
Sturzrevue & Kurzreplik — Berlinale ’24
„The Editorial Office“ (Roman Bondarchuk, 2024): Anhand eines (ausreichend) idealistischen Reporters, der gerne einen Brandstifterfall aufklären möchte, reibt sich Bondarchuk an der korrupten und moralisch trägen Gesellschaft einer Ukraine „sechs Monate vor dem Krieg“. Man kann dem Film sicher nicht vorwerfen, für einen EU-Beitritt des Landes Propaganda zu betreiben, aber sonst sehr viel. Der miserabilistische Humor ist immer sehr laut und schrill, bleibt immer als reine Absicht erkennbar. Die ukrainische Gesellschaft als Farce darzustellen, geht vor allem an komödienhandwerklichen Unzulänglichkeiten zu Bruch. Und was das Thema mit schlecht animierten Tieren zu tun hat, ist dann noch eine andere Frage.
„All The Long Nights“ (Shô Miyake, 2024): Eine Büroarbeiterin leidet unter PMS (premenstrual syndrome) und noch mehr unter der fremden, angriffslustigen Person, die sie durch diese Symptome selbst wird. Natürlich funktioniert „All The Long Nights“ eher in einer Schamgesellschaft wie Japan, scheint sich dem aber auch bewusst zu sein, denn schnell trifft unsere Hauptfigur auf eine andere Figur mit Panikstörungen und alsbald fügt Miyake alles zu einem kleinen soziopsychopathologischem Gesellschaftspanorama zusammen. Shô Miyake, der 2022 den besten Film des Jahres abgeliefert hat, läuft mit diesem seinem Film „nur“ im Forum. Dabei demonstriert auch die Literaturverfilmung „All The Long Nights“ wieder Miyakes sehr speziellen „Atem“ des Filmemachens. Das alltägliche Treiben seiner Figuren beobachtet Miyake in einem mitunter absurd erscheinendem Ausmaß an Einzelmomenten. Da werden Fenster aufgemacht und Einkaufstaschen ausgepackt und nichts scheint der Ellipse überlassen. Dabei sind die einzelnen Momente — wenn man darauf achtet — durchaus zügig inszeniert und schauspielerisch genau choreographiert. Miyake erzeugt damit eine extreme Haptik seiner Welt und sehr viel Spielraum, um in kleinen Gesten und Blicken außerordentlich viel zu zeigen, literarisch komplexe psychologische Beobachtungen werden damit tatsächlich ins filmische Medium transponiert. Wie auch in „Small Slow But Steady“ ist dieses meditative Erzählmedium auch wieder die epische Grundlage, um sich dem speziellen (unsexuellen) Verhältnis zweier Figuren anzunähern und dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, selbst seine Räume für emotionale Teilhabe an dem Geschehen an die Hand zu geben. Da weint jemand vielleicht an einer Stelle an der ein anderer Zuschauer lacht oder umgekehrt. Insgesamt verliert Miyake aber gegen Ende seiner Erzählung ein bisschen den Rhythmus aus den Augen und zerdehnt die Handlung für meine Begriffe dann doch um die eine oder Minute zu sehr. Ebenso verliert sich die psychopathologische Gesellschaftsanalyse gegen Ende hin zu einem simplen Plädoyer der arbeitskollegialen Mitmenschlichkeit, die nicht ganz dieselbe emotionale und motivische Tiefe seines vorherigen Filmes erreicht. Trotzdem: Schon qua seiner inszenatorischen Klasse hätte man diesen Film im Wettbewerb zeigen müssen. Miyake ist auf dem besten Weg, ein Filmauteur der obersten Riege zu werden und die Berlinale täte gut als „seine Entdeckerin“ daran Teil zu haben.
