yamasaki
Montage: Hirokazu Koreeda
Musik: Gontiti
Darsteller: Hiroshi Abe, Yui Natsukawa, You, Kazuya Takahashi, Shohei Tanaka, Yoshio Harada, Kirin Kiki, Susumu Terajima
Laufzeit: 114 Minuten
Seit 15 Jahren feiert die Familie Yokoyama jedes Jahr den Todestag des verlorenen Sohnes Junpei. Jener starb bei dem erfolgreichen Versuch, einen kleinen Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Von den Großeltern bis zu den Enkeln versammelt sich die ganze Familie im Haus der Großmutter und besucht das Grab des Verstorbenen. Vor der anmutigen, idyllischen Kulisse und unter der beherrschten Oberfläche der Familienmitglieder brodelt es jedoch gewaltig. Der Familienvater hat nie verwunden, dass sein Erstgebohrener so früh das Zeitliche segnete, und hätte lieber seinen anderen Sohn Ryota (Hiroshi Abe) tot gesehen. Der greisen Großmutter geht es ähnlich und doch ganz anders. Sie lädt den damals von Junpei geretteten Mann zu der Totenfeier ein, um ihn seine vermeintliche Schuld spüren zu lassen.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(Ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 03.09.2014)
Ich bin alles andere als ein Familienmensch — was auch damit zusammenhängt, dass ich mit meiner Familie nicht viel gemeinsam habe — und Familientreffen sind für mich tendenziell eher störendes Obligatorium. Hirokazu Koreedas Film „Still Walking“ hat daher etwas in mir erwischt und mir sentimentale Momente des Nachdenkens verpasst. Denn „Still Walking“ teilt uns zwar einerseits eine Menge über das Japan des 21. Jahrhunderts mit, im Kern bleibt das sich abspielende Familiendrama aber eines, das symptomatisch für die moderne Familie unserer Zeit scheint und daher auch über japanische Grenzen hinweg, Menschen ansprechen und berühren wird. Dabei ist Koreedas Film faszinierend ruhig und unaufgeregt und bezieht seine Wirkung ganz aus subtilen Drehbuchmomenten.
„In den vergangenen fünf oder sechs Jahren habe ich beide Elternteile verloren. Als undankbarer ältester Sohn, der seine langen Absenzen von zu Hause mit seinem Eingespanntsein im Beruf rechtfertigte, empfinde ich heute Bedauern: ‚Wenn ich mich nur mehr um sie gekümmert hätte… Warum habe ich denn dies oder das gesagt…?‘ ‚Still Walking‘ ist motiviert durch diese Erfahrung der Reue, die wohl viele früher oder später erleben.„
Hirokazu Koreeda
Ein Restaurator als Alter Ego
Die Familie Yokohama lädt wie jedes Jahr zu einem Gedenk-Familientreff anlässlich des Todestages des ältesten Sohnes, der als Held sein Leben gelassen hat, um einen Jungen das Leben zu retten. Anhand des obrigen Zitats ist es nicht weit hergeholt, die Figur des überlebt habenden Sohnes Ryota als Alter Ego des Regisseurs zu begreifen. Wie auch Koreedas ist auch Ryotas Beruf im Bereich der Kunst anzusiedeln, er restauriert Fresken. Im Gegensatz zu seinem Vater, der Arzt ist und für seinen ältesten Sohn dasselbe vorgesehen hatte, rettet Ryota Kunstwerke statt echten Menschenleben. Da ist klar, dass der Vater das nur mit einer gewissen Geringschätzung beäugen kann, zumal wenn sein Lieblingssohn Junpei als Lebensretter gestorben ist.
Eine emotionale Distanz von beiden Seiten
Ryota fällt mir persönlich auch am leichtesten als Identifikationsfigur zu, aber ich denke nicht, dass das für jeden Zuschauer gilt, denn das hat viel damit zu tun, dass Ryota ein ähnlich gestörtes Verhältnis zu seiner Familie hat wie ich. Ryota ist eine Figur, die mit den Erwartungen, die seine Familie an ihn hat, bricht. Er wird kein Arzt, sondern Restaurator und kommt mit einer Witwe zusammen, die einen eigenen zehnjährigen Sohn mit einbringt. Koreeda legt hier wieder mal das Handgeschick an den Tag, beide Parteien gleichberechtigt darzustellen. So kann man einerseits die Enttäuschung nachvollziehen, die von Ryota ausgeht, dessen Entscheidungen nie voll und ganz akzeptiert werden, andererseits kann man auch die trostlose Unglücklichkeit des alten Mannes verstehen, dessen Lieblingssohn gestorben ist und dessen anderer Sohn, diese Rolle nicht ausfüllen will und möglicherweise auch nicht kann. Hier stellt sich eine emotionale Distanz von beiden Seiten dar.
Die Geschichte nach der Tragödie
Aus der Gleichgewichtung aller Figuren zieht dieses ruhige Drama seine Reize. Aus den kleinen alltäglichen Konversationsgewohnheiten dringt immer wieder das Licht größerer Zusammenhänge. Kein Charakter ist vollends unschuldig und doch kann jeder auch Empathie für sich gewinnen. „Still Walking“ ist keine Tragödie, sondern die Geschichte nach der Tragödie. Ein dokumentarischer Blick auf Menschen, die es auf ihre unterschiedlichen Weisen geschafft haben, die Tragödie hinter sich zu lassen, aber doch dringt immer wieder die Trauer hindurch. Koreeda zeigt die Familie als ein Geflecht unabhängiger Individuen, die eher unfreiwillig etwas miteinander zu tun haben. Ein bei anderen seiner Werke durchklingender Koreedascher Optimismus ist hier eher zurückhaltend ausgefallen.
Universell und generationsspezifisch
Koreedas Film schafft es gerade wegen seiner unaufgeregten, realistischen Herangehensweise, die perfekt die Stimmung von Familientreffen trifft, zur Reflexion über seine eigene Familie anzuregen. Ganz egal ob Koreeda hier wirklich vollkommen universelle Themen anspricht wie den vom Sohn enttäuschten Vater oder eher generationsspezifische Beobachtungen anstellt, indem er eine Patchwork-Familie mit einer traditionellen Familie kollidieren lässt. Vorwerfen kann man ihm nur, dass er die schöne Konsequenz, in seinem Film lediglich einen 24-Stundentag zu zeigen, in der letzten Szene über Bord wirft sowie die Verwendung einer an das Leben nach dem Tod angelehnten Schmetterlingsmetapher, die nicht von eindeutiger Notwendigkeit ist. Aber ein Nachdenken bleibt.
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