Kurzeindrücke von der dreiundsiebzigsten Berlinale, deren Besuch meinerseits ebenso kurz und unvollständig gewesen ist.
„Regardless Of Us“ (Yoo Heong-jun, 2023): Ein Neo-Hongsang-Soo, gewissermaßen. Handwerklich trocken, verkopft, mit einer aufregenden erzählarchitektonischen Grundprämisse, die aber nie wirklich sinnlichen Raum gewinnt, immer zu sehr Idee bleibt.
„The Burdened“ (Amr Gamal, 2023): Der Debütfilm Amr Gamal behandelt das Thema ungewollte Schwangerschaft und Abtreibung im konservativen Jemen. Das Besondere: Der Film ist keine Koproduktion mit westlichen Geldgeberländern (ja, das ist etwas Besonderes!). Man merkt dem Film das positiv an, denn er behandelt das Thema unaufgeregt und erörterisch aus verschiedenen Perspektiven und ohne, dass der Film in überdramatisierte Schwarz-Weiß-Schablonisierungen abrutschen würde, wie man es häufig dann sieht, wenn europäische Produktionspartner am Drehbuch mitschreiben wollen.
„The Temple Woods Gang“ (Rabah Ameur-Zaïmeche, 2023): In einer sachlich-kalten, sozialwissenschaftlichen Bildästhetik erzählt der Film einen Thriller-Plot mit beachtlich direkten und wütenden sozialpolitischen Implikationen. Dabei bleibt Rabah Ameur-Zaïmeche aber gleichzeitig einer präzisen Klassendarstellung als auch einem humanistischen Weltbild schuldig. Der Feind ist hier das ausländische Großkapital, figuriert anhand eines etwas karikatureskem arabischen Prinzen, den man erst ausrauben darf und später in einer lächerlich daher fabulierten Finalwendung auch gleich ermorden darf. Alles, was an „The Temple Woods Gang“ beeindruckt — die Verheiratung einer bressonschen Modell-Ästhetik und dem Thriller-Genre z.B. — macht der Film durch seine Menschenverachtung zunichte.
„Drifter“ (Hannes Hirsch, 2023): Jemand im Publikum mahnte zurecht an, dass die Transformation des frisch nach Berlin gezogenen Moritz nie hinterfragt wird. Als ein unmodischer, ein bisschen uncooler und treudoofer Homosexueller kommt er nach Berlin und entwickelt sich dann rasant (und extrem überzeugend geschauspielt!) zu einem muskulösen, tätowierten und Drogen verzehrenden Berliner Queer. Ebenso zurecht antwortet aber auch das Filmteam im Q&A, dass wir dieser Sinnessuche auch völlig neutral zusehen können und der Film dann trotzdem funktioniert. Tatsächlich ist „Drifter“ ein toller Film über eine stetige Sinnessuche, die nie aufhört. Klug geschriebene Szenen und stark gecastete Figuren zeitigen ein authentisches Bild einer Berliner Szene, deren Sog man nachvollziehen kann, selbst, wenn er einem selbst nicht vollends sympathisch sein mag.
„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ (Emily Atef, 2023): In einer glühend-gelblichen Sommerwelt in Brandenburg erzählt Emily Atef hier tatsächlich als Romanze keineswegs besonders überzeugend die Geschichte einer Liebschaft, aber darum geht es vielleicht auch gar nicht so sehr. Akzentuiert wird die (weibliche) Lust und erotische Kraft des Autoritären. Zwischen wunderbar mundartgerechten Zeitkoloritszenen, die einem die Zäsur des Systemendes der DDR psychosozial nachvollziehbar macht, findet hier immer wieder heißer heißer Sex statt, den man selten so sinnlich und eigensinnig inszeniert gesehen hat. Zwischen zwei Männern steht die Hauptfigur Maria: einem Jüngling mit Träumen der (geeint-deutschen) Zukunft und einem 40-jährigen Pferdezüchter, der so sehr Sinnbild des untergegangenen Systems der DDR ist, dass er sogar buchstäblich wie ein Arbeiter auf sozialistischen Propagandaplakaten aussieht. Will man das Stockholmsyndrom einiger Ostalgiker gegenüber autoritären politischen Kräften verstehen, ich behaupte, man kann von dem female gaze dieses Filmes sehr viel daraus herleiten.
