Alternative Wirklichkeiten und Migrationserfahrung.
Originaltitel: Everything Everywhere All At Once
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 2022
Regie: Dan Kwan & Daniel Scheinert
Drehbuch: Dan Kwan & Daniel Scheinert
Bildgestaltung: Larkin Seipl
Produktion: Dan Kwan, Mike Larocca, Anthony Russo, Joe Russo, Daniel Scheinert, Jonathan Wang
Montage: Paul Rogers
Darsteller: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, James Hong, Stephanie Hsu, Harry Shum Jr., Jamie Lee Curtis, Tallie Medel u.A.
Laufzeit: 139 Minuten
Eine alternde chinesische Einwanderin wird in ein verrücktes Abenteuer hineingezogen, in dem sie allein die Welt retten kann, indem sie andere Universen erkundet, die mit den Leben verbunden sind, die sie hätte führen können.
Quelle: imdb.com
Replik:
Dass „Everything Everywhere All At Once“ von den daniels, also dem Regieduo Daniel Schreinert und Daniel Kwan, dermaßen reüssiert (auf letterboxd rangiert er gerade in der Liste der 250 besten Spielfilme aller Zeiten auf Platz 13), darf insofern nicht verwundern, dass es ihm gelingt, gleich eine Handvoll Zeitgeistphänomene in einer einfach konsumierbaren Genre-Idee zu allegorisieren. Im Film geht es um eine chinesische Einwanderfamilie, speziell um Evelyn, die Mutter und Betreiberin eines Waschsalons, sowie ihr Verhältnis zu ihrer linksliberalen, queeren Tochter Joy, die mit so manch einer Traditionslinie der chinesischen Kultur bricht. Das Besondere ist, dass Evelyn in der Lage ist, in einer Vielzahl von Paralleluniversen herumzuspringen, die allesamt (mal mehr oder weniger) minimale Abwandelungen der „echten Welt“ sind. So gut wie die Allegorie an sich sein mag (dazu mehr unten), darf jedoch bezweifelt werden, dass „Everything Everywhere All At Once“ ein Film mit einer besonders nachhaltigen Rezeptionsgeschichte sein wird. Denn die für sich stehend raffinierte Metaphorik wird bei genauerem Hinsehen während der 130 Minuten kaum durchvariiert, sondern mit viel Pengboombäm, bunten Kostümen und einem nicht enden wollenden Attraktions- und Zitatgewitter übertüncht.
Doppel-Allegorie der gegenseitigen Entfremdung
Expositionell ist „Everything Everywhere All At Once“ sogar ein bisschen ungelenk. So richtig warm ist man mit noch keiner der Figuren geworden, noch nicht einmal mit der Hauptfigur, da wird man schon mit der multiversalen Mehrfach-Realität konfrontiert, ohne sie wirklich verstehen zu können. Dabei ist das Realitätssystem, auf das sich die daniels hier stützen, nicht einmal wirklich komplex. Im Gegensatz zu Chris Nolan oder Brandon Cronenberg in „Possessor“ geht es den Regisseuren kaum darum, die diegetische Welt in all seinen Eventualitäten und meta-physikalischen Eigenheiten wirklich ernstzunehmen. Meistens reicht für einen „Verse-Jump“ irgendeine random gestellte Aufgabe, z.B. besonders „weird“ sein zu müssen. Natürlich ist „Everything Everywhere All At Once“ eine Komödie, eine Genre-Farce, aber die plumpe Einfachheit seiner Mechanik ordnet den nicht enden wollenden Szenenschwall nie nach einer spannenden Intra-Logik (siehe: weiter unten), sondern einzig nach einem jahrmarkthaften Attraktionsprinzip. Es geht beim besonderen Hinsehen nur darum, besonders viele Kostüme, Make-Ups und „weirde“ Situationen aneinanderzuketten und besonders viele verschiedene Filmreferenzen (u.A. „2001 — A Space Odyssey“, „Guardians Of The Galaxy“, „Chungking Express“, „In The Mood For Love“, etliche Wuxia-Filme usw. usf.) unterzubringen.
