Psychoanalytische Aufräumarbeit: Freud is in da house.
Originaltitel: Psycho
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 1960
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Joseph Stefano (nach dem gleichnamigen Roman von Robert Bloch)
Musik: Bernard Herrmann
Kamera: John L. Russell
Montage: George Tomasini
Darsteller: Anthony Perkins, Janet Leigh, Vera Miles, John Gavin, Martin Balsam, John McIntire, Simon Oakland, Frank Albertson, Patricia Hitchcock, Vaughn Taylor, John Anderson, Mort Mills, Lurene Tuttle
Laufzeit: 109 Minuten
Nachdem die attraktive Sekretärin Marion Crane (Janet Leigh) ihren Boss um 40.000 Dollar erleichtert hat, flieht sie überstürzt Richtung Kalifornien zu ihrem Liebhaber, dem geschiedenen Eisenwarenhändler Sam Loomis. Aus Angst bereits von der Polizei verfolgt zu werden, verirrt sich Marion in Dunkelheit und bei Regen und landet bei einem kleinen abgelegenen Motel. Marion ist der einzige Gast und wird von dem zurückhaltenden, leicht verklemmt wirkenden, Besitzer des Motels, Norman Bates (Anthony Perkins), zum Abendessen eingeladen. Ungewollt überhört sie durch das offene Fenster ein Streitgespräch zwischen Bates und seiner alten eifersüchtigen Mutter, die ihm den Umgang mit Frauen wie Marion verbietet. Nach dem gemeinsamen Essen entschließt sich Marion, das gestohlene Geld zurückzubringen und nimmt erleichtert durch ihre Entscheidung eine Dusche. Plötzlich reißt eine Person in Frauenkleidern den Vorhang beiseite und sticht brutal mit einem Messer auf sie ein …
Quelle: moviepilot.de
Replik:
(Spoiler, aber sollte eh bereits jeder kennen)
Heutzutage ist es eigentlich unmöglich, „Psycho“ mit unvoreingenommen Augen zu sehen und damit ist gar nicht nur gemeint, die technische Angestaubtheit des Genre-Klassikers ausblenden zu können, sondern die Handlung des Films ohne Vorahnung auf ihr Ende hin zu schauen (und ob man diesen Film seinen Kindern so früh wie möglich zeigen sollte, nur weil er neuerdings in Deutschland ab 12 Jahren freigegeben ist, ist ebenso eine nicht einfache Frage). Als der Film 1960 erschien tat Alfred Hitchcock noch alles, um genau das zu verhindern, was heute längst eingetreten ist. Er kaufte alle Exemplare der Romanvorlage und verbannte bei der Premiere alle störenden Kinozuschauer aus dem Saal, damit der Film seine völlige Wirkung entfalten konnte. Damit war der filmgeschichtlich heilige Alfred Hitchcock eigentlich ein Vorreiter der ziemlich bescheuerten Spoiler-Phobie der Gegenwart. Aber wie auch immer. Es ist dennoch interessant, nochmal die Wirkungsgeschichte von „Psycho“ für sich aufzurollen, indem man simuliert, wie es für den Zuschauer gewesen sein muss und vor allem, was sich Alfred Hitchcock dabei gedacht hat.
Beiläufig erzählte Plotwendung
Man missachtet nämlich zum Beispiel sehr schnell, wie ambig eigentlich der Titel „Psycho“ ist. Der berühmte Psycho-Killer Norman Bates, die psychologische bzw. psychoanalytische Verstrickung Norman Bates‘ in freudianischen Motiven mit seiner Mutter, woran man heutzutage sofort denken muss, bevor man den Film gesehen hat, verdecken ein wenig, wie unheimlich genial der Film „Psycho“ beginnt. Nämlich mit einer elegant inszenierten Überbetonung des Motivs der Paranoia. Marion Crane stiehlt Geld von ihrem Chef, um sich ein Leben mit ihrem Liebhaber Sam ermöglichen zu können. Dieser Subplot wirkt nicht wie im Stile eines schlechten Horrorfilms als vorgelagertes Alibi-Motiv, man glaubt es durchaus, da es mit viel Detailverliebtheit und einer für die Zeit nicht ganz unschuldigen Bett-Szene (Sex vor der Ehe) betont wird. Dann geht es weiter in einer Odyssee der Flucht vor dem Gewissen. Marion begegnet noch ihrem Chef, dann einem Polizisten, der ebenso wie ein stabiler Antagonist eingeführt wird, und erst in einem symbolisch aufgeladenem Gewitter, in dem sich Marions Sicht auf die Straße vor lauter durch Regenströme symbolisierter Gewissenskonflikte förmlich auflöst, ist sie gezwungen in das berühmt-berüchtigte Bates Motel abzusteigen. Aber dieses wird zunächst kaum betont, nicht im Stile einer epischen Vorausdeutung, wie es heutzutage üblich wäre, sondern beiläufig, so als sei das Bates Motel nur ein Teil der Flucht-Odyssee wie etwa der neugierige Polizist. Wenn man also die Pointe von „Psycho“ nicht kennt, dann ist man an dieser Stelle noch mit den Gedanken beim Geld und der Flucht und nimmt Norman Bates höchstens als ein weiterer potenzieller Konkurrent um das Geldgeheimnis wahr, aber nicht als der Psycho-Killer, der er tatsächlich ist.