„The Shadowless Tower“ (Zhang Lu, 2023): Zugegeben, ich habe diesen Film gar nicht zu Ende gesehen (es fehlten noch ca. 20 seiner 144 Minuten), aber alles schien auf ein Ende hinauszulaufen, das ärgerlich und albern und eben sehr lange vorhersehbar gewesen wäre. (Ich werde den Film irgendwann pflichtbewusst zu Ende schauen und dann gegebenenfalls mein Urteil redigieren). Das ist aber auch alles gar nicht so sehr der Punkt. The Shadowless Tower“ sieht kinematografisch toll und wie ein Vermählung von Filmen Hong Sang-Soos und Wang Xiaoshuais aus, seine Figuren sind aber zu konstruiert und sein Humor ist viel zu auf Pointe geschrieben und auch viel zu brav, um über seine Gesamtlänge wirklich zu befriedigen.
„Im toten Winkel“ (Ayşe Polat, 2023): Verschiedene Kameraperspektiven und Bildtypen erzeugen zunächst im ersten Drittel einen großen Raum des Mitdenkens, welches Spiel hier gespielt. Mit der Hereinnahme der Kinderfigur Melek, die im weiteren so eine Art muslimisch-türkische Regan Teresa MacNeil darstellt, macht sich Ayşe Polats Film aber in rasender Geschwindigkeit alles zunichte, was am Film bislang funktionierte. Alle Fragen und Zwischentöne verlieren sich in Kitsch und Lächerlichkeit.
„Delegation“ (Asaf Saban, 2023): Wer es noch nicht gewusst hat, der wird sich zumindest nicht wundern, dass israelistische Schulklassen mindestens einmal eine obligatorische Klassenfahrt nach Polen unternehmen, um dort die musealen Überbleibsel der Vernichtungslager zu besuchen. Ein solcher Trip hat natürlich einerseits eine politische und erinnerungsethische Implikation, andererseits ist er natürlich, nunja, eben eine Klassenfahrt. Dieses Nebeneinander der großen historischen Trauer und den herkömmlichen Emotionen des Jungseins bildet „Delegation“ hervorragend ab und findet darüber hinaus sogar spannende Parallelen. Hier geht es darum, dass Dinge, über die man schon viel gehört hat, sich am Ende vielleicht doch anders anfühlen, als gedacht. Gefühle können komplex sein; situativ, flüchtig, überwältigend. Ungewöhnlich komplizierte Empfindungen seines großartigen jugendlichen Ménage-à-trois schafft es Regisseur Asaf Saban nachvollziehbar und -fühlbar zu machen.
„Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023): Manche sagen, das ist nicht Kino, sondern Musikvideo. Und wenn schon! Zweifellos bedient sich der aus dem Dokumentarfilm stammende Abbruzzese in seinem Spielfilmdebüt in Kamera, Schnitt und erzählerischer stichwort- und ausschnitsartigen Rhythmik Stilmittel des Musikvideos, die er zudem dann noch mit einem wummernden Electronica-Score unterlegt. Umso beeindruckender, dass diese Tour de Force, diese postmoderne Joseph-Conrad-Adaption, als erzählerisches Wagnis funktioniert. Franz Rogowski als Weißrusse, der sich der französischen Fremdenlegion anschließt, ist ein wandelndes Mysterium, eine Leerstelle, irgendwas zwischen Subjekt und Projektionsfläche. Wir wissen nicht so richtig, wer er ist, woher er kommt und wohin er will. Umso weiter die Handlung vorantreibt, desto mehr verschwimmt all das zu einer psychoanalytisch-mythischen Tanzeinlage. Rogowskis Figur verschwimmt mit seinem Antagonisten, einem afrikanischen Freiheitskämpfer, zu einer außer-figurativen Erscheinung, so etwas wie dem Destillat des Leids der Verdammten dieser Erde. Jetzt schon einer der besten Filme des Jahres.
