Über das Nachdenken und das Lieblingsgetränk der Deutschen.
Originaltitel: Oh Boy
Alternativtitel: Oh Boy!, A Coffee In Berlin
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2012
Regie: Jan-Ole Gerster
Drehbuch: Jan-Ole Gerster
Produktion: Marcos Kantis, Alexander Wadouh
Kamera: Philipp Kirsamer
Montage: Anja Siemens
Musik: The Major Minors und Cherilyn MacNeil
Darsteller: Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnányi, Katharina Schüttler, Arnd Klawitter, Martin Brambach, Andreas Schröders, Katharina Hauck, Ulrich Noethen, Frederick Lau, Steffen Jürgens, Michael Gwisdek, Robert Hofmann, Inga Birkenfeld, Leander Modersohn
Laufzeit: 83 Minuten
Eigentlich will Niko (Tom Schilling) nur einen Kaffe trinken, aber nicht daheim. Es zieht ihn hinaus in die große Stadt Berlin und er begibt sich auf eine Odyssee, die ihn vor allem mit sich selbst konfrontiert. Er geht stramm auf die 30 zu und hat bereits vor einiger Zeit sein Jura-Studium abgebrochen. Er lässt sich durch die Straßen der Hauptstadt treiben, lebt in den Tag hinein und beschäftigt sich unfreiwillig mehr mit den alltäglichen Problemen anderer Menschen als mit seinen eigenen. Niko wird dabei selbst fast unbemerkt zum Außenseiter, doch dann wird er mit der Realität und seiner eigenen Passivität konfrontiert: Mit seiner Freundin ist Schluss, sein Vater (Ulrich Noethen) verweigert die weitere finanzielle Unterstützung und ein Verkehrs-Psychologe stellt Niko die Diagnose ‘emotional unausgeglichen’, nachdem Niko durch Trunkenheit am Steuer seinen Führerschein abgeben musste. Die Reise führt ihn zu seinem depressiven Nachbarn (Justus von Dohnányi), ans Theater zu seiner alten Klassenkameradin Julika (Friederike Kempter), an ein Filmset und schließlich in eine Kneipe, wo er auf den schwer betrunkenen Friedrich (Michael Gwisdek) trifft. Doch was er eigentlich sucht, bekommt er nicht. Wenn es doch nur irgendwo in der Stadt noch einen normalen Kaffee geben würde!
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 30.06.2013)
„Oh Boy“ ist ein Film über Berlin heißt es immer so schön und so falsch. Man tut dem Film ein bisschen unrecht, ihn allein auf seine Stadt zu reduzieren. Es stimmt, der Film spielt zu 100% darin und er seziert die Seele der oft kritisierten Internet-Hipster-Generation (jedoch ganz ohne Internet), die für Berlin so typisch gilt, aber eigentlich ist das poträtierter Berlin immer nur ein Stilmittel; ein verdammt sexyes obendrein. Man sollte „Oh Boy“ den Gefallen tun, ihn universeller auszulegen. Dem Jungregisseur Jan-Ole Gerster ist ein kluger, unkonventioneller aber nicht manieriert-unkonventioneller Film über die Planlosigkeit unserer Generation gelungen. Optimistisch, gleichzeitig melancholisch und immer mit einem offenen Ohr.
Ein bisschen Zwanziger
Es gibt verschiedene Leitmotive, die den Film über seine kurz-knackigen 85 Minuten trägt. Zum einen diese 20er-Jahre-SW-Optik, die sich natürlich dem betont-realistischen Berliner-Schule-Stil ganz elegant entstiehlt. Es gibt viel Jazz und schwarze Tanzmusik, die an das Berlin der 20er Jahre erinnern. Ein Berlin, das ganz anders war, als man sich das vielleicht vorstellt, wenn man an das darauffolgenden Jahrzehnt der NS-Zeit denkt. Berlin war ein sehr westliches-modernes Tor zur Welt, in der „Neger-Musik“ akzeptiert war, Autos aus aller Welt fuhren und modisch dem amerikanischen Golden-20s-Ton gefolgt wurde. „Oh Boy“ provoziert diesen Vergleich zum Berlin 90 Years ago förmlich, vor allem durch den Protagonisten Niko Fischer, der so gar nicht in seine brave hemdtragende, gekämmte Generation passen will. Mit leicht fettigen Haaren und gestresster Ausstrahlung will er nirgends so recht reinpassen und ist daher eine durchaus symbolisch angelegte Figur: Sie zeigt Zersträubung und Verwirrung, Planlosigkeit und Identitätskampf. Niko ist ein klassischer Antiheld ohne auch nur eine Sekunde wirklich klassisch zu sein. Er ist eine ungewöhnliche Figur, die das Zeug dazu hat, noch in Zukunft von anderen Filmkünstlern zitiert zu werden. Dabei funktioniert er gleichermaßen als Beobachter seiner Generation, die am Beispiel der jungen Szene der Bundeshauptstadt abgeklappert wird.
