Weder Pornofilm noch Porno-Film.
Originaltitel: Boogie Nights
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 1997
Regie: Paul Thomas Anderson
Drehbuch: Paul Thomas Anderson
Produktion: Paul Thomas Anderson
Kamera: Robert Elswit
Montage: Dylan Tichenor
Musik: Michael Penn
Darsteller: Mark Wahlberg, Burt Reynolds, Julianne Moore, William H. Macy, Heather Graham, Thomas Jane, Don Cheadle, Philip Seymour Hoffman, John C. Reilly, Luis Guzmán, Philip Baker Hall, Robert Ridgely, Nina Hartley, Robert Downey senior, Michael Penn, Alfred Molina, Michael Jace
Laufzeit: 149 Minuten
Der High-School-Abbrecher Eddie Adams (Mark Wahlberg) hält sich 1977 mit einem Job in einem Nachtclub über Wasser. Dort lernt er den Porno-Regisseur Jack Horner (Burt Reynolds) kennen, der ihn zum Star der Industrie machen will. Adams’ Qualifikation ist nicht nur sein junges und attraktives Äußeres, sondern auch ein ungewöhnlich großer Penis. Tatsächlich lässt der Erfolg nicht lange auf sich warten und unter seinem Pseudonym Dirk Diggler genießt der Akteur bald das sorgenfreie Leben der Disco- und Porno-Ära.
Doch der Erfolg dieser Boogie Nights ist nicht von Dauer: Adams fängt an, Kokain zu nehmen und hat mit Erektionsproblemen zu kämpfen. Auf einer Weihnachtsparty erschießt einer seiner Mitarbeiter die eigene Ehefrau und deren Liebhaber. Darüber hinaus schadet die Einführung von Videokassetten der gesamten Porno-Industrie. Anfang der 80er hat die Branche ihre besten Zeiten bereits hinter sich — und Dirk Diggler ebenso.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Man muss nicht wirklich darüber diskutieren, dass Paul Thomas Anderson ein brillanter Regisseur ist, der sich um das Weltkino schon mehr als einmal verdient gemacht hat. Nach seinem famosen Debüt-Film „Last Exit Reno“ („Sydney / Hard Eight“) brachte ihn bereits sein zweiter Film drei Oscar-Nominierungen und viele Stimmen ein, die von einem Meisterwerk sprachen. „Boogie Nights“, das prominente Zeitgemälde der Pornoindustrie im Übergang zwischen Kinoleinwand-70er und Videokassetten-80er, nicht gut zu finden, ist eine unpopular opinion. In meinen Augen scheitert dieser Film aber in den wirklich entscheidenen Punkten. Er ist ein ästhetisch nicht besonders konsequenter, in dem was er sagen möchte nicht besonders tiefgehender und eigentlich auch ziemlich konventionell strukturierter Film.
Vorbilderzitate
Mit einer Menge Schauspiel-Stars hat Paul Thomas Anderson mit „Boogie Nights“ einen Film über die Pornoindustrie in ihren Anfängen als Massenphänomen gedreht. Ein Film, dessen offenkundigste Qualität, die man ihm auch gar nicht groß in Abrede stellen will, es ist, einfach Spaß zu machen. Nur, es ist doch so, dass abgesehen vielleicht vom Kult-Markennamen „Dirk Diggler“ wenig an diesem Film gibt, das wirklich originär ist, wofür „Boogie Nights“, und nur „Boogie Nights“ stehen kann. Und die Einzelteile, aus denen der Film zusammengesetzt sind, entwickeln einen eher spärlich ausgeprägten roten Faden. Viel Scorsese ist drin; der erzählerische Modus eines großen Sitten- und Zeitgemäldes erinnert an die großen Geschichten des Italo-Amerikaners „Good Fellas“, „Casino“ und „Raging Bull„, der im Schlussshot auch direkt referenziert wird. Und auch Quentin Tarantino, dessen Filmkarriere etwa gleich alt ist wie die Paul Thomas Andersons, kommt hier immer wieder durch. Wobei der Tarantino-Einfluss in meinen Augen das größere Problem des Films ist. Während Scorsese brav zitiert, aber einfach nicht erreicht wird, wirkt das gestelzt „Coole“ in „Boogie Nights“ sogar dem entgegen, wofür Paul Thomas Anderson eigentlich steht.
Runterspulen von Beats
Bei „Last Exit Reno“ hatte man noch das dringliche Gefühl, wirklich im Geschehen dabei zu sein. Paul Thomas Anderson nahm seine weirde Geschichte und seine merkwürdigen Figuren ernst. Sie wurden cool und authentisch, weil sie so sein durften, wie sie sind. Das hat auch mit inszenatorischer Geduld zu tun. In „Last Exit Reno“ gibt es sehr lange Einstellungen und schauspielerische Ruhephasen. Der Film wird nicht Beat für Beat runtergespult („Beat“ = eine dramaturgische Bezeichnung für „Moment, in dem etwas Handlungstreibendes geschieht“), er hat ein Gefühl für Details, die nicht dramatisch, aber atmosphärisch nötig sind. Diese Stärken befinden sich auch in anderen Anderson-Filmen wie „There Will Be Blood“ oder „The Master“ wieder, auch wenn diese erheblich breitere Geschichten erzählen als „Last Exit Reno“.