„Past Lives“ (Celine Song, 2023): Schon jetzt ein heißer Kandidat für die Oscar-Season und diverse Bestenlisten, denn gegen „Past Lives“ kann man tatsächlich fast nichts einwenden. Ein brillant geschriebenes Beziehungsdrama, unaufgeregt, erwachsen und mit vereinzelten, dafür umso effektiveren erzählerischen Spielereien und Gesten. Celine Song zeichnet drei völlig verschiedene Figuren, verortet sie mit einer Prise Humor in einem Koordinatensystem der kulturellen Liebessemantiken (koreanisch, amerikanisch und migra-amerikanisch) und spielt diese nur miteinander und nie gegeneinander aus. Die Endszene wäre aber ohne Zwischenschnitte stärker ( bzw. meisterhaft) gewesen.
„Do You Love Me?“ (Tonya Noyabrova, 2023): Vieles ist hier interessant, vibrierend und echt, bleibt aber als erzählerisches Modell weitestgehend fruchtlos. Wie so oft im postsowjetischen Film ist hier handwerklich alles da, insbesondere eine famose Schauspielerin, die in ihrem Auftreten, ebenso wie im Dauerwandel von Frisuren und Make-Up die Desorientierung und das Gefühlschaos des ukrainischen Unabhängigkeitserklärungsjahr 1991 gut zur Geltung bringt. Was fehlt ist eine Geschichte als roter Faden oder zumindest ein (motivischer) roter Faden als Geschichtsersatz.
„There Is A Stone“ (Tatsunari Ota, 2023): Kaum Erwartungen hatte ich an diesen Film, der einem im Programmheft schon maximal trocken als ein Dauerdialog über Steine zwischen zwei Menschen an einem Flussbett erklärt wurde. Umso überraschter war ich von der großen Sinnlichkeit dieses filmischen Experiments. Klar, man kann das ultraprätentiös finden, wenn eine junge Frau einen merkwürdigen Fremden am Fluss trifft und beide fast zwei Stunden lang zusammen mit Steinen spielen, aber das Besondere hier ist, dass Tatsunari Ota diese Situation sowohl haptisch-materiell als auch inter-sozial so ernst wie irgendmöglich nimmt. Da spielen also zwei erwachsene Menschen mit Steinen, werfen sie und stapeln sie, und in der schieren Ausführlichkeit und Detailverliebtheit dieser Situation weckt der Film eine Art frühkindliche (unterdrückte) Lust am Herumtollen in der Natur im Zuschauer. Eine Lust, die bei der Protagonistin auch unterdrückt gewesen sein mag, der sie sich einen Nachmittag lang hergibt. Eine Lust, die bei dem merkwürdigem Fremden ihr gegenüber wohl nicht unterdrückt ist, frei ausgelebt wird und ihn eben dadurch zu einem Randständigem der Gesellschaft macht. Nie erfahren wir wirklich etwas Genaueres, wer die beiden Figuren genau sind, aber durch die Anteilnahme des Steinspiels bekommen wir eine konzise Ahnung. Es mag sein, dass dieser Film für ein westliches Publikum schlechter funktioniert, weil wir stärkere Vorbehalte gegenüber einer solchen Erwachsenenfigur haben, die sich in ihrer hilflosen Annäherung an die junge Frau am Rande zur Übergriffigkeit verhält. „There Is A Stone“ hält das aber aus, geht dem auf den Grund, auf eine unorthodox taktile Weise. Geduldig, ja, aber wer genau hineinspürt, merkt, dass der Takt des Films gar nicht unnötig überdehnt, sondern in Wahrheit etwas Spielfreudiges, völlig im Bann der „Natur“ (ein Flussbett mit Geröll) verlorenes hat.
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