Protagonistentod
Nach 40 Minuten etwa bringt Hitchcocks Film eine der bemerkenswertesten dramatischen Entscheidungen der Filmgeschichte, er tötet ohne jegliche (wirkliche) Vorwarnung seine Protagonistin, entgegen der offenkundigen, vorherigen Motive. Es ist ja nicht nur so, dass diese Entscheidung in jeglichen motivischen Kontexten ein radikaler Move wäre, nein, im Falle des vorherigen Motiv der Paranoia ergibt es gar keinen Sinn den Protagonisten aus dem Film zu nehmen, da man ja ein denkendes und sich fürchtendes Subjekt bräuchte, das die Stimmung der Paranoia trägt. Erst jetzt merkt der (unvoreingenommene) Zuschauer, dass das Motiv der Paranoia ein rein angetäuschtes war. Auch wenn es immer noch eine schöne symbolische Lesart bleibt, dass Marion Crane hier quasi von ihrer eigenen Angst umgebracht wird. Hier hätte „Psycho“ schon vorbei sein können, es wäre kein schlechter Film gewesen. Aber ab dieser Stelle bewegt sich „Psycho“ doch in eine stabile Motiv-Komposition, die sich nicht noch ein weiteres Mal komplett umwendet. Ab dieser Stelle geht es um den Psycho-Killer Norman Bates, der in den Kleidern seiner Mutter Morde begeht, auch wenn der Zuschauer erst im Unklaren gelassen wird, dass die Mutter schon tot ist, von Bates ausgestopft wurde und der mordende Teil seiner gespaltenen Persönlichkeit geworden ist, was dann am Ende im großen Twist offenbart wird (und leider im Stile eines Kriminalfilms im Finale zu sehr auserklärt wird).
Das Handwerk des Mörders
Aber bleiben wir zunächst in der filmischen Chronologie, beim Mord der Protagonistin. Nachdem diese legendäre, wunderbar geschnittene Szene stattfindet, macht der Film etwas äußerst Bemerkenswertes. Es findet eine zehnminütige (!) Sequenz statt, in der nichts anderes passiert, als dass Norman Bates den Tatort aufräumt und reinigt. Wir sehen zwar keine expliziten Details der erstochenen Leiche oder der Geschlechtsteile dieser (wie auch schon in der Mordszene selbst nicht), wir sehen aber wie Bates die Badewanne ausspült, die Leiche trägt und verstaut und das Motelzimmer wieder so aufräumt, als habe dort nie jemand drin gewohnt. Heute kennt man denselben Detailgrad aus vielen Filmen und Serien mit Serienkillern als Protagonisten. Eine solche Detail-Perspektive auf einen mordenden Antagonisten würde jedoch Spannung und Mythos aus der Bösewicht-Figur herausnehmen. Obwohl Alfred Hitchcock mit „Psycho“ klassische Genre-Filme und -Serien vorprägt, ist sein eigener Film auch in dieser Hinsicht gar nicht so klassisch. Hier wird zwar der mordende Antagonist bei seinem „Handwerk“ über die Schultern geschaut, aber zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch gar nicht, dass er jener Antagonist überhaupt ist.
