Vergänglichkeit der Normen. Inzest und Abtreibung.
Originaltitel: Ilegitim
Alternativtitel: Illegitim
Produktionsland: Rumänien
Veröffentlichungsjahr: 2016
Regie: Adrian Sitaru
Drehbuch: Adrian Sitaru, Alina Grigore
Produktion: Anamaria Antoci
Kamera: Adrian Silisteanu, Alexandru Timosca
Montage: Theo Lichtenberger, Mircea Olteanu
Darsteller: Alina Grigore, Adrian Titieni, Robi Urs, Bogdan Albulescu, Miruna Butanche, Iulia Stan, Liviu Vizitiu, Mihaela Perianu, Cristina Olteanu, Ayrton P. Bryan, Adrian Iacov, Anastasia Passerotti
Laufzeit: 85 Minuten
Das rumänische Drama Ilegitim dreht sich um eine Familie, in der nie jemand eine Grenze zwischen Richtig und Falsch gezogen hat – egal ob es um die Beziehung zwischen Geschwistern, die Verantwortung von Ärzten oder um Abtreibungen geht.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Am Anfang des Films sinniert der Familienvater Victor über die Zeit und ihre Macht alles zu verändern. Über Vergänglichkeit. Dann wird er mit Vorwürfen konfrontiert, er habe in der Ära unter Ceaușescu schwangere Frauen für ihre Abtreibungsambitionen denunziert. Wer jetzt — wie ich 2016 auf der Berlinale — ein Geschichtsdrama erwartet, dass die Aufarbeitung der Ceaușescu-Verbrechen verhandelt wie so viele Filme des neuen rumänischen Kinos, der wird von „Ilegitim“ auf eine falsche Fährte geführt. Eigentlich geht es in dem neuen Film von Adrian Sitaru um einen Inzest-Fall zwischen zwei Zwillingen, die ungeplant miteinander schwanger werden. Den Zusammenhang zu Ceaușescu und dem philosophischen Überbau der Vergänglichkeit ist aber nichtsdestotrotz sehr geschickt gewählt, denn „Ilegitim“ erweist sich im Allgemeinen als eine großartige Parabel auf die Endlichkeit gesellschaftlicher Normen.
Im Ethik-Diskurs
„Ilegitim“ wirft den Zuschauer ziemlich unsanft ins Geschehen. Am Essenstisch der Familie Anghelescu wird über die Schuld des Vaters diskutiert, ob er Denunziant im Abtreibungsverbot für den Tod von Frauen verantwortlich ist, die sich dem Gesundheitsrisiko einer semiprofessionellen, illegalen Abtreibung herzugeben (siehe: „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage„) oder aber, ob er im Gegenzug nicht sogar Leben rettete. Dass der Babys nämlich. Das Tischgespräch zieht in den Bann, weil es logisch argumentiert von beiden Seiten geführt wird. Und auch, wenn man mit heutigen Werten aufgewachsen, eher mit der liberalen Pro-Abtreibungs-Meinung der erwachsenen Anghelescu-Kinder sympathisiert, kann einem der Vater doch leidtun, wie seine Werte, die er im kommunistischen Rumänien seiner Jugend gelernt hat, auf einmal nichts mehr wert sein sollen und ihn im Gegenteil sogar schuldig machen sollen. Das Tischgespräch baut nicht nur einen thematischen Rahmen der Vergänglichkeit von Werten auf, es ist auch eine gelungene Exposition. Jede Figur am Tisch der wirklich sehr großen und insgesamt fünf Kinder umfassenden Anghelescu-Familie wird hier mit seiner jeweiligen Mentalität ins Spiel gebracht.
