Sekten-Faschisten vs. Perverse und in der Mitte: Die Liebe.
Originaltitel: 愛のむきだし (Ai no Mukidashi)
Produktionsland: Japan
Veröffentlichungsjahr: 2008
Regie: Shion Sono
Drehbuch: Shion Sono
Kamera: Sohei Tanikawa
Montage: Junichi Ito
Musik: Tomohide Harada
Darsteller: Takahiro Nishijima, Hikari Mitsushima, Sakura Ando, Makiko Watanabe, Atsuro Watabe u.A.
Laufzeit: 237 Minuten
Yu ist ein braver Schüler, der von seinem Priester-Vater täglich zur Beichte gezwungen wird. Doch ohne Sünde gibt es keine Beichte, also wird der harmlose Yu zum genialen Upskirt-Fotografen. Auf einem seiner voyeuristischen Streifzüge trifft er auf seine große Liebe Yoko. Sie kennt ihn aber nur als “Lady Scorpion” in Frauengestalt und ist dazu noch die Tochter der neuen Liebe seines Vaters. Als die Zero-Church-Sekte seine gesamte Familie kidnappt, beginnt für Yu der große Kampf um seine Liebe.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
Vielleicht ist das der einzig wahre Film über die Liebe. „Love Exposure“, die Entblößung der Liebe. Ein schier unbeschreibliches filmisches Erlebnis. Shion Sonos Opus Magnum ist nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern ein opernhafte Abhandlung über die Liebe, die alle Facetten dieser zwischenmenschlichen Empfindung ausbuchstabiert und zu einem großen, aufregendem Kunstwerk moderner japanischer Filmästhetik verdichtet. Einer der Meilensteine der japanischen Filmgeschichte.
What is love?
Was ist Liebe? Zunächst das stärkste positive Gefühl zu dem Menschen fähig sind. Üblicherweise wird sie gegenüber anderen Menschen empfunden, kann aber auch auf Objekte, Gesellschaften und Ideen usw. bezogen sein. Ein sexueller Impuls kann eine ohnehin schon vorhandene Liebesbeziehung platonischer Art potenzieren, wodurch man die Bindung zweier Menschen auf sexueller (sei sie ausgelebt oder nicht) und simultan stattfindender geistiger Ebene als klassische Liebesbeziehung bezeichnet. Von einer solchen Konstellation geht auch „Love Exposure“ aus, mehr noch wird sogar ein klassisch heterosexueller Fall zweier gleichaltriger Figuren angenommen. Die Boy-meets-girl-Story. Und doch ist das wohl das einzig Klassische an Shion Sonos Film.
Platonische und sexuelle Liebe getrennt und vereint
Ganz pessimistisch kann man Liebe auch als rein sexuell motiviert betrachten, sodass selbst geistig-anregende Eigenschaften des Gegenübers letztendlich nur einem unterbewussten Drang nach erfolgreicher Reproduktion dienen. Hier nimmt „Love Exposure“ eine interessante Zwischenposition ein und bedient beide Ideen, sowohl die romantische einer geistigen Verbindung als auch eine rein sexuelle. Es bleibt Betrachtungsweise, denn Yu, unser Held, bekommt beim Anblick seiner großen Liebe Yoko eine auffällig-große Sofort-Erektion, eine erfrischend-alberne und offensichtliche Anzeige, dass Liebe hier mit Geilheit gleichgesetzt wird. Jedoch ist Yu eben asexuell, er kann sexuelle Liebe eigentlich gar nicht kennen, aber in Yoko eröffnet sich ihm ein „Wunder“. Außerdem ist Yus Schwärmen für Yokos mangaartige Kämpfer-Natur, die sich eben nicht ausschließlich in einer von Yokos eigentlichen Persönlichkeit abgespalteten Zweitpersönlichkeit offenbart, sondern mit Yokos Persönlichkeit identisch ist, durchaus ein Akt seelischer Liebe. Nur eben ein total überdrehter. Auch wenn „Love Exposure“ Sympathien für seine Figuren wecken kann, bleiben diese eher symbolhaft, denn realistisch gezeichnet, aber was ist hier schon realistisch? (dazu später mehr)
Das Prinzip „Familie“
„Love Exposure“ handelt auch von der Liebe vom Sohn zum Vater und vom Vater zu Sohn (die sich aber im Weg stehen, weil sie auf unterschiedliche Weise funktionieren), vom Sohn zur verstorbenen Mutter, die zur Obsession wird, die tote Mutter im Himmel glücklich zu machen. Er handelt von Liebe zur Religion und von platonischer Liebe zwischen zweier Frauen: Yoko und ihrer Ziehmutter Kaori, die sich zufälligerweise in Yus Vater verliebt und so zu seiner Stiefmutter wird. In diesem verrückten Patchwork-Gebilde handelt „Love Exposure“ schließlich auch von der Liebe zur Familie und zwar nicht aus Gründen biologisch-genetischer Zusammengehörigkeit, sondern eben aus Gründen des Prinzips „Familie“.