„Faruk“ (Aslı Özge, 2024): Eigentlich hat Aslı Özge diesen Film als Langzeitdokumentarfilm über den eigenen über neunzigjährigen Vater angelegt, der aus seiner alten Istanbuler Wohnung herausgedrängt wird, weil diese vermeintlicherweise nicht mehr erdbebensicher sei und durch einen Neubau ersetzt gehöre. Wohl aber auch aufgrund produktioneller Unwägbarkeiten entschied sich Aslı Özge, eine fiktionale Ebene in den Film einzuziehen, das Dokumentarische immer wieder zu irritieren und kiarostami-artig die eigene Filmemacherinnenperspektive auch offenzulegen. Im Interview sagt Özge, dass die Regisseurin im Film nicht sie selbst und der von Özges Vater gespielte Vater nicht ihr Vater und überhaupt „Faruk“ ein Spielfilm sei. Dennoch sind Figurenkonstellationen und Filmwelt so nah am Dokumentarischen, dass selbst manche Dokumentarfilme inszenierter scheinen (und wahrscheinlich auch sind). So faszinierend, Gedankenspiele zwischen Doku und Fiktion im Allgemeinen auch sein mögen, wirken sie in diesem Fall oft auch wie ein Vorwand, der eigentlich geplanten Dokumentation doppelte Böden zuzufügen, die der Essenz der Geschichte gar nicht wirklich dienlich sind.

„Holy Week“ (Andrei Cohn, 2024): In Zeiten, in denen hierzulande (zurecht) viel über Antisemitismus gesprochen wird, ist dieser gnadenlos sperrige, aber absolut gelungene neue Film von Andrei Cohn in meinen Augen ein bisschen zu sehr untergegangen. In 133 Minuten und langen Einstellungen verfolgen wir einen jüdischen Gastwirt und seine Familie im 19.Jahrhundert, die mehr und mehr mit Schikanen der orthodoxen Dorfbewohner zu kämpfen haben. Ein intelligenter Film, weil er aufzeigt, wie der Antisemitismus jede Möglichkeit ergreift, das Verhalten des jüdischen Gastwirtes (der selbst auch nicht als heiliges Unschuldslamm, sondern als grautöniger Charakter gezeichnet wird) möglichst negativ aufzufassen und als verschwörerische List auszulegen. In kreisenden Dialogen seziert Cohn hervorragend, wie sich kleine zwischenmenschliche Missverständnisse mehr und mehr in einem Diskurskontext eines globalen Rassenantisemitismus feindselig aufladen. Zwei Stunden lang bleibt eine Angespanntheit über der dörflichen Stille, von der klar ist, dass irgendwann ein Brandgeschoss durch ein Fenster fliegen muss, aber auch dafür hat Cohn am Ende eine entscheidende Wendung parat …
„Shikun“ (Amos Gitai, 2024): Zunächst habe ich mich darüber gewundert, dass ein so renommierter israelischer Regisseur wie Amos Gitai mit einem so aktuellen Thema nicht im Wettbewerb des Festivals zu finden ist, aber die schiere Qualität des Films beantwortet diese Frage schon. Es ist eine biedere Neuinterpretation des Ionesco-Theaterstücks „Rhinocéros„, auf uninspirierte Plansequenzen gelegt. Nie funktioniert wirklich der Transfer zum Status Quo Israels und seiner politischen Frage nach den Existenzrechten zweier sich mehr und mehr ausschließender Staaten. Genau deswegen hat auch niemand auf der Berlinale über diesen Film gesprochen: Qua Unkonkretheit und künstlerischem Geschwurbel bleibt Gitai unter jeglicher Erregungsschwelle.