Haptik des Raumes
Diese wunderbare Szene macht noch etwas anderes bzw. stellt sie den Höhepunkt eines filmischen Strategems von „Psycho“ dar, welches bereits bis dahin eingesetzt wurde. Die extreme Interaktionsrate Norman Bates‘ mit seinem eigenen Motel in dieser Szene erzeugt eine fast beispiellose Haptik des Raums. Der Zuschauer spürt das Motel. Er kann sich darin orientieren und bekommt ein Gefühl für den Raum, welches über den einfachen Sehsinn hinausgeht, eben taktil wird. Und das ist in der Aufräumszene besonders konsequent, aber genaugenommen ist auch schon der Umgang Marion Cranes mit ihrem Motelzimmer ein ziemlich detailreich aufgenommener. Sie beobachtet die Wände, sie benutzt die Kloschüssel (eine bis zur damaligen amerikanischen Filmgeschichte recht anzüglicher Akt, der nur durch seine dramatische Notwendigkeit gerechtfertigt werden konnte), sie hat kurz gesagt ein physisches Verhältnis zu diesem Ort, da er hier auch ein Symbol ihrer Paranoia ist. Und als Marion Crane dann stirbt und mit ihr das Motiv der Paranoia, verliert das Motel keineswegs Symbolkraft, sondern lässt sich von da an für andere interpretatorische Überlegungen dingbar machen. Das alles klappt in „Psycho“ so gut, eben weil der Film sich so sehr und so effektiv für seine Raumwirkung interessiert. Eine Stärke, die etwa der Spin-Off-Serie „Bates Motel“ völlig abgeht, wo sowohl Motel als auch das Bates-Haus und das gesamte Dorf der Serie völlig austauschbar und kaum greifbar wirkt.
Hausmeister Žižek
Eine mögliche Lesart, die sich daraus ergibt ist eine obligatorische freudianische Lesart, auf die sich schon Slavoj Žižek stürzte. Natürlich ist es offensichtlich, dass das Bates-Haus, ein altes viktorianisches Gebäude, welches sich unweit vom vorgelagerten Motel befindet, eine Verbildlichung des Freudschen Ich-Modells darstellt. Natürlich ist das Obergeschoss, in der sich die Mutter zunächst befindet das Über-Ich, das leere Erdgeschoss das Ich und der Keller das Es. Symnbolisch ziemlich eindeutig: Das Über-Ich impliziert die höhere Etage schon im Namen, der Keller ist schon im deutschen Redewendungsgebrauch („Leichen im Keller haben“) ein symbolischer Ort der animalischen Geheimnisse und das Erdgeschoss ist der eigentlich wesenslose Mittler zwischen den beiden, der zudem auch den „Eingang“ darstellt. Der Weg zum Über-Ich und Es führt über das Ich, genauso wie es auch im Bates-Haus der Fall ist, da der Eingang natürlich im Erdgeschoss ist. Über-Ich und Es sind stark mit einander verknüpft und beeinflussen sich reziprok, weshalb es auch Sinn ergibt, dass Norman Bates seine Mutter vom Obergeschoss in den Keller trägt. Seine Mutter ist als Elternteil natürlich ein klassisches Symbol des Über-Ichs, gleichzeitig konstituiert das Über-Ich aber auch immer das Es. Seine Mutter ist also ebenso das Es, was sich natürlich in der sexuell aufgeladenen Relation zu der Mutter einleuchtend zeigt.
Erweiterung der Žižekschen Lesart
Den Weg den Slavoj Žižek meines Wissens nicht macht, auch wenn mich das sehr verwundert, ist, dass er zum Beispiel das Motel, welches sich ja vorgelagert zum Haus befindet, als eine Art Persona im C.G.-Jungschen Sinne versteht. Also als eine soziale Oberfläche, als ein gespieltes Ich, welches das eigentliche Ich vorgibt zu sein. Denn genau diese Funktion hat das Motel ja auch für Norman Bates, es ist eine Präsentationsbühne eines erlogenen Ichs, nämlich des Norman Bates, welcher ein braver, psychisch stabiler junger Mann ist, der seine noch lebende Mutter pflegt. Die Figuren Marion Crane, Lila Crane und Marions Liebhaber Sam, die hier alle das Motel bzw. das Bates-Haus aufsuchen, lassen sich als Invasionen in die seelische Intimssphäre von Norman Bates lesen, die Verunsicherung und einen aggressiven Beißreflex auslösen (Dasselbe Stilmittel wendet zwei Jahrzehnte später auch Andrzej Żuławski in „Possession“ an, dem vermutlich psychoanalytischstem Film überhaupt). Aus freudianischer Perspektive ist bei „Psycho“ ebenfalls interessant, dass Norman Bates nicht nur einen klassischen Ödipis-Komplex darstellt, also die Eifersucht vor dem Vater oder der Vaterfigur, sondern, dass sich Bates auch (wahrscheinlich aufgrund eines Gewissenskonfliktes nach dem Mord an seiner Mutter und ihrem Liebhaber) mit der Mutter identifiziert. Und das ident in „identifiziert“ muss man hier betonen, denn Bates übernimmt ja sogar die Persönlichkeit als Teil einer gespaltenen Persönlichkeit. Und immer wenn er die Persönlichkeit seiner Mutter annimmt, greift wieder ein umgekehrter freudianischer Komplex, nämlich die Eifersucht der Mutter auf die Frauen in Normans Leben. Norman ist also in gewisser Weise eifersüchtig auf sich selbst bzw. sind seine Persönlichkeitshälften eifersüchtig auf einander. Man kann darüber diskutieren, wie realistisch diese psychologische Ausgestaltung der Figur Norman Bates ist, aus Sicht eines symbolischen, psychoanalytischen Modells ist sie aber interessant.