„Boogie Nights“ wird die „größere“ Geschichte aber zum erzählerischen Verhängnis. Ein weiterer Knackpunkt, warum sich im zweiten Film von PTA für mich nicht so eine Mittendrin-Atmosphäre einstellt, ist, dass dieser Film sich anfühlt, als wollte ein junger Regisseur einen besonders coolen Draufgängerfilm machen. Einerseits zeigt sich das darin, dass sämtliche Figuren permanent coole Lines in den Mund gelegt bekommen. Andererseits in Genre-Flüchte wie (gar nicht so wenig vorhersehbare) Shootouts, die durch nicht wirklich aussagekräftige Subplots gerechtfertigt werden. Man möge mich aber nicht falsch verstehen: Es ist nicht so als sei die filmische Form von „Boogie Nights“ schlecht, ich halte sie lediglich nicht für gelungen genug, um sie als „gut“ zu bezeichnen und für PTA-Verhältnisse ist sie eben enttäuschend.
Kein Porno
Ein weiterer — und in meinen Augen nicht kleiner — Vorwurf, den sich der Film gefallen lassen muss, ist der einer ästhetischen Mutlosigkeit. Wir reden hier von einem Film, der von der Pornoindustrie handelt. Wieso ist dieser Film so prüde, in dem was er zeigt? Wieso sehen wir beinahe keine Geschlechtsteile? Wieso ist dieser Film nicht einmal auf dem pornografischen Level eines Softcore-Streifens? Ich empfinde diese Entscheidung einerseits als wenig rebellisch, kapitulativ vor Oscar-Habits, vielleicht sogar in einem kommerziellen Sinne feige. Und andererseits empfinde ich es als unauthentisch. Man kann natürlich einen Film über Pornografie machen, der nicht pornografisch ist. Dann muss man das Thema aber kreativ umschiffen und indirekt besprechen. Es gibt ja auch (Anti-)Kriegsfilme, die keine Schlachtfeldgewalt zeigen, weil sie die Schlachtfelder nicht zeigen. Aber jeder (Anti-)Kriegsfilm, der Schlachtfelder, aber keine angemessene Gewalt auf diesen zeigt, ist potenziell unauthentisch. So sehr wie „Boogie Nights“ mit seiner Nacktheit kokettiert, ist es ärgerlich, wie wenig nackt er wirklich ist. Und die Tatsache, dass wir im Final Shot das erste und einzige Mal einen Penis sehen, ist eine Alibi-Provokation. Eine Provokation, die ja eigentlich provozieren dürfte, weil sie angesichts seines Themas so provokativ ist wie eine rosa Krawatte in der Arbeitswelt. Hier wird eigentlich höchstens Aufmerksamkeit provoziert. Wohlwissend, damit nicht zu weit zu gehen. Eigentlich ist „Boogie Nights“ ein recht biederer Film.
Kein Film über Pornografie
Und nun kommen wir zu dem größten Schwachpunkt, den „Boogie Nights“ meines Erachtens hat: Er ist kein Film über Pornografie. Kein zufriedenstellender jedenfalls, kein ausreichender. Den Übergang zwischen florierender 70er-Pornokino-Pornografie, die sogar eine Art eigenen Feuilleton hatte und den billigen Video-Produktionen der 80er, ist interessant und wird hier vernünftig in eine Chronik der Ereignisse gefasst. Als solches ist der Film okay, wenn auch sehr simpel: 70er, alles voll geil. 80er, alles voll scheiße. Aber: „Boogie Nights“ sucht immer wieder die Möglichkeit, bestimmte Aussagen über die Pornografie zu treffen, die wenig mit der Haupthandlung zu tun haben und an der Oberfläche der Materie bleiben, weil sie stichpunktartig Standpunkte runterzubeten scheinen. Zum Beispiel: Pornografie ist ein gesellschaftlich wenig anerkannter Beruf. Amber (Julianne Moore) bekommt das Sorgerecht ihres Kinds nicht, Buck (Don Cheadle) kein Geld von der Bank. Okay. Und dann der obligatorische Punkt mit der Kinderpornografie: Einer der Figuren wird mit solchem Material erwischt, nachdem er auch beinahe Sex mit einer Fünfzehnjährigen hatte. Dafür wird er von der Filmfigur Jack Horner mit Verachtung gestraft und komplett aus dem Film genommen. Wir erfahren nur noch später, dass er im Gefängnis oft verprügelt wurde und sollen tendenziell eher empathisch auf der Seite der Gewaltanwender stehen. Aber dass der Film an dieser Stelle eine Gleichheit von Kinder- und Jugenderotik suggeriert, ist gleichermaßen unpräzise wie problematisch. Diese Subplots dienen einzig und allein, „Boogie Nights“ als eine vielseitige Betrachtung des Pornografie-Mediums darzustellen, was der Film aber mangels Tiefgang tatsächlich niemals wirklich ist.
„That’s entertainment“
Statt Dingen, die wir eh schon wissen, hätte „Boogie Nights“, eine auch in dieser produktionstechnisch wahrscheinlich beispiellose Bearbeitung des Themas Pornografie im Spielfilm, uns symbolisch-paraphrasierend über Pornografie referieren können. Er hätte über den Wert der Nacktheit philosophieren können. In keinem anderen Beruf ist Nacktheit doch gleichzeitig so maßgeblicher Teil der Arbeit wie gleichzeitig auch für eine Masse einsehbar. Hier ist Nacktheit doch also z.B. entgegen der Prostitution, die immer in einem gesetzten Rahmen stattfindet, doch eine wirkliche Nacktheit, eine extremisierte Form von Nacktheit. Ich meine, ein Film, der ein ungewohnt hohes Budget für so ein schwieriges Thema hat, trägt eine ganz andere Verantwortung dem Thema auch inhaltlich gerecht zu werden und auf präzise Weise diskursive Fragen aufzuwerfen. „Boogie Nights“ geht es zu sehr darum, auf überhöhte Weise ein Lebensgefühl der 80er-Jahre darzustellen, was für sich stehend nicht schlecht ist, aber — um es mit den Worten von „Raging Bull“ zu sagen, den der Film hier noch etwas zu fanboyartig zitiert — „That’s entertainment„, „That’s just entertainment.“
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