„Sterben“ (Matthias Glasner, 2024): Auch wenn Matthias Glasner und ich im Interview anfangs schrecklich aneinander vorbeigeredet haben: Mir hat sein Film „Sterben“ sehr gut gefallen. Man kann viel über den Film schreiben, auch weil er grobe Schnitzer hat. Mindestens eine ganze Episode dieses groß angelegten Familiendramas funktioniert nicht und ist unbefriedigend psychologisch motiviert (alles mit der von Lilith Stangenberg gespielten Schwester). Auch manche Dialogszenen sind zu lang und reiten auf dem eigenen schwarzen Witz, den „Sterben“ durchweg hat, zu sehr herum, als ihn wirklich fein auszuspielen, Dinge auch mal einem Schweigen, einem Blick oder einem Atmer zu überlassen. UND DENNOCH: Erst einmal muss man den Respekt aussprechen, einen solchen autobiografischen Film zu machen, der so offen mit der eigenen Unvollkommenheit (um es mal höflich auszudrücken) der eigenen Person umgeht. Zumal in einem multiplen Familienkontext, zumal mit so viel dunklem Humor und zumal mit dieser großen Lust am erzählerischen Pathos. „Sterben“ hat für jeden schwachen Moment auch immer einen, der absolut grandios ist. Lars Eidinger ist in der Rolle seines Lebens. Und um auf das Missverständnis mit Herrn Glasner noch einmal zurückzukommen: „Sterben“ ist obwohl vordergründig Komödie auch ein düsteres Gesellschaftsdrama. Jedenfalls für mich. Der verbohrte, narzisstische Leistungsgeist, der hier Tom, wie auch seine Schwester oder seinen besten Freund Bernard (Robert Gwisdek) ins Unglück reißt, sind ja in einem Erziehungskontext eingebettet. Die Art, wie Figuren mehr aneinander vorbeifühlen als vorbeireden (denn sie sprechen ja alles aus), ist irgendwie … ja, deutsch. Und die Erkundung dessen ist analytisch. Etwas, das das osteuropäische Kino schon immer konnte, aber dem deutschen pointengeilen Komödie immer fremd war. Vielleicht so etwas wie die Entdeckung des Sozialmiserabilismus in der deutschen Komödie.
„The Empire“ (Bruno Dumont, 2024): In meinem Interview mit Bruno Dumont stelle ich die Frage, ob „The Empire“ nun so etwas wie eine endgültige Satire wäre, da er mit der total gesetzen Gegenüberstellung von Gut/Böse (etwas das er seinem eigenen bisherigen Kunstverständnis nach eigentlich strikt ablehnt) womöglich auf dem Peak seiner filmischen Evolution von einem magischen Naturalismus („La Vie de Jesus“, „L’Humanité“) hin zu einem satirischen und burlesken Kino spätestens nach „P’tit Quinquin“ (den „The Empire“ ja auch durch die beiden wieder auftretenen Dorfpolizisten direkt referenziert) angekommen ist. Und er bejaht das vorsichtig. Als Kommentar auf die infantilisierte Gut-/Böse-Perzeption der Öffentlichkeit, die ja auch mit Hollywooddenkfiguren wie „Star Wars“ sie anbietet, korreliert, funktioniert der Film ziemlich gut. Er bleibt dabei aber rein nihilistisch. Zwar erinnern die Guten hier und da an die bürgerliche Weltverbesserungsideologie der Grünen und die Bösen an ihren populistischen Gegenspieler an den politischen Rändern, aber in den entscheidenden Gelegenheiten lädt Dumont dieses Gegensatzpaar dann doch nicht mit realpolitischen Markierungen auf, sondern belässt es bei Team Schwarz und Team Weiß, die im Kern nicht gleicher sein können und sich am Ende des Filmes in einem großen Knall auch ineinander aufheben.
„Foreign Language“ (Claire Burger, 2024): Handwerklich ordentlicher, erzählerisch und intellektuell mäßiger Generation14+Film, der sich aus unerfindlichen Gründen in den Berlinalehauptwettbewerb verirrt hat. Was in der ersten Hälfte noch ein paar gute Einzelmomente hat, ergeht sich in der zweiten dann in Vorhersehbarkeiten und soapigen Coming-of-Age-Wendungen. Drehorte und Besetzungen sehen nach Fördergeldpolitik aus. Apropos: Politik. Die bleibt immer ganz an der Oberfläche kratzend. Tiefer als die Hauptfiguren, denen es so sehr nach linkspolitischer Identität sehnt, aber dabei immer naive Teenager bleiben, geht der Film selbst auch nicht. Was bleibt ist ein kitschiger Zuckerguss aus Antifa-Devotionalien.