Ein schauspielerisches Perpetuum Mobile
Ziemlich nebensächlich erzählt der Film jetzt das, worauf er sich mit dem Poster und seiner Vermarktung idiotischerweise selbst reduziert. Romeo und Sasha, die Zwillinge und Jüngsten der Familie Anghelescu lieben sich und schlafen miteinander. Das alles wird ziemlich unaufgeregt gezeigt. Als Sasha dann aber sogar von ihm schwanger wird, kann sie das Geheimnis nicht mehr verbergen und der Film wird aufgeregter und fiebriger. Hier sticht wie ein Ass im Ärmel die filmische Form, die Sitaru für seinen Film gewählt hat. „Ilegitim“ wurde am Set improvisiert und nach und nach durch das Schauspiel weitergesponnen. Das bedeutet auch, dass es für jede Einstellung/Szene auch nur einen Take gab, weil aufbauend auf der vorherigen Szene, die Handlung weiterentwickelt wurde und eine Schauspiel-Variation gleich grundlegende Dinge in der Makro-Narration verändert hätte. Der atemberaubende Effekt von „Ilegitim“ ist nun, dass das Schauspiel sich selbst und seine Handlung erlebt und damit maßgeblich trägt. „Ilegitim“ wird zu einem schauspielerischen Perpetuum Mobile. Wie der russische Theater-Theoretiker und naturalistischer Schauspiel-Pionier Konstantin Sergejewitsch Stanislawski es beschreiben würde: Die Schauspieler „erleben“ die Handlung, anstatt sie mit Schauspiel-Handwerk lediglich zu „illustrieren“. Tatsächlich ist „Ilegitim“ zusammen mit Sebastian Schippers „Victoria“ wohl radikalste Form von Stanislawskischer Schauspiel-Theorie, die mir bisher untergekommen ist.
Symbolischer Realismus
Anders als etwa in seinem Film „Domestic“ von 2012 setzt Sitaru in „Ilegitim“ auf eine bewegte, dynamische Handkamera. Dieser gebührt großer Respekt, da sie aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Schauspieler-Handlungen ebenso zum improvisierenden Akteur wird wie die kongenialen Schauspieler, unter den allen voran Alina Grigore als Sasha mit brutal nuancenreicher Mimik brilliert. Nur in wenigen spielerischen Details bringt Sitaru ein wenig Symbolismus in seine auf Realismus pur getrimmte Filmerzählung. So zum Beispiel die Namenswahl von Romeo als shakespearescher Verweis auf verbotene Liebe und Übertretung gesellschaftlicher Grenzen. Noch subtiler etwa der Einsatz von leisen Polizeisirenen auf der Ton-Spur als es auf offener Straße zu einer inzestuösen Kuss-Einlage zwischen Romeo und Sasha kommt, auf dessen Bedeutung nicht weiter eingegangen werden muss.
Revolutionäre Sexualmoral
„Ilegitim“ ist vor allem ein Film, der von seiner Mittendrin-Atmosphäre lebt. Durchaus vergleichbar mit Sebastian Schippers Meisterstück „Victoria“ beweist Sitarus Film, dass eine schwierige Handlung, fernab der durchschnittlichen Zuschauer-Welt, einzig durch das schauspielerische Erzeugen von wahrhaftiger Leinwand-Realität, funktionieren kann. Aber es ist eben nicht nur das. Bei „Ilegitim“ liegen Form und Inhalt, wie bei jedem gutem Film, in einem wechselwirkenden Zusammenspiel. Und „Ilegitim“ ist eben nicht nur handwerklich ein mutiger Akt, sondern auch in seiner intentionalen Stoßrichtung. Noch nie gab es meines Wissens eine Gesellschaft, die auf gesetzlich-politischer Ebene eine Eheschließung samt Recht auf eigene Kinder für Geschwister durchgesetzt hat. Im aktuellen Diskurs geht der Trend (zumindest in der „linken“ Politik) zur Untergewichtung der biologisch gesunden Familie hin zur sexuellen Selbstbestimmung, aber eine vollständige Entkriminalisierung ist noch lange nicht in Sicht. „Ilegitim“ fordert ziemlich deutlich und nachdrücklich eine solche Entkriminalisierung. Zumindest in dem Falle einer solch geschilderteren Familiensituation zweier erwachsener einvernehmlicher Sexualpartner. Auf dem Weg dieser normativ revolutionären Läuterung wurde man als Zuschauer affektiv wie intellektuell gefordert. Nicht immer bleibt der Film gleichermaßen im Flow, aber diese kleinen Schwächen verzeiht man diesem kleinen Meisterwerk gerne. Seems legit.
87%
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