Ethno-Crime-Western-Soziohistorienstudien-Mash-Up.
Originaltitel: Pájaros de verano
Alternativtitel: Birds of Passage — Das grüne Gold der Wayuu
Produktionsland: Kolumbien
Veröffentlichungsjahr: 2018
Regie: Ciro Guerra, Cristina Gallego
Drehbuch: Maria Camila Arias, Jacques Toulemonde Vidal
Produktion: Nicolás Celis, Sebastián Celis, Cristina Gallego, Eva Jakobsen, Mikkel Jersin, Katrin Pors, Sandino Saravia, Dan Wechsler, Jamal Zeinal Zade
Montage: Miguel Schverdfinger
Darsteller: Carmina Martíñez, Natalia Reyes, Jhon Narváez, Greider Meza, José Vicente, José Acosta, Juan Bautista Martínez, Miguel Viera, Sergio Coen, Aslenis Márquez, José Naider, Yanker Díaz
Laufzeit: 125 Minuten
Quelle: moviepilot.de
Birds of Passage spielt in den 1970ern in der Guajira-Wüste in Kolumbien. Hier wird eine einheimische Wayuu-Familien in den Drogenhandel verwickelt, als sie beginnt, Marihuana an junge US-Amerikaner zu verkaufen. Das Geschäft blüht auf und sie erlangen schnell Reichtum und Macht. Mit dem Profit müssen sie jedoch auch die gewaltsamen Nebenwirkungen des gefährlichen Geschäfts kennenlernen, als Gier, Leidenschaft und Ehrgefühl aufeinanderprallen und einen Krieg in den eigenen Reihen entfachen, der die eigene Kultur und Traditionen für immer zu zerstören droht.
Replik:
Ein Ritual. Zaida, eine Wayuu-Frau tanzt ähnlich wie ein weitschwingiger Vogel auf die anwesenden Männer zu, fordert ihre Standfestigkeit und Ausdauer heraus. Rapayet, einer der Männer, gewinnt schließlich dieses Ritual und damit ihre Hand. Und doch wird er von Zaidas Mutter, der Matriarchin Úrsula, abgelehnt. Sie gibt ihm eine horrende Brautgeldsforderung von dutzenden Ziegen und teurer Perlenketten auf, die ihm eigentlich unmöglich zu erfüllen ist.
Sie wäre unmöglich, bliebe „Birds Of Passage“ ein klassisches Ethno-Drama, das sich bis hierhin ankündigte. Rapayet wird aber losziehen und das Brautgeld mit Drogengeschäften verdienen. Geschäfte, die sich rasend schnell derart hochdimensionieren, sodass „Birds Of Passage“ genausogut auch als soziohistorische Analyse des kolumbianischen Drogenhandels durchgehen kann. Ebenso wie als großangelegtes Gangster-Epos — gewissermaßen als Vorgeschichte von Pablo Escobar und „Narcos“. Und das wahrlich Verrückte wie Meisterhafte an diesem Film ist, dass „Birds Of Passage“ dabei immer aus der Logik seiner ethnologischen Perspektive heraus arbeitet. Statt eines oktroyierten Genre-Mixes evolviert sich das eine „Genre“ organisch aus dem anderen, ohne sich jemals einander aufzugeben. „Birds Of Passage“ ist ein seltenes Meisterwerk und eines der ganz großen erzählerischen Würfe der letzten Kinojahre.