„Pepe“ (Nelson Carlos de Santos Arias, 2024): Bei all der Kritik an diesem halbgaren, zusammengepuzzelten und in seinen Spitzen kaum hochwertig besetzten Wettbewerb dieser letzten Chatrian/Rissenbeek-Berlinale, ist die Wahl „Pepe“ von Nelson Carlos de Santos Arias hier zu zeigen, eine bemerkenswerte und in meinen Augen richtige. „Pepe“ist wohl sektionsübergreifend der ästhetisch und erzählerisch unorthodoxeste und aufregendste Beitrag. Ein Werk, das von einem Flusspferd erzählt, das aus Pablo Escobars Privatzoo entlaufen ist und zur nationalen Bedrohung wird. Dabei mäandert „Pepe“ zwischen fiktionalem Erzählkino, Essay, ironisiert sich selbst dabei laufend und fluktuiert frei wie der Strom eines Flusses durch Raum und Zeit. Man kann sich diesem Film wohl nur bei einer wiederholten Sichtung wirklich intellektuell greifend nähern; wohl auch deswegen, weil man sich selbst aufgrund der bisweilen brutalen Sperrigkeit und dann wieder schwelgerischen Leichtigkeit, die Frage stellen muss, ob man dieses oder jenes vielleicht im Kinosaal so auch eher geträumt als gesehen hat.
„Henry Fonda For President“ (Alexander Horwath, 2024): Alexander Horwath zeichnet in seinem dreistündigen Film-Essay eine alternative Geschichte der Vereinigten Staaten. Was wäre wenn nicht Ronald Reagan, sondern Henry Fonda US-Präsident geworden wäre, ebenfalls eine Schauspiellegende Hollywoods, aber im Gegensatz zu Reagan ein solcher, der immer für das „linke Kino“ Hollywoods repräsentativ gewesen ist. In Filmen vor der Kamera stand, die sich progressiven Gesellschaftsfragen geöffnet haben oder gar ihrem Kern nach sozialistisch sind („The Grapes Of Wrath“). Die Lesart, die dieser Film einnimmt, ist tatsächlich filmwissenschaftlich (recht) neu, weil sie Autorenschaft im Sinne eines Film Auteurs auf den Schauspieler überträgt. Kann ein Schauspieler also auch eine Handschrift über ein Gesamtwerk hinweg haben, die dann auch politisch einlesbar ist? Eine Frage, die dann also auch afilmische Eigenschaften wie die Privatbiografie, die Umstände der Rollenwahl usw. mit einfasst und die sich selbst in einem dreistündigen Film wie „Henry Fonda For President“ wohl nicht endgültig fundieren lässt. Aber dafür ist Wissenschaft (wenn man diesen Film also einen filmwissenschaftlichen nennt) ja da; manche Wege erst zu eröffnen, die dann andere zu Ende gehen können. Über all das und auch die Frage nach den Risiko der Heldenidealisierung habe ich mit Alexander Horwath gesprochen.
„Mit einem Tiger schlafen“ (Anja Salomonowitz, 2024): Breitbeinig sitzt Maria Lassnig vor ihrer Staffelei, immer gleichzeitig Kind und Greisin, fragil und viril zugleich. Minichmayrs Darstellung ist gut, hat aber indes durchaus Züge einer hollywoodmodischen Biopic-Interpretation, in der es um eine sklavische Körper- und Sprach-Mimikry geht. Wie weit unterläuft und wie weit bestätigt Anja Salomonowitz‘ achronologisch vorgetragener Film über die Lassnig also ein konventionalisiertes Biopic-Kino? Darüber habe ich mit ihr im Interview gesprochen. Ein finales Urteil muss ich mir aufgrund fehlender tiefgehender Kenntnis über Maria Lassnig aufschieben, in jedem Fall imponiert mich Salomonowitz‘ Drang danach, Filmgenres immer ihrem Objekt nach neu zusammensetzen zu wollen.