Vogelsymbolik
Gehen wir mal zurück zu der Aufräumszene (dem heimlichen Zentrum des Films), um auf eine weitere Lesart des Films einzugehen. Norman Bates hebt in dieser langen Sequenz ein Bild eines Vogels, welches zuvor heruntergefallen ist, wieder auf und hängt es zurück an die Wand. Der Vogel (ein allgemein populäres filmisches Symbol Hitchcocks, dem er drei Jahre später einen eigenen Film widmen sollte) steht in „Psycho“ für die Freiheit. Die Vögel, die in dem Bates Motel vorkommen, sind hingegen ausgetopfte Vögel und Bilder von Vögeln, die an der Wand hängen. Also Vögel, die objektifiziert und leblos gemacht sind. Diese Vögel sind relativierte Freiheiten. Freiheiten, die in ihr Gegenteil, die Sicherheit verkehrt sind. Hier ein kurzer und grober Exkurs auf Thomas Hobbes‘ Leviathan: Der Naturzustand stellt die größte Freiheit für das Individuum überhaupt da. Da sie aber Mord und Totschlag erlaubt, ist sie auch gefährlich für das Individuum. Die Individuen einigen sich also auf einen Gesellschaftsvertrag, ihre eigene Freiheit zu Gunsten einer allgemeinen Sicherheit zu relativieren. Eine moderne Gesellschaft ist ein Kompromiss aus individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit, beides ist zu einem gewissen Grad relativiert. Was „Psycho“ anhand seiner Figurenkonzeption zeigt, sind nun Extreme der Sicherheit (Norman Bates) und Freiheit (Marion Crane), beide handeln gesellschaftsunkonform. Marion stiehlt und flieht, bricht also das Gesetz, den Gesellschaftsvertrag, um an eine persönlich größere Freiheit zu gelangen. Sie selbst ist ein freier Vogel, ihr Name Crane lässt sich u.A. mit „Kranich“ übersetzen, sie kommt aus Phoenix, ebenso ein Vogelname usw.
Sicherheit vs. Freiheit
Norman hingegen ist ein Gefangener in seiner eigenen neurotischen Sicherheit. Für ihn muss alles kontrollierbar sein. Sein Motel und sein Haus sind nicht nur seine Heimat, sondern auch ein Herrschaftsfeld bzw. das seiner Mutter-Persönlichkeit. Ein freiheitsliebender und -lebender Mensch wie Marion wird hier (auch ganz symbolisch un-sexuell lesbar) als Eingriff in die Sicherheit verstanden, die wiederhergestellt werden muss. Dass dieser kontrollhafte Sicherheitszwang ebenso ein subversives Extrem ist wie die kriminelle Freiheitsambition von Marion Crane zeigt sich darin, dass Norman für seine Sicherheit morden muss. Eine andere Vorgehensweise stellt sich ihm gar nicht, nur auf diese Weise, kann er seine inneren, nach Sicherheit (und Geborgenheit) gierenden Zwänge befriedigen. Nach dem Mord hängt er das Bild des Vogels, und damit auch die Visualisierung der wiederhergestellten Kontrolle über die ihm gefährliche Freiheit wieder auf. Am Ende, als Norman Bates seine gespaltene Persönlichkeit komplett in die Persönlichkeit seiner Mutter übergehen lässt, hat Norman Bates die extremistische Intensität seiner Sicherheit tatsächlich erreicht, jedoch nicht für sein Herrschaftsgebiet des Motels + Haus, sondern nur innerhalb seiner selbst. Mutmaßlich ist Norman Bates in der Gefängniszelle glücklicher denn je und es zeigt sich — hier muss man wieder die Psychoanalyse hinzunehmen — dass die „eigene“ Persönlichkeit von Norman Bates nur so lang hielt, solang ein sozialer Zweck mit dieser Persönlichkeit verbunden war. Dadurch, dass Norman Bates aber als Mörder entblößt wird, erübrigt sich diese Funktion und damit auch diese Persönlichkeit und fällt vollständig weg. Norman ist zu seiner Mutter geworden und in gewisser Weise, als völlig von der Gesellschaft unabhängiges Individuum, hat er damit nicht etwa verloren, sondern sogar gewonnen, weswegen sein Lächeln am Ende gar nicht nur ein verrücktes Psycho-Lachen ist, sondern in diesem Licht durchaus nachzuvollziehen ist.
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