Ökonomisierter Sozialrealismus oder: Falsches Nomadentum.
Originaltitel: Nomadland
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 2020
Regie: Chloé Zhao
Drehbuch: Chloé Zhao (nach einem Tatsachenbericht von Jessica Bruder)
Bildgestaltung: Joshua James Richards
Produktion: Frances McDormand, Peter Spears, Mollye Asher, Dan Janvey, Chloé Zhao
Montage: Chloé Zhao
Darsteller: Frances McDormand, David Strathairn, sowie diverse Laien
Laufzeit: 108 Minuten
Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch einer Stadt im ländlichen
Nevada, durch den sie selbst alles verloren hat, packt die 60-jährige
Fern ihr Hab und Gut in ihren weißen Van und macht sich, ohne eine
bestimmte Richtung oder ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben, auf den
Weg, um als moderne Nomadin im Westen der USA ein Leben außerhalb der
konventionellen Gesellschaft zu erkunden.
Sie verzichtet während ihrer Reise auf materiellen Komfort, nimmt jegliche Arbeit an, die sie unterwegs angeboten bekommt, von der Reinigung von Toiletten im Badlands National Park, über die Arbeit in einer Restaurantküche in South Dakota bis hin zum Verpacken von Waren in einem Amazon-Fulfillment-Center in den Wochen vor Weihnachten, und nabelt sich von Freunden und Familienmitgliedern ab. Doch Fern ist auf ihrer Reise alles andere als allein zwischen all den anderen Menschen, die auch in ihren Wohnmobilen leben. Immer wieder macht sie die Bekanntschaft von Menschen, die aus ähnlichen Gründen unterwegs sind wie sie und ihre Häuser, ihren Job oder einen geliebten Menschen verloren haben. Auf einem Campingplatz mitten in der Wüste, wo ein jährliches Nomadentreffen, das sogenannte Rubber Tramp Rendezvous, stattfindet, macht sie die Bekanntschaft von Bob Wells, dem Organisator des Ganzen. Dieser hält Seminare über finanzielle, technische, rechtliche und soziale Strategien für die Gruppe.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Die verdächtige USA-Affinität von Venedig ist unter Cinephilen schon längst ein wohl-etablierter Running Gag, sodass man vom Festival am Lido quasi noch vor den Golden Globes als Oscar-Pre-Pre-Season sprechen kann. Auch dieses Jahr hat wieder ein amerikanischer Film den Goldenen Löwen gewonnen. Jedoch dieses Mal ein Film der Chinesin Chloé Zhao, die in den USA nur lebt und studiert hat, dort aber nicht aufgewachsen ist. Das Besondere an ihren Filmen ist die akribische und einfühlsame Recherche in entfernte, zumeist „abgehängte“ Milieus der Vereinigten Staaten, sowie die Arbeit mit Laien-Darstellerinnen. „Nomadland“ zeichnet die USA als ein Land der Heimatlosen, auf der Suche nach ökonomischen Halt und Identität. Nicht nur wegen seiner tagespolitischen Aktualität dürfte die ehemalige Indie-Filemacherin hier zwangsläufig im Oscar-Zirkus angekommen sein, sondern auch aufgrund einer (gegenüber ihrer Vorgängerwerke) fortschreitenden filmhandwerklichen Konventionalisierung, auf die ich mich in dieser Replik konzentrieren möchte. Auch im Hinblick darauf, wie sich diese auf das politische Potenzial von „Nomadland“ auswirkt.
Zhao als optimale Handwerkerin
Mit Frances McDormand spielt ein großer Star die Hauptrolle der sechzigjährigen Fern, deren Heimat das Industriedorf Empire von der Landkarte getilgt und zur Umsiedlung gezwungen wurde (schöne Metapher). Mit David Strathairn spielt ein etablierter Schauspieler die größte Nebenrolle als liebevoller Senior in einer Camping-Kolonie. Alle anderen Schauspieler in „Nomadland“ sind Laien. An dieser Stelle muss man Chloé Zhao großen Respekt zollen, denn sie hat bereits mit ihrem dritten Spielfilm ihre Inszenierungstechnik derart perfektioniert, dass es in der Natürlichkeit der Figuren absolut keinen Unterschied zu machen scheint, ob Schauspielerfahrung vorhanden ist oder nicht. Die Stars „erstrahlen“ in profaner Natürlichkeit und auch die Laien halten minutenlange Kamera-Penetrationen statt; weinen, lachen, ohne einen falschen Moment, der die Illusion des Filmemachens brechen würde. Natürlich sind Zhaos Laien minutiös ausgesucht und spielen sich mehr oder weniger selbst. Gerade aber wenn man darauf achtet, wie kurz die Einstellungen sind, wie ökonomisch „Nomadland“ durchtaktet ist, erweist sich Zhaos Umgang mit Laien als unverkennbare Meisterleistung. Wir sehen hier keine minutenlangen Observationen, bei dem dann zwangsläufig irgendwann Authentizität entsteht, weil die Laien die Kamera vergessen und frei improvisieren können, sondern Zhaos Einstellungen sind kurze, teilweise nur wenige Sekunden lange Momentaufnahmen, deren inhaltliche Präzision vorgeschrieben scheint. Frances McDormand ist im Krankenhaus, will herausfinden, was mit ihrem Freund David ist. Sie steht an der Theke, befragt einen Arzt und ohne, dass etwas geskriptet wirkt, bekommen wir genau die Informationen die wir brauchen, während ungefähr so viele Sekunden verstreichen, wie man für das Lesen dieses Schachtelsatzes gebraucht hat (wahrscheinlich sogar weniger). Innerhalb des Kinos, das Zhao für sich beansprucht —man könnte es etwas marktschreierisch als Arthouse-Blockbuster oder konventionalisiertes Sozialdrama bezeichnen — ist sie schon jetzt eine optimale Handwerkerin. Schnitt, Kamera und vor allem Auf-Punkt-Inszenierung ist makellos; makellos-ökonomisch jedenfalls.