„Filmstunde_23“ (Edgar Reitz & Jörg Adolph, 2024): Ein Revisited des 1968 entstandenen Reitz-Films „Filmstunde“, in dem Reitz als 35-jähriger auf einem Müncher Mädchengymasium das erste Mal in der Geschichte der BRD Film im Unterricht lehrte. Jetzt treffen die Mädchen von damals, mittlerweile selbst Damen im gehobenen Alter, wieder auf ihren Lehrer von damals — und ihre Filme. Ein tonal versöhnlicher Film; den hat Edgar Reitz als einen (vorläufigen) Abschluss seiner Filmografie auf jeden Fall auch verdient. Trotzdem eröffnen sich natürlich auch Fragen (die ich selbstkritischerweise angemerkt auch selbst nicht zu stellen vermochte), die im Film selbst ein bisschen zu kurz kommen. Welchen Stellenwert hatte weibliches Filmemachen dazumal und heute? Warum ist keine der Mädchen eine Regisseurin geworden? Wie steht Edgar Reitz zu der Filmlehre der Gegenwart usw.?

„Shambhala“ (Min Bahadur Bham, 2024): Die Berlinale stand natürlich schon immer für ein Kino, wie es „Shambhala“ fast archetypisch ist. Ethnographisches Weltkino, das progressive Fragestellung mit in abgelegene Gegenden des Globus nimmt. In diesem Fall ist es aber immerhin insofern andersherum, dass der sexualdispositive Blickwinkel tatsächlich ein genuin nepalesischer ist und es nicht um die Befriedigung westlicher Seh- und Moralvorstellungen geht. Die Hauptfigur Pema geht nämlich eine Poly-Ehe zu drei Brüdern ein, die nichts mit der westlich-liberalen Vorstellung freier Liebe, sondern mit demografischen Pragmatismus zu tun hat. Den zwischenmenschlichen Komplikationen gibt Regisseur Min Bahadur Bham sehr viel Raum zur Ausbreitung. In langen Einstellungen mit Laiendarstellerinnen vor postkartwürdigen Gebirgsmotiven ist „Shambhala“ ein geduldiger, sehenswerter Beitrag zum Weltkino.
„Black Tea“ (Abderrahmane Sissako, 2024): Ivorische Migranten, die es nach China zieht, die dort Tee verkaufen und Haare schneiden, vor allem aber mit den einheimischen Chinesen verkehren und Mandarin sprechen. Doch alles, was wir hier sehen, ist eigentlich ein Tagtraum, eine Fantasie. Eine verlobte Afrikanerin stellt sich das alles kurz vor ihrer Vermählung nur vor. Damit ist es natürlich auch die Fantasie des Kosmopoliten Abderrahmane Sissako, in seinem ersten Film seit fast zehn Jahren. Gleichwohl gibt es wohl tatsächlich bereits in Guangzhou, wo der Film angesiedelt ist, ein Stadtviertel, das nach der Hautfarbe seiner Bewohner „Chocolate City“ genannt wird. Durch das Drehen in Taiwan statt in China, aber auch durch die sehr stiefmütterliche Thematisierung von Problematiken wie Rassismus, soziale Isolation und wirtschaftliche Ausbeutung lässt „Black Tea“ einen dokumentarischen Kern vermissen, der die Handlung realistisch unterfüttert hätte. Was ist „Black Tea“ denn nun? Zustandsbeschreibung oder Utopie? Sissako setzt auf eine wong-kar-waische Somnambulität. Lässt stundenlang Afrikanerinnen und Chinesen auf Mandarin über dieses und jenes reden, frustiert erzählerisch durch Belanglosigkeit und Schwulst. Viel dringlicher bleibt schon jetzt die Frage, inwieweit sich „Black Tea“ als Ausdruck eines globalen Paradigmenwechsel hin zu einer multipolaren Welt, losgelöst von westlichen Perspektiven und Machtstrukturen funktional machen lässt. Wird man die Darstellung in „Black Tea“ in zehn, zwanzig Jahren irritiert als eine, die es so nie gegeben hat, zurückweisen oder wird der Traum dann schon längst Wirklichkeit sein? Im Interview habe ich mit ihm über die neue Rolle Afrikas und Chinas in der Welt gesprochen.