Berlin-Trip ohne Fahrkarte
Das löst Jan-Ole Gerster elegant; nie kommt das Gefühl auf, hier sollen auf Teufel komm raus, skurrile Figuren abgearbeitet werden. „Oh Boy“ generiert einen bemerkenswerten Sog, der planlose Berlintrip ohne Fahrkarte wird auch der des Zuschauers. Man begegnet einen gescheitert porno- und fußballsüchtigen Ehemann, zwei Schausspielfreunde von Niko (einer als Konformist, einer als Nonkonformist), einer ehemaligen Klassenkameradin, die aus ihrer ehemaligen Übergewichtigkeit eine öffentlichkeitsgeile Trotzpersönlichkeit entwickelt hat, ihren exzentrischen Theaterregisseur und zu guter Letzt einen Reichskristallnachtzeugen, der alkoholisiert über sein Leben philosophiert. Die Figuren bewegen sich immerzu am Rande der Überzeichnung, was zu Lachern führt, die erfrischend sind, weil sie nicht aus einer Gag-Bettelei herausgeschehen, sondern gleichberechigter Teil des Films sind (Hier hat der Regisseur auch gut bei seinem Good-Bye-Lenin-Praktikum mitgelernt). Erzählerisch ist „Oh Boy“ erfrischend anders, sich an keine dramaturgischen Gesetzen hangelnd, sondern sich durchs schwarz-weiße Berlin treiben lassend.
Man kann also eine ganze Menge verliebt-melancholische Satzblöcke in den Raum schmeißen, aber dazu ist der Film fast schon wieder zu schade, weil er sich als Interpretationsobjekt so herrlich eignet.
Hipster ohne Hornbrillen
Die Berliner Hipster-Mentalität, ganz ohne Jutebeutel, Hornbrillen und Smartphones, nutzt der Film als vergnügsames Element, um den Geist der Zeit zu reflektieren, was Gerster nicht davon abhält, die Aktualität seines Filmes selbstironisch mit 20er-Jahre-Stilistik zu kontrastieren. „Oh Boy“ zeigt ein völlig von der Verbraucherlogik losgelöste Öko-Konsumwelt in der schwäbischen Kaffeehausangestelltin, künstlerische Zielverfehlung zwischen völlig absurd-gekünsteltem Avantgarde-Theater und billigen Klischee-TV-Geschichtsproduktionen (ganz nebenbei wagt er noch Seitenhiebe auf seine eigene Filmhochschule, „Berliner Sonderschule„), er zeigt Bohème, die nicht weiß, was sie mit ihrem Talent anfangen soll (Matze) und Männer, die unsicher in ihrer der Frau gleich gestellten Rolle sind (Prügelszene). Seine ehemalige Schulkameradin Julika verrät, Niko habe zur Schulzeit immer gewirkt, als wüsse er was er will. Nikos Kommentar daraufhin: „Ich weiß auch nicht.“ „Oh Boy“ ist ein Generationspoträt von unschuldiger Schönheit und wäre ohne einen Tom Schilling auch nie diese perfektionierte Abbilderung verwirrter Unsicherheit geworden.