Sozialdramatische Ökonomisierungstendenzen
Denn hier sehe ich ein bisschen die Kehrseite der Medaille. „Nomadland“, ein Film, der den Zustand des amerikanischen Staats und seines Sozialsystems beklagt, ist ein fast schon penetrant ökonomisch erzählter Film. Nichts überlässt Zhao dem Zufall. Das fängt schon bei der unerklärlichen Entscheidung an, diesen Film mit der italienischen Filmscore-Legende Ludovico Einaudi zu instrumentieren, dessen Klangwelten mal gar nichts mit dem Film zu tun haben, außer dass sie sich eben als emotionsweckendem Klangteppich ausschlachten lassen. Aber die größten Schäden an einem gewissen Normierungswillen nimmt in Zhaos Film das Drehbuch. Es gibt keine einzige Figur, die nicht symmetrisch in einen Pay-Off aufgelöst wird, die nicht in ein perfektes Schlüssel-Schloss-Prinzip passt. Ein junger Cowboy fragt Kern nach einer Zigarette? Engelsgleich wird er eine halbe Stunde später auftreten und ihr ein ornamentiertes Feuerzeug zurückschenken, dessen Ornamentierung wiederum auf die Antiquariats-Leidenschaft der Hauptfigur Kern bezugnimmt, worauf Kern ihm ein Gedicht beibringt, was wiederum auf ihre Backstory als Nachhilfelehrerin verweist usw. Das ganze Drehbuch ist ausnahmslos mit solchen, etwas sehr konstruierten Symmetrien und braven Bezugnahmen überfrachtet. Wenn Fern ihre bürgerliche Schwester besucht, wird schnell noch der Bezug zur Finanzkrise abgehakt und danach in einer schlechten Szene zwischen den beiden Szenen komplett subtextlos die Backstory der beiden Schwestern offengelegt. Hier beißt sich die tickende Uhr des Drehbuchs, die keiner Szene wirklich Zeit zur Entfaltung geben will, ein wenig in den eigenen Schwanz. Es gibt kaum etwas Spielerisches, Rohes oder Unkontrolliertes in „Nomadland“. Dabei handelt dieser Film doch eigentlich gerade davon! Vom Rohen, vom Unkontrollierten. Vom Nicht-Wissen, wo man heute oder morgen Nacht schlafen soll. Im Form-Inhalt-Prinzip erweist sich das konventionalisierte Sozialdrama, wenn auch meisterhaft beherrscht, als völlig unpassend.
Eine falsche Nomadin
Im Bedienen aller Motive und Symbole, die sich Zhao so vornimmt, verliert sie gerade gegen Ende der Narration auch den roten Faden. Ist Fern jetzt einfach eine geborene Nomadin? Oder hat sie doch Heimweh zu ihrer verlassenen Siedlung Empire? Oder beides? Oder … ? Zhao versucht in einem unendlich zerfaserten Ende alle Fragen gleichzeitig zu beantworten. Ihre Antwort auf diese Fragen scheinen aus Landschaftsaufnahmen und Ludovico Einaudi zu bestehen. Man hätte den Film mit einer klaren Entscheidung rund zwanzig Minuten früher beenden können (das wäre sogar ökonomischer gewesen!) Zhaos leidiges Fetisch, jedem Setup sein Payoff zu schenken, ist eine Sache. Eine andere was genau das konkret politisch bedeutet. Mit Behandlung von Themen wie prekärer Arbeit (Amazon-Paketlager), Immobilienspekulation und Verwaisung ganzer Landstriche hat „Nomadland“ eine sehr aktuelle, sozialpolitische Agenda. Sichtlich bemüht ist Zhao darin, den Figuren in ihrem alternativen Lebenskonzept Würde und Anstand zu bewahren. Ihr Film scheitert jedoch als das, für das er eigentlich prädestiniert gewesen wäre: als eine authentische und faire Darstellung amerikanischer Unterschicht. Zwar erhebt sich der Film nie über die laienbesetzten Nebenfiguren, die teilweise offensichtlich wirklich Teil einer wirtschaftlich völlig perspektivlosen Schicht sind, sie werden aber auch nicht weiter erzählt und ein bisschen naiv romantisiert (die Figur Swankie stirbt malerisch im Einklang der Alaskaer Natur), Themen wie Arbeitserkrankungen und einem mangelhaftem Sozialsystem nur angeschnitten. Am sauersten stößt jedoch auf, dass sowohl Hauptfigur Fern als auch Nebenfigur David, beide eigentlich Teil einer stabilen Mittelschicht sind! An einem bestimmten Punkt reintegrieren sich beide (vorübergehend) in ihre gesicherte bürgerliche Herkunft, aus der sie scheinbar aus reinem Rebellentum entflohen sind. Und das ohne kritische Läuterung, sondern so als wäre das eine völlig repräsentative Lebensrealität! Diese Darstellung hat nichts mit einem wirklichen Nomadentum im Sinne unfreiwilliger ökonomischer Perspektivlosigkeit zu tun, die sich der Film eigentlich in der Auswahl seiner Motive auf die Fahne geschrieben hat. Sowohl Fern als auch David geben keinerlei Auskunft darüber, wie es ist, in einem Wohnwagen leben zu müssen! Eine fatale Fehlperspektivierung als Landesporträt der USA, in denen bittere Armut längst virulent ist. Das Hit-The-Road ist in „Nomadland“ letztlich ein Hobby, eine Leidenschaft, ein romantisiertes Abenteuer — und keine existenzielle Krísis.
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