„Matt & Mara“ (Kazik Radwanski, 2024): Ich mag die Filme Kazik Radwanskis. Ihre Grundannahme besteht in einer bedingungslosen Nähe zu ihren Figuren, als Kamera-Apparatus und als Erzähler. Kleine Konflikte werden sehr groß, alltägliche Motive kommen zu ihrem Recht auf Leinwandpräsenz und recht normale Menschen in komplexen Lebenssituationen werden narrativ ausgebreitet, so auch in „Matt & Mara“. Im Grunde eine Gegenüberstellung zwischen einer intro- und einer extravertierten Person und ihrer Weise, sich romantisch auszudrücken. In einer wunderbaren Streitszene im Auto kommt die vollständige Komplexität dessen im Aneinandervorbeireden zum Vorschein.
„Who Do I Belong To“ (Meryam Joobeur, 2024): Auch das sieht man immer wieder: Dass Regisseure, die in westlichen Gesellschaften leben und aufgewachsen sind, in das Land ihrer ethnischen Herkunft zurückkehren, um die vermeintlich „eigene“ Geschichte erzählen zu wollen und denen man dann irgendwie einen gewissen sensationalistischen „Gaze“ anmerkt. So auch hier. Die Geschichte von Brüdern, die in den IS hineingezogen werden, ist überzogen von erzählerischem Kitsch, eine Zuckerpaste aus mythischen Traumzerrbildern und Effektmontagen und wird nie wirklich dem Thema gerecht. Filme dieser Art sieht man häufig im Panorama und da haben sie auch ihre Heimat. In keinster Weise rechtfertigt dieser Debütfilm das Vorvertrauen der Berlinale-Kuration, ihn im Wettbewerb der Berlinale zu zeigen.

„Republic“ (Jin Jiang, 2024): Eine Handvoll Chinesen hängen an einem Ort, namens „Republic“ ab, der im Prinzip ein Raum mit Hochbett, Musikanlage und jeder Menge Drogen ist. Das Besondere dieses Films besteht natürlich in dem, was der Film nicht zeigt, weil es das Äußere der „Republic“ ist: Die chinesische Gesellschaft und ihre restriktive Sozialpolitik. Die porträtierten Spätjugendlichen, die wir kiffen, vögeln, singen und, nunja, charmanten Bullshit reden sehen, sind innerhalb des gesellschaftlichen Systems der Volksrepublik China, die draußen vor der Tür liegt, natürlich subversive Kräfte, Asoziale und Systemfeinde. Aber der Film muss sich schon vorwerfen lassen, dass er aus diesem Gegensatz von Innen und Außen zu wenig Beispiele findet, die wirklich Kraft haben, Fragestellungen über Mensch und System evozieren können. Meistens wird dann doch nur vor sich hergequalmt und gebullshittet. „Republic“ heftet dann doch ein bisschen der Beigeschmack an, dass er das Gelaber seiner Republikbewohner einfach auch ein bisschen cool findet. Aber dass Stoner überall auf der Welt ein bisschen gleich sind, ist dann doch eine etwas dünne Erkenntnis für einen zweistündigen Film, der so klaustrophobisch und repetitiv geführt wird wie dieser.
„A Traveler’s Need“ (Hong Sang-Soo, 2024): Das Kino des Hong Sang-Soos ist längst seine eigene Nische geworden, die daraus besteht, einen günstigen Film mit wenigen Figuren, ein paar minimalen erzählischen Annahmen und einem (zugegebenermaßen) irgendwie interessanten, assoziationsanregenden Titel zu machen, ihn (mit freundlicher Beihilfe Carlo Chatrians) dann auf der Berlinale im Wettbewerb zu zeigen und die eingefleischte Fanschaft den Film dann auf jede kleinste Geste, jedwedes Abweichen vom „anderen Film“ absuchen zu lassen, die dann zwangsläufig fündig wird, und sich darauf einigt, dass das der beste Film des Wettbewerbs sei, wodurch Hong Sang-Soo dann am Ende einen Preis gewinnt und wieder Geld und Aufmerksamkeit hat, um weitere Filme dieser Art zu machen. Dabei will ich doch nur eins: Endlich wieder einen Film wie „Right Now, Wrong Then“.