Was der Film genuin-erzählerisch anbietet, könnte man (genau so!) in einem 30-minütigen Kurzfilm erzählen. Das erzählerische Zentrum ist natürlich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter und deren Entfremdung voneinander, die sich buchstäblich wie das Driften zweier Parallelwelten anfühlt. Das ist natürlich ein großer zeitgeistiger Topos, denn sowohl für den durchschnittlichen Mittelschichtsstudenten im Allgemeinen, als auch für die Migrantentochter im Speziellen, ist die Wahrnehmung in einer vollständig anderen Welt zu leben und leben zu wollen wie die Elterngeneration ein wesentliches Erfahrungselement. Dieses im gegenwärtigen Kino häufig besungene Thema schafft es „Everything Everywhere All At Once“ vielleicht erstmals in Form einer Genre-Erzählung zu vermitteln. Damit nicht genug, ist die Allegorie gleich doppelt-funktional. Denn einerseits stellt sie die Lebensrealität der Mutter, die in ihrer unbezahlten Arbeiterrolle alles immer gleichzeitig tun muss (siehe: Titel) in den verschiedenen Multiversen gut dar. Andererseits wird dadurch auch der Aspekt einer kulturellen Entfremdung gut allegorisiert, die die Mutter in der queeren Tochter wahrnimmt. In der Tat: Joys krasser (und angesichts der Leistung der Elterngeneration so häufig als undankbar wahrgenommene) Bruch mit der chinesischen Traditionslinie, muss sich für die Mutter buchstäblich so anfühlen, als wäre sie von einem bösen (genderqueeren) Paralleluniversum entführt und gebrainwasht worden. Damit leistet der Film tatsächlich auch eine allgemeine Allegorisierung von weiteren zeitgeistigen Phänomenen wie dem Leben in „alternativen Wahrheiten“ und Verschwörungsmythen. Während die Mutter in den Paralleluniversen immer dieselbe Person bleibt (wie eine Erste-Generation-Migrantin verschiedene Rollen und Kulturtypen eher spielt, statt sie zu sein), figurieren die abgefahrenen Kostüme der Joy-Figur eine (berechtige!) Angst der Mutter, die Assmiliation in die liberale Umwelt könnte bereits etwas von Joys „chinesischer Essenz“ verschlungen haben. Auch das ist eine sehr treffliche Beobachtung.
You are fat but not substantial
Das Problem ist, dass diese raffinierte Allegorie ab spätestens einer Stunden vom Publikum verstanden wurde und ab diesem Zeitpunkt keine Variation, keine nennenswerte intellektuelle oder emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema mehr erfolgt. Das Ende des Films, in dem sich Mutter und Tochter aussprechen und versöhnen (bzw. vertöchtern) ist so folgerichtig, dass es überhaupt nicht überrascht. Was dem Film gebricht, ist einen Einblick in das tatsächliche, echt-weltliche Zusammenleben der chinesischen Familie, in Alltagsmomente und zwischenmenschliche Abgründe, denn als der Film beginnt, in alle möglichen Paralleluniversen zu metastasieren und mit fliegenden Fäusten zu tapezieren, haben wir die Figuren noch gar nicht kennengelernt. Und das wird auch nicht überzeugend nachgeliefert, bis zum Ende bleiben die Figuren im besten Fall Projektionsflächen, im schlechtesten Fall Pappkameradinnen. Mehr Einblicke in das tatsächliche Verhältnis zwischen Mutter und Tochter (das über „you are fat„) hinausgeht, hätte dem ganzen Paralleluniversumzirkus dabei geholfen, als Oberfläche zu dienen, in denen man nach Hinweisen auf die „reale“ Mutter-Tochter-Beziehung finden kann, auf der sich spezifische Geschehnisse widerspiegeln. Aber die gesamte Attraktionshandlung aus Kämpfen und „Weirdness“, die sicher 80-90 Minuten des Films ausmachen, lassen sich auf Gemeinplätze wie die Homosexualität der Tochter oder dass sie sich hat tätowieren lassen, herunterbrechen. Damit bleibt „Everything Everywhere All At Once“ weit hinter den Möglichkeiten des eigenen unzuverlässigen Erzählens zurück. Man findet zwischen den Zeilen (bzw. den Kampfszenen) zunächst eine raffinierte Doppelmetapher, dann aber stundenlang relativ wenig.
69%
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