„Und welche Kaffeesorte kommt dem normalen Kaffee am nächsten?„
Kaffee-Symbolik als Generationsappell
„Oh Boy“ ist die Film gewordende Suche nach dem Kaffee. Ab dem Zeitpunkt, an dem Niko ein Kaffeeangebot seiner (Noch)-Freundin ausschlägt, weil er spät dran ist, Termine hat und sie später anruft (Wie Zwanziger ist das denn bitte?), ist er auf permanenter Suche nach einem Kaffee, aber in der Weltmetropole Berlin scheint das einfach nicht möglich zu sein. Das ist natürlich einerseits ein Running Gag, aber andererseits auch einfach die Suche nach dem Selbst, nach der Ruhe und dem Nachdenken. Seinem Vater sagt Niko, er habe sein Studium abgebrochen, weil er über sich und ihn nachdenken wolle. Zwei Jahre lange. Natürlich unverständlich für den Vater — für den Zuschauer zu diesem Zeitpunkt auch — aber anhand der Kaffeemetapher wird ersichtlich, warum die Zeit so verstreicht. Es lässt ihm einfach niemand die Zeit. Niko streift von Konversation zu Konversation, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, aber kommt nicht zu seinem Ziel, der Ruhe, dem Kaffee. Etwas weit gedacht, ist der Kaffee also auch als Sicherheit des Was-sind-wirs und Wo-kommen-wir-hers oder zumindest der Sicherheit des Darübernachdenkens, zu verstehen. Etwas was unserer Generation völlig abgeht. In der Schnelllebigkeit unserer Zeit scheint unsere Selbstsuche ein bisschen unter die Räder zu kommen. Dass man das mit einer simplen Kaffee-Symbolik aussagen kann, ist natürlich eine größere Leistung des deutschen Films als all die Coming-of-Age-Geschichten, die man sonst so zu sehen bekommt.
Hör zu!
Eine weitere Lesart ist eine durchaus politische: Zweifelsohne porträtiert der Film eine Generation, die das Interesse für die NS-Verbrechen verloren zu haben scheint. Ein Schauspielerfreund von Matze bemerkt, er sähe in der NS-Offiziersuniform doch gar nicht so schlecht aus, wenn man das Hakenkreuz wegließe. Es ist ein bisschen dieses „Okay, Hakenkreuze sind schlecht, das haben wir verstanden, aber der Rest interessiert mich auch nicht“ und dem setzt Gerster viel mehr entgegen, als ein erläuternder Geschichts-TV-Film (der ja auch sehr sehr zutreffend, vor allem bezüglich seiner Schlechtigkeit, parodiert wird) im Stande wäre. Er lässt einen alten Mann (großartig von Michael Gwisdeck gespielt) über die Reichspogromnacht daherreden. Erst erscheint es Niko nervig, wieder mals in seiner Ruhe gestört zu werden (und das nachdem er wieder keinen Kaffee bekommen hat!), dann aber hört er ihm gebannt zu und erkundigt sich beim nachfolgenden Krankenhausbesuch sogar um seinen Namen und seine Familie, ehe er endlich zum Kaffee kommt und nachdenkt. Das ist dann auch (eine) Botschaft des Films: Hör zu und denke nach. Nimm dir Zeit nachzudenken. Trink Kaffee. Konsumier nicht nur schlechte TV-Geschichtsblockbuster, bei deren Dreh Nazis und Juden zusammen Zigaretten rauchen und es nur zu einem abzuarbeitenden Job geworden ist. Vielleicht ist hier die 20er-Optik auch ein Mittel, um uns vorzurechnen, dass wir nie so weit weg vor dem Faschismus sind, wie wir es glauben.
Wer „Oh Boy“ schaut, sollte also eine Kaffeekanne bereitstehen haben. Nicht weil der Film so langweilig und ein Kampf gegen das Einschlafen ist, sondern weil hier der Alltagsgegenstand Kaffee (das nebenbei bemerkt Lieblingsgetränk der Deutschen) zur Relaxations- und Reflexionsmetapher graduiert wird. Ein wichtiger Film mit Potenzial zum Kultfilm, der Jan-Ole Gerster zu einem der hoffnungsvollsten Filmhochschulabsolventen im ewigen Kampf gegen den bösen TV-Film-Imperialismus macht.
85%
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © Schiwago Film / Chromosom Filmproduktion
4 thoughts on “Oh Boy (mediumshot)”