„The Wrong Movie“ (Keren Cytter, 2024): Keren Cytter scheint irgendjemand zu sein, der in der Kunstwelt einen gewissen Stand hat. Anders kann man sich nicht erklären, warum ein Film im Forum läuft, der aussieht, als wäre er von Zwanzigjährigen Medienwissenschaftsstudenten auf billigen psychedelischen Drogen gedreht worden, die dazu wahrscheinlich noch irgendein Manifest geschrieben haben, warum psychologisch nachvollziehbares Schauspieltiming jetzt angeblich kapitalistisch, patriarchal oder aus irgendeinem anderen Grund unbedingt abzulehnen sei. Abfall.

„Verbrannte Erde“ (Thomas Arslan, 2024): Die Kamera taucht weite Teile der Bilder in das Schwarz der Nacht, in dem die größten Teile dieses Nachfolgers von Arslans vielleicht bestem Film „Im Schatten“, auch spielt. Ein Caspar-David-Friedrich soll aus einem Berliner Kunstmuseum gestohlen werden und doch ist dieser Heist nur der Anfang einer raffiniert gebauten Thriller-Architektur, in der das Vierergespann an Einbrechern um Mišel Matičevićs Trojan-Figur, auf einmal sowohl von der Polizei als auch der Unterwelt gejagt wird. Das große Problem an dieser trocken inszenierten Unterweltgeschichte ist, dass Arslan bereits mit beiden Augen auf den dritten Teil seiner Trojan-Reihe schielt und das Ende von „Verbrannte Erde“ in jeglicher Hinsicht unbefriedigend und implausibel daherkommt. Dieser Film traut sich keinen wirklichen erzählerischen Abschluss zu und ist dafür selbst noch bereit, die eigene Weltlogik, die er bis dahin so dicht aufgebaut hat, bei Seite zu schmeißen und im Fluchtauto verbrennen zu lassen.
„Des Teufels Bad“ (Veronika Franz & Severin Fiala, 2024): Es ist ja ein bisschen in Mode gekommen, die Kulturgeschichte der weiblichen Psychopathologie feministisch zu vereinnahmen, sie als unbedingtes Resultat seiner patriarchalen Umstände umzudeuten. Sei es bei historischen Persönlichkeiten wie der Sissi („Corsage“) oder dem frankensteinschen Gedankenspiel „Poor Things“. Die Hauptfigur Agnes in „Des Teufels Bad“, großartig gespielt von Anja Plaschg ist, — wie uns der Abspann erklärt — ein historisches Beispiel von vielen. Eine von Hunderten von Frauen nämlich, die, getrieben vom Wunsch, dem eigenen depressiven Leben ein Ende setzen zu wollen, ein Kind, zumeist einen Jungen, töteten und diesen Mord anschließend beichteten, somit die eigene Hinrichtung wählten. Warum? Nun, aus dem frommen Grund, dass der Selbstmord in der katholischen Rechtssprechung die größere Sünde als den Mord darstellt. Agnes ist also eine Frauenfigur, die ganz Teil des dargestellten soziopsychologischen Systems ist, ja, sogar gläubig ist. Keineswegs geht dieser Film in die Falle, eine unplausible gegenwärtige Annahme auf ein Vergangenheitssystem zu projizieren, wie es bei vielen schlechten Filmen zurzeit der Fall ist, vor allem, wenn sie dabei eine (queer)-feministische Agenda betreiben. Dabei ist „Des Teufels Bad“ ein unbedingt feministisch zu lesender Film. Denn auch wenn die Agnes-Figur wohl keine Begriffe hat, um sich ihrer patriarchalen Gefangenschaft sprachlich wirklich gewahr zu werden, ist doch ihr Impetus einer, der nach Freiheit strebt; der Freiheit, sich aus der (patriarchalen) Welt zu kürzen, die sie in die Depression gestürzt hat. Beeindruckend, wie das Regie-Duo dabei den mystischen Horrorfilm mitbedient, indem er eigentlich nur als audiovisuelle Atmosphäre produziert wird, während die Erzählung als solche die historische, dramatische (Auf)Richtigkeit dafür niemals ganz aufgeben will. Die Martin-Gschlacht-Bilder tauchen die Kinoleinwand in ein nebliges Ungemach einer Welt, in der alles im ewigen Kreislauf zu rennen scheint. Und doch: Der letzte Blick eines jungen Mädchens auf den Schafott erzählt uns subtil, wie die Geschichte weitergehen wird: Der Kindsmord wird zu einer nachahmenswerten, existenzialistische Geste, weil sie als Kraft verstanden wird, sich dieser (deprimierenden/patriarchalen) Welt zu entsagen.