Ein wissenschaftlicher Spielfilm …
„Birds Of Passage“ taucht tief ein in die Kultur der Wayuu-Stämme, bis heute einer der zahlenmäßig stabilsten indigenen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas. Zwar ist der geduldige Beginn, der sich mit den Initiationsriten und dem Heiratsmarkt der Wayuu auseinandersetzt, noch etwas detailreicher in seinem ethnographischen Blick als die anderen vier der fünf Episoden des Films, dennoch bleiben die hier exponierten Traditionen und Verhaltenskodizes für die gesamte Resthandlung wesentlich. Wer aber glaubt, hier nun einen ethno-romantischen Blick auf das Friedlich-Primitive, auf das Edle-Wilde zu sehen, der täuscht. Es sind gerade die angelernten Kultureffekte (Traditionen, Selbst- und Ehrverständnisse etc.), die den Wayuu zum Verhängnis werden. Die katalysiert vom Kapitalismus, der hier mit ihrer indigenen Welt kollidiert, eine selbstzerstörerische Mischung bilden. Zum Beispiel dann, wenn es nach der Kultur der Wayuu einer Blutrache bedarf, sie aber aus strategischer Perspektive zu einem Fiasko (bzw. Krieg) führen würde. Oder wenn kapitalistische selbstakzelirierende Dynamiken der Besitzanhäufung und Machtsicherung-durch-Machtausweitung bereits in der eigenen Kultur vor- und eingeschrieben sind, somit der Kapitalismus hier eigentlich auf einen überraschend fruchtbaren Boden trifft. So zumindest das Zeugnis, das der Film den Wayuu ausstellt, ohne allerdings jemals das Schöne und Edle der Kultur außer Acht zu lassen. Tatsächlich gibt es auch immer wieder Momente, in denen der Film offen diese Kultur diskutiert und das immer aus der Perspektive der Wayuu selbst. Etwa dann, wenn Rapayet eine unorthodox vernunftgesteuerte Friedenspolitik versucht gegen seine eigene Familie durchzudrücken. Die Erzählung von „Birds Of Passage“ basiert auf gründlicher Recherche und einer daraus abgeleiteten Nachzeichnung der realen historischen Ereignisse. Trotzdem versucht der Film jedes Geschehnis aus dem Kleinen, aus der ethnokulturellen Logik heraus nachzuvollziehen und sie dem Zuschauer gleichzeitig sichtbar und nachvollziehbar zu machen. „Birds Of Passage“ gehört damit sicherlich zu den „wissenschaftlichsten“ Spielfilmen der letzten Jahre. Ohne, dass man das aber bemerken würde, solang man nicht darauf achtet.
… Und ein Mafia-Epos
Denn das zu 80% in Wayuu-Sprache geschriebene Drehbuch ist nicht nur eine wissenschaftliche Studie, sondern auch ein Figurenepos, der den Vergleich zu einem „The Godfather“ keineswegs scheuen muss. Die Komplexität, wie seine Figuren, ihre motivationalen Haltungen und Beziehungen mit- und gegeneinander verwoben sind, ist ungefähr mit dem Umfang einer gesamten Staffel einer gelungenen Drama-Series vergleichbar. Auch der dramatische Schlagabtausch der Geschehnisse, die ökonomische Erzählweise und der hohe Gewaltgrad sind Elemente, die so sicherlich auch in einer Netflix-Serie funktioniert hätten. Allerdings geschieht hier keine der zahlreichen Storywendungen aus einer plakativen Logik des größten dramatischen Effektes heraus, sondern bleibt immer einer historisch genauen Nachzeichnung ihrer jeweiligen Motivationen, die letzten Endes wieder auf ihren kulturellen Hintergrund verweisen. Jede Wendung ist ein logischer und konsequenter Response auf das zuvor Geschehene. Eine einzige Ausnahme ist vielleicht die Figur des Leonidas, dessen rabaukenhafte Bösartigkeit ein wenig das Feingefühl vermissen lässt, das den Autoren bei sonst jeder anderen Figur gelungen ist. Während ein vergleichbarer Film wie „Tanna“ von Bentley Dean eine gewollte Allegorie auf „Romeo & Juliet“ ist und die Darstellung der indigenen Bevölkerung nur der ethnographische Anstrich dessen ist, gibt es in „Birds Of Passage“ diese Ausuferung ins Gewaltopfernhafte nur deshalb, weil diese bereits im Moment eines unschuldigen Initiationsritual in dieser Kultur angelegt war. Und man nur einen Tropfen Kapitalismus darauf tröpfeln und ganz genau beobachten musste, was dann passiert. So transzendiert „Birds Of Passage“ alles, was man bislang unter Genrehybriden kannte und macht zuvor Nie-Gesehenes und Nicht-Gekanntes — selbst das für sich stehend Absurde — wahrhaftig.
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