Etwas shakespearhaft Diabolisches
Aber diese Liebe wird ausgenutzt von Aya, eine Figur, die nicht liebt. Nur warum nicht? Vage könnte man versuchen sie zu psychologisieren und die Vermutung anzustellen, sie handle aus enttäuschter Liebe so wie sie handelt, denn als kleines Mädchen wurde sie von ihrem Vater missbraucht. Aber auch Yoko wurde von ihrem Vater missbraucht (oder zumindest fast) und aus ihr entwuchs das Gegenteil, eine Figur, die wie verrückt nach der wahren Liebe sucht, weil sie von der väterlichen Liebe (und wie sie fälschlich annimmt, von der männlichen Liebe) enttäuscht wurde. Nein, naheliegender ist tatsächlich, dass Shion Sono in Aya eine Anti-Liebe installiert, ein ganz und gar diabolisches Gegengewicht zur Liebe der Restfiguren. In einem realistischen Charakterdrama hätte eine solche plakative Figur nichts zu suchen, aber hier spielt Sono eben nicht Menschen, sondern symbolgeladene Gestalten gegeneinander aus. Wie in einem raffiniertem Brettspiel, dessen Regeln Sono hier komplett neu erfindet, sich aber an anderen Regelwerken, in älterer Kulturgeschichte wie neuerer Popkulturgeschichte, reihenweise bedient. Nicht zuletzt hat Aya etwas Shakespearehaftes an sich, sie und ihre Mädchengang erinnern an die Hexen aus „Macbeth“. Liebe und Hass liegen nah bei einander, Aya ist aber zu beidem nicht fähig, was unterstreicht, dass wir es hier tatsächlich um eine Figur ohne jeglichen menschlichen Bezug zu tun haben. Das reine, personifizierte Böse. Ihre an die Ōmu-Shinrikyō-Sekte angelehnte Zero-Church scheint einzig der Vernichtung der romantischen Liebe zu dienen.
Maßloser Stil-Eklektizismus
Um seine epische Handlung vorzutragen, sagt sich Sono von jedem möglichen Realismus los und bedient sich eines maßlosen Stil-Eklektizismus. Klassische Musik trifft auf J-Pop, Trashfilm trifft auf Teenieromanze trifft auf Gore-Action. Und im Ganzen ergibt es eine moderne Oper, die perfekt funktioniert, wenn man keine Erwartungshaltung mitbringt, die man „Love Exposure“ unbedingt aufoktroyieren will. Und so schafft Shion Sono das seltene Kunststück, dass man den Film einerseits als gelungene Satire begreifen kann und seine ins albern-trashig-gehende Szenen wie die im Stile von Kung-Fu-Filmen inszenierten Upskirt-Fotografie-Episode oder die animehaft überzeichneten Kampfsequenzen distanziert als Übertreibungen aufnehmen kann, gleichzeitig der Film aber einen dennoch nahegehen und ins Herz treffen, wenn nicht sogar zu Heulkrämpfen treiben kann.
Wir sind doch alle ein bisschen pervers
„Love Exposure“ ist aber auch der Toleranzaufruf auf alle „Perversen“, auf alle von sexueller Norm abweichenden Menschen, sobald es so was wie eine Norm überhaupt gibt. Hierzu zeichnet er einen klar herausgestellten Konflikt zwischen Yu, der als Ritter der „Perversen“ (japanisch: Hentai, by the way), der unterstützt von der japanischen Pornoindustrie und anderen „Perversen“ gegen die Zero-Church zu Felde zieht. Und dass verkleidet als Sasori, einer bisexuellen Figur des japanischen Kinos. Jene Zero Church ist eben das genaue Gegenteil. Eine Institution, die für das krankhaft Reinhafte steht, die einen Kreuzzug gegen das „Unreine“ führt und damit eindeutig ins Faschistoide übergeht. Harmlose Sex-Fetische wie Upskirt-Fotografie werden von ihnen als „Perverse“ stigmatisiert und ihnen das Lebens- und Fortpflanzungsrecht abgesprochen. Nicht zuletzt bedient sich Sono hier auch einer sehr offensichtlichen Farbsymbolik: Schwarz der Perversen gegen Blütenweiß der Sekte. Aber auch wenn der Protagonist Yu selbst eher harmlos-pervers ist (bzw. harmlos-perverse Dinge tut), wagt es Sono sich auf die Seite von allen möglichen sexualpräferenzgestörten Menschen zu schlagen: Mit dabei nicht nur Vomerophile, Trichophile, Voyeure und Inzestuöse, sondern sogar Pädophile. Sono macht hier unmissverständlich klar: Eigentlich sind wir alle ein bisschen pervers und eigentlich suchen alle Menschen doch nur nach einem: nach Liebe.
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