„My Favourite Cake“ (Behtash Sanaeeha & Maryam Moghaddam, 2024): Als Publikums- und FIPRESCI-Liebling ist der neue Film des iranischen Regiepärchens Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam schon jetzt einer der überschätztesten Arbeiten des Jahres. Freilich: Die Geschichte ist charmant. Eine einsame Seniorin reißt sich in einem Restaurant einen ebenso einsamen Senioren auf und sie verbringen eine Nacht zusammen. Nebenbei verweist der Film noch mit dem einen oder anderen Augenzwinkern auf das politische System aus Denunziation und Unterdrückung. Wenn man diesen Charmebolzen eines Films aber auf seine dramaturgische Beschaffenheit untersucht und etwas nüchterner betrachtet, dann ist mit Ausnahme des Mittelteils, wo die situativeness der Zweisamkeit schön ausgespielt wird, alles und wirklich alles am Film ziemlich erwartbar und tv-film-artig geschrieben. Deswegen wird dieser Film auch genau dort hervorragend funktionieren: Erst im Programmkino, dann synchronisiert um 20:15 in der ARD. Ein Film für ein breites Publikum, nicht so sehr für einen A-Filmfestival-Wettbewerb.
„Dahomey“ (Mati Diop, 2024): Dass dieser Film den Goldenen Bären gewinnt, ist natürlich Frechheit und Bankrotterklärung eines klinisch toten Festivals, namentlich: der Berlinale, gleichermaßen. Ohne Jurypräsidentin Lupita Nyong’o zu nahe treten zu wollen, war bereits eine identitär-politische Entscheidung am Tag ihrer Präsidentsschaftserklärung zu erwarten und genau dieses Vorurteil hat sich jetzt auf tragische Weise bestätigt. „Dahomey“ ist ein grundsolides Film-Essay, zuweilen ein wenig identitätsmiefig (wenn eine afrikanische Filmemacherin meint, zu wissen, wie afrikanische Skulpturen denken würden), zuweilen interessant, wenn der bunte Diskurs um Rückführung afrikanischer Raubkunst aus verschiedenen Blickwinkeln bürgerlicher afrikanischer Menschen unkommentiert gezeigt wird. In jedem Fall ist das aber ein 67-minütiger Hausaufgabenfilm, der schon rein vom Format her nichts im Wettbewerb der Berlinale zu suchen hat, sondern im Grunde Material für eine Critic’s Week wäre. Dass die Berlinale dann mit ihrer Jurorinnenwahl zum wiederholten Male dazu führt, dass sich die Entscheider am Ende auf eine politische Dokumentation ohne weitere artistische Relevanz einigen müssen, ist ein Armutszeugnis eines Festivals, das am Abgrund steht und durch die (nicht öffentlich ausgeschriebene) Nachbesetzung einer durch Claudia Roths geführte Findungskommission durch die neue Leiterin Tricia Tuttle vermutlich in denselben problematischen Fahrwassern weiter Richtung Bedeutungslosigkeit segeln wird. Aber das ist eine andere Geschichte. Bis zum nächsten Mal